Günter Grass
Rede vor dem Europarat
11.10.2000

Europa
hat eine Verantwortung

Im Verlauf des vergangenen und verregneten Sommers - während einer Zeit also, die man auch die "Saure-Gurken-Zeit" nennt und die, was den Nachrichtenmarkt betrifft, gerne von den Hinterbänklern der Politik mit Horrormeldungen gefüttert wird - stand diesmal ein wirkliches Thema im Mittelpunkt und erregte die Öffentlichkeit. Als habe es ihn vorher nicht gegeben, wurde plötzlich in Deutschland der Rechts- radikalismus als Gefahr entdeckt; eine Reihe brutaler Gewalttaten - es gab Tote - trug dazu bei. Da etliche der jugendlichen Schläger im Osten der Bundesrepublik leben und dort tätig werden, geriet der zeitgleiche, aber immer noch unaufgeklärte Mordanschlag von Düsseldorf in den Hintergrund, und da wir in Deutschland dazu neigen, trotz Wegfall der Mauer, uns als Ost- und Westdeutsche zu definieren, sollen es wieder einmal die Ostdeutschen gewesen sein, die den Nährboden bereitet haben.

Angekränkelt durch ihr kommunistisches Erbe, haben sie als besonders anfällig zu gelten, als gäbe es im Westen nicht seit Jahrzehnten dort angestammte Brandstifter und - wie es das rechtsextreme Rollenspiel fordert - entsprechend gesittete Biedermänner. So kam denn auch aus Bayern recht forsch der Ruf nach dem Verbot der NPD. Nur zögernd meldeten sich einige Gegenstimmen: Mit einem Verbot alleine sei dieses Problem nicht zu bewältigen. Schnell waren die leicht erkennbaren Skinheads als Übeltäter ausgemacht. Doch zeigte sich bald, daß die so treffsicher anmutende Benennung von offenkundigen Rassisten und Totschlägern nur die Oberfläche der gewaltsamen Vorgänge kratzt; es fehlte und fehlt der Mut, die Biedermänner als regierungsverantwortliche Mittäter beim Namen zu nennen.

Wie in anderen europäischen Ländern, so auch in Deutschland: der Fisch beginnt vom Kopf her zu stinken. Dennoch wurde vergessen oder verdrängt, daß es der bayrische Ministerpräsident Stoiber gewesen ist, der vor Jahren, zu Beginn der Asyldebatte, mit demagogischem Tremolo vor einer "Durchrassung des deutschen Volkes" gewarnt hat. Und vor bald einem Jahr hörten wir ebenfalls Herrn Stoiber, der die Österreichische Volkspartei ermuntert hat, mit der sich liberal nennenden Haider-Partei eine Koalition einzugehen. Eigentlich sollte uns noch in Erinnerung sein, mit welch rassistischen Nebentönen anlässlich der Wahlen in Hessen der jetzige Ministerpräsident Roland Koch die längst überfällige Einbürgerung von Ausländern, die seit langer Zeit in Deutschland leben, zu hintertreiben versucht hat. In Nordrhein-Westfalen ging zwar die Kampagne "Kinder statt Inder", was das dortige Landtagswahlergebnis betrifft, daneben, aber auch sie war ein Beweis dafür, wie verantwortungslos Politiker, die nach dem Verbot der NPD verlangen, punktuell die rassistische Politik genau dieser Partei betreiben.

Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, doch will ich mich darauf beschränken, die Demontage des Asylparagraphen in der Verfassung der Bundesrepublik und die Folgen dieser auch von der SPD mitgetragenen Entscheidung als einen der Gründe zu nennen, die zum Anwachsen des Rechts- radikalismus und zum Anschwellen der Gewalttätigkeiten geführt haben. Seitdem ist der inhumane Umgang mit Asylsuchenden zur rechtsstaatlichen Praxis geworden. Mehr noch, in ihrer Alltäglichkeit erregen selbst skandalöse Vorfälle kaum noch die Öffentlichkeit. Allenfalls sind es kleine Gruppen, die Anstoß nehmen und zu helfen versuchen, indem sie Kirchenasyl gewähren, vergeblich gegen die brutale Trennung von asylsuchenden Familien protestieren oder als Schulklassen einen kurdischen Mitschüler mit Protestbriefen vor dem angekündigten Zwang der Ausweisung schützen wollen. Es ist, als habe man sich damit abgefunden, daß in Deutschland - grob geschätzt - viertausend Menschen hinter Schloß und Riegel in Abschiebehaft gehalten werden, als seien sie Kriminelle. Gelegentlich erregt ein Selbstmord auf dem Frankfurter Abschiebeflughafen ein, zwei Tage lang die Gemüter, dann herrscht wieder Ruhe im Rechtsstaat.

Man beruft sich auf das Schengener Abkommen, weist auf die Praxis anderer Länder hin, will bestätigt haben, daß es in Deutschland relativ liberal zugehe, und unterscheidet neuerdings zwischen Asylsuchenden, die der deutschen Wirtschaft nützlich werden können, und solchen, die dem Volk, oder trefflicher gesagt, dem Steuerzahler zur Last fallen. "Selektieren" heißt dieses aus von Verbrechen belasteter Vergangenheit herrührende System der Auslese.

So geht es in Deutschland zu. Sind die Zustände in unseren Nachbarländern besser? Ich will nicht vergleichen und Noten verteilen. Dennoch ist insgesamt zu sagen, daß sich die europäische Union inklusive zukünftiger Beitrittsländer mehr und mehr als Festung begreift. Europa will sich dicht machen, um dem Eindringen der Elenden, die aus Afrika, Asien und Rußland kommen, kommen wollen oder bereits unterwegs sind, widerstehen zu können. Das ist nicht einfach. Die langen Meeresküsten Spaniens und Italiens, die rigorosen Schleuserbanden, die Durchlässigkeit der osteuropäischen Grenzen, all das spricht gegen den Erfolg der Festungsbauer. Noch behilft man sich mit der Abschiebepraxis. Noch glaubt man mit - wenn auch zögerlichem und unzureichendem Schuldenerlaß - den armen Ländern genügend Hilfe zu gewähren. Doch innerhalb Europas macht sich Festungsmentalität breit.

Immer neue Gesetze werden erlassen, die die demokratischen Spielräume verengen. Dem Rechtsradikalismus, den oft genug die regierungsamtliche Politik auf die brutalst möglichste Weise in die Tat umsetzt, will man, wie gesagt, mit einem Parteiverbot der NPD beikommen. Das Denken verengt sich. Ängste gehen um, die sich aus latenter und oft genug mit politischem Kalkül ermunterter Fremdenfeindlichkeit speisen. Da es aber nicht gelingt, Europas Grenzen nach außen total abzusichern, richtet sich der einmal entfesselte Sicherheitswahn gesamteuropäisch auch gegen Minderheiten, die seit Jahrhunderten Mitbewohner unseres Kontinents sind.

Von ihnen soll hier die Rede sein. Sie stehen ständig unter Verdacht. Sie sind allerorts nur geduldet, ihre Existenz ist von starren Vorurteilen beschwert. Man hat sie diskriminiert, verfolgt und während zwölf Jahren, als nach deutschen Rassegesetzen Recht gesprochen wurde, deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. Sie werden, wenn Schuld eingestanden wird, vergessen oder allenfalls beiläufig genannt. Ich spreche von Sinti und Roma.

Die grob geschätzt zwanzig Millionen Angehörigen dieses Volkes bilden die größte und dennoch nicht ausreichend anerkannte Minderheit Europas. Sie sind wie ohne Stimme. Das heißt: Sie sind da, doch dort, wo gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, werden sie nicht wahrgenommen. Wenn von ihrer Kultur die Rede ist, fehlt es nicht an schwärmerischen Hinweisen auf die Zigeunermusik und deren Einflüsse auf spanische, ungarische und deutsche Komponisten. Man tut einerseits so, als bestehe das Volk der Roma aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber andererseits nicht bereit, über Proklamationen hinaus dieser so zahlreichen Minderheit zu einem demokratischen Mitspracherecht zu verhelfen.

Ich muß mich korrigieren: In Ansätzen gibt es diese Mitsprache. In der jungen und bisher von den blutigen Wirren des Balkans verschonten Republik Mazedonien sind Abgeordnete aus vier Roma-Parteien im Parlament vertreten. In einigen Stadtbezirken der Hauptstadt ist sogar Romanes, die Sprache der Roma, Amtssprache. Doch in Tschechien, wo selbst unter kommunistischer Herrschaft dem Parlament elf Abgeordnete der Roma-Minderheit angehörten, ist es seit der politischen Wende mit dieser Mitsprache vorbei.

Als kürzlich in Prag ein Kongreß der Internationalen Romani Union stattfand und sich vierhundert Vertreter der weit zerstreuten Minderheit versammelt hatten, wurden all die europaweit zu belegenden Ungerechtigkeiten laut, die seit Jahrhunderten dem Volk der Roma zugefügt werden; Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung, Totschlag. So sind zur Zeit von den 280.000 Roma- Angehörigen im Kosovo nur noch acht- bis zehntausend geblieben, die, in Ghettos gepfercht, zu überleben versuchen; der Großteil hat, verfolgt vom Haß und den Gewalttätigkeiten der Serben und Albaner, die Flucht ergreifen müssen. Die Kfor-Soldaten waren und sind nicht in der Lage, sie vor dem doppelten Haß zu schützen, sei es, weil sie überfordert sind, sei es, weil wieder einmal den Angehörigen des Roma-Volkes Schutz verweigert wird. Und dennoch wurde auf dem Kongreß in Prag kühn und aus verletzten Selbstbewußtsein von der Nation der Roma gesprochen. Ein Beschluß wurde gefaßt, nach dem in Brüssel ein Büro der internationalen Organisation eingerichtet werden soll. Denn auch dort sind die Roma ohne Stimme.

Doch das ist und kann nicht genug sein. Eine so große Minderheit, die bei uns in geringerer Zahl, doch in Spanien und Portugal, in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien überaus zahlreich ist, verlangt nach einem demokratischen Mitspracherecht. Wo anders sollte ein solches Recht verwurzelt sein als hier in Straßburg, im Europäischen Parlament. Es ist nicht damit getan, daß dann und wann so feierliche wie gutwillige Resolutionen verabschiedet werden, die dem Volk der Roma ihre ohnehin unübersehbare Existenz bestätigen. Vielmehr ist es an der Zeit, den hochgesteckten Ansprüchen der immer größer werdenden Europäischen Union gerecht zu werden.

Europa muß mehr sein als ein erweiterter Markt und eine auf Wirtschaftsinteressen ausgerichtete Bürokratie. Europa hat eine gemeinsame, wenn auch widerspruchsvolle und allzu oft in Krieg und Gewalt umschlagende Geschichte; seit dem 15. Jahrhundert sind die Gitanes, Gypsies, Zigeuner dieser Geschichte zugehörig, oft genug als Leidtragende. Europa in seiner Vielgestalt hat eine sich wechselseitig inspirierende Kultur; wer wollte leugnen, daß insbesondere die Musik von der Musikalität der Roma beeinflußt worden ist. Und Europa hat eine gemeinsame Verantwortung.

Nach einem Jahrhundert, in dem totalitäre Ideologien und Rassenwahn, Weltkriege und Völkermorde, blindwütige Zerstörung und Massenvertreibungen unseren Kontinent wiederholt an den Abgrund gebracht haben, sich aber schließlich doch ein demokratisches Selbstverständnis erprobt und endlich auch eingebürgert hat, sollte es möglich sein, der größten Minderheit in Europa im Straßburger Parlament Sitz und Stimme zu geben.

Schon bei der nächsten Europawahl könnten die Vertreter der Roma mit einer gemeinsamen Liste Mandate anstreben. Ich weiß, der Weg bis zu einem demokratischen Wahlgang ist mit Schwierigkeiten besonderer Art gepflastert. Nicht nur die eingefleischten Vorurteile gegenüber Zigeunern werden gegen einen solchen Entschluß wirksam werden, auch wird es nicht leicht sein, die Angehörigen des Roma-Volkes, unter ihnen viele Staatenlose, dazu zu bewegen, sich für eine Wahl registrieren zu lassen. Allein dieses Wort ruft bei ihnen Erinnerungen wach an hunderttausende Familienangehörige, die registriert und mit Hilfe genau geführter Listen verhaftet, deportiert, in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Also ist die Scheu vor einer Registrierung selbst dann, wenn sie für eine demokratische Wahl Voraussetzung ist, verständlich und muß doch überwunden werden.

Hinzu kommt, daß Romanes, die Sprache des Roma-Volkes, nur in Ansätzen verschriftlicht ist. Zwar wird sie in allen europäischen Ländern neben der Landessprache von den Roma und Sinti in jeweiligem Dialekt gesprochen, aber diese innere Verständigung dringt nicht nach draußen. Sie kapselt ab. Sie bot und bietet Schutz. Sie ist die Gemeinsprache der Diskriminierten und Verfolgten. Doch auch diese Widerstände müssen nach und nach überwunden werden. Auf der Prager Tagung der Internationalen Romani Union wurden solche Forderungen laut. Es könnte, zum Beispiel, Aufgabe der europäischen Behörden und der Europäischen Investitionsbank sein, mit einem langfristigen Programm die Sprachentwicklung des Romanes zur Unterrichtssprache zu fördern. Nur so wird sich den Kindern der Roma und Sinti der Weg zu weiterführenden Schulen und in die Universitäten öffnen lassen, nur so können sie in ausreichender Zahl zu Sprechern ihres Volkes werden.

Es mag Sie ein wenig verwundern, daß ich hier mit einem Vorschlag aufwarte, dem schier unüberwindliche Widerstände garantiert sind. Zudem komme ich aus einem Land, dessen Mißstände und Skandale zwar zum Himmel stinken, doch außer Naserümpfen bisher wenig zur Folge gehabt haben. Schließlich sind vor zwei Jahren, anlässlich eines ganz normalen Regierungswechsels, im Amt des Bundeskanzlers zwei Drittel aller Akten gelöscht, vernichtet, geschreddert worden; schließlich weigert sich in Deutschland, einem Land, das noch immer an der Verantwortung für begangene Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus trägt, eine Vielzahl von Industriebetrieben, Schadenersatz für die wenigen noch lebenden Zwangsarbeiter zu zahlen; und schließlich komme ich aus einem Land, in dem rechtsradikaler Straßenterror durch fremdenfeindliche Politik zusätzlich Auftrieb erfährt. Drei Gründe, die mich dazu bringen sollten, ausschließlich vor der eigenen Tür zu kehren.

Doch das hier in Straßburg gesetzte Thema ist von grenzüberschreitender Bedeutung. Und weil es nicht damit getan ist, in wohlformulierten Erklärungen gegen den Rassismus zu protestieren, es vielmehr darauf ankommt, mutig politische Zeichen zu setzen, wiederhole ich meinen Vorschlag als Forderung. Für das Europäische Parlament in Straßburg wäre es ein Gewinn, wenn in ihm die Abgeordneten des Roma-Volkes Sitz und Stimme hätten. Sie sind Europas beweglichste Bürger. Sie überwinden Grenzen. Sie sind mehr als alle anderen bewährte, weil leidgeprüfte Europäer.

 

Geistes-Blitz-Werk