Klaus Schramm

Gedanken zur Gründung
einer 'Lebensgruppe'

 

Meine Oma erzählte mir einmal, daß in dem Dorf, in dem sie aufwuchs, sie wurde 1904 geboren, die erwachsenen Frauen und die erwachsenen Männer jeweils an einem Abend in der Woche zusammenkamen. Das sei immer abwechselnd mal bei dieser mal bei jenem zu Hause gewesen. Heutzutage leben wir alle sehr vereinzelt, treffen uns mit dem einen oder der anderen, aber Gruppen bilden sich höchstens noch unter Kindern und Jugendlichen als Cliquen oder ähnlichem. Erwachsenen bieten sich dann allenfalls noch Vereine oder Parteien an, wo die sozialen Bedürfnisse des Einzelnen aber nur als Nebenprodukt und mehr unbewußt gegenüber dem eigentlichen, oft vordergründigen Ziel oder Zweck der Gruppierung befriedigt werden.

Auffallend ist dabei die Zersplitterung und Fraktionierung der Gruppen unter die verschiedensten Ziele: Musik- und Sportvereine auf dem Land, politische Parteien, die wiederum in verschiedene Flügel zerfallen, Frauengruppen, Bürgerinitiativen zu speziellen Problemen, Umweltgruppen (BUND, DBV, WWF, Greenpeace, Robin Wood,...) u.s.w.. In engem Zusammenhang damit sehe ich auch die gesellschaftliche Ohnmacht des Einzelnen. Obwohl z.B. inzwischen fast alle vom Umweltschutz reden, schreitet die Umweltzerstörung immer weiter fort, ist kein Ende des Waldsterbens in Sicht, werden weiter FCKW produziert, die KfZ-Zulassungszahlen steigen weiter, der Konsumrausch treibt immer neue Blüten, die Abnahme an Verkehrstoten wird durch die Zunahme an Selbstmord- Drogentoten u.s.w. mehr als wett gemacht. Obwohl alle von Abrüstung reden, betreibt die Bundesregierung weiter Aufrüstungspolitik, der U-Boot-Skandal zeigt die gigantischen Ausmaße der Heuchelei und trotzdem ändern sich die Verhältnisse nicht. (Auch in der DDR zeigt sich nach einer scheinbaren Revolution dieselbe Mentalität wie im Westen.)

Es gibt zwei Thesen wie eine (revolutionäre) Veränderung der Verhältnisse zustande kommen kann:
- "Gesellschaftsveränderung": der alte sozialistische Ansatz, der hauptsächlich durch die - nach meiner Ansicht falsch verstandene - Aussage von Marx "Das Sein bestimmt das Bewußtsein" begründet wird und der besagt, daß sich zunächst die Gesellschaft (das System, die Produktionsverhältnisse) verändern müssen (/verändert werden müssen; von wem ?), damit sich in deren Folge das Individuum verändern kann.
- "bei sich selbst anfangen": der individualistische Ansatz, der in idealistischer Weise übersieht, daß das System Zwänge schafft, die oft nur mit unverhältnismäßig großem Kraftaufwand und manchmal gar nicht zu durchbrechen sind, so daß keine Energie für ein gesellschaftliches Engagement mehr bleibt.

Mir scheint, diese beiden Ansätze schließen sich nur beim Entweder-oder-Denken herkömmlicher Logik aus: Entweder "Aus A folgt B" oder "Aus B folgt A". Daß zwischen individueller Veränderung und Gesellschaftsveränderung eine Wechselwirkung bestehen könnte ist ein neuer Ansatz, den Erich Fromm schon vor vielen Jahren aufgezeigt hat. Diese Wechselwirkung kann nun darin bestehen, daß die bestehenden Strukturen und Produktionsverhältnisse eine (bestehende) Lebensweise und Charakterorientierung des Individuums zur Folge haben und umgekehrt, was den Status Quo zementiert und die zerstörerischen Folgen weiter eskalieren läßt, - aber auch, daß eine im Keim vorhandene neue Gesellschaftsform einen neuen Menschen hervorbringt und umgekehrt, und dadurch das Alte abgelöst wird.

Das ist im Grunde nur eine neue Betrachtungsweise des Marxschen dialektischen Geschichtsverständnisses, das nur die eine Wirkungsrichtung hervorgehoben hat: die verschiedenen sich ablösenden Gesellschaftsformen (Feudalgesellschaft, Industriegesellschaft) bewirken verschiedene individuelle Lebensformen (Leibherr/Leibeigener, Kapitalist/Proletarier).

Ein Wechselwirkungsprozeß

ist nichts anderes als ein Kreisprozeß

und es liegt auf der Hand, daß er kaum verstärkt wird, wenn die Kräfte nur in eine Wirkrichtung arbeiten.

Wie können also die beiden Ansätze "Gesellschaftsveränderung" und "bei sich selbst anfangen" praktisch am effektivsten miteinander verknüpft werden ?

Der Berührungspunkt zwischen Individuum und Gesellschaft ist die Gruppe. So wie früher Familie, Gemeinde etc. die Agenturen der Gesellschaft (Marxsche Betrachtungsweise) waren, können wir die Wechselwirkung im Gegensatz zu früheren Generationen bewußt gestalten, indem wir Gruppen bilden (Vorschlag: "Lebensgruppen"),

  • die einerseits gesellschaftspolitische Wirkungen erzielen, aber eben nicht mehr gerichtet auf die bestehenden "demokratischen" Strukturen, Parlamente etc., was, wie die jahrelangen Erfahrungen der GRÜNEN gezeigt hat, erfolglos und demotivierend ist (neuer Wein in alte Schläuche), sondern darauf gerichtet sein muß, basisdemokratische Strukturen zu schaffen.
  • andererseits in der Art von Selbsthilfegruppen eine Gruppendynamik entfalten und jedem Einzelnen darin helfen, "bei sich selbst anzufangen" und sich selbst zu verändern.

Das kann damit beginnen, daß sich Leute zum gemeinsamen Mittagessen treffen und nicht jedes "im eigenen Saft schmort" (, was auch energetisch besser wäre und den alten Gedanken der Volksküche wieder aufgreift). Wichtig scheint mir, daß viele verschiedene Funktionen, die (wie zu Anfang beschrieben) bei den bestehenden Gruppen fraktioniert sind, wieder integriert werden. Kulturelle, wirtschaftliche, sportliche, soziale, emotionale Bedürfnisse:

  • zusammen Feste feiern
  • Perspektive: alle Einnahmen in einen gemeinsamen Topf, zunächst kontrolliert, später unkontrollierte Ausgaben in Eigenverantwortung (gesellschaftlich: Abschaffung des Geldes)
  • Gewaltfreiheit, soziale Verteidigung einüben
  • zu kommunalpolitischen Themen gemeinsam an die Öffentlichkeit gehen
  • gemeinsame Wanderungen, Urlaub (wäre auch billiger !)
...so wie sie früher - zumindest in der idealistischen Verklärung - in der Familie integriert waren, bevor diese Institution (bis auf vielleicht wenige Ausnahmen) zum reinen Dienstleistungsarrangement degeneriert ist. Was nicht heißen soll, daß Familie und solche Gruppen sich ausschließen müssen; Familien können auch "Lebensgruppen" sein und verschiedene Gruppen sich überschneiden, ineinander verschachteln und sich vernetzen, was nach meiner Vorstellung eine Grundvoraussetzung für Basisdemokratie ist.

Erich Fromm hat im Hinblick auf die Bildung von Gruppen schon in seinem Buch 'Die Revolution der Hoffnung' 1968 ähnliche Gedanken entwickelt:

"Diese Kulturrevolution muß von den Menschen in Gang gebracht und gefördert werden, die ohne Rücksicht auf ihre jeweiligen religiösen und philosophischen Überzeugungen das Leben und nicht die Dinge als höchsten Wert betrachten; also von allen, die glauben, daß nicht die Ideen und Begriffe selbst wichtig sind, sondern nur die Realität der menschlichen Erfahrung, in der diese Begriffe wurzeln. Es hat wenig Sinn, über den >>neuen Menschen<< nachzudenken, solange dies abstrakt und rhetorisch bleibt und nicht wirklich radikal, nämlich von der Sorge um den Menschen und seine Erfahrung bestimmt ist. Wahre Solidarität zeigt sich nur, wo man tiefe und echte menschliche Erfahrungen miteinander teilt, nicht aber Ideologien oder einen gemeinsamen Fanatismus, denn dieser ist narzißtisch verwurzelt und schafft nicht mehr Solidarität als ganz gewöhnliche Betrunkenheit auch. Ideen werden nur mächtig, wenn sie Fleisch werden. Eine Idee, die nicht zu Taten eines Einzelnen oder einer Gruppe führt, bleibt, falls sie originell und bedeutsam ist, bestenfalls ein Absatz oder eine Fußnote in einem Buch. Sie gleicht dem Saatgut, das zunächst trocken gelagert wird. Wenn die Idee Einfluß gewinnen soll, muß sie in einen Nährboden gelangen, und das sind die Menschen und Menschengruppen.

Die Kulturrevolution muß sich auf eine radikal-humanistische Bewegung stützen, die viele verschiedene Ideologien und Sozialverbände umfaßt. Und es ist von entscheidender Bedeutung, daß sie von kleinen, unmittelbaren Gruppen ausgeht, deren Mitglieder sich gemeinsam um den neuen Menschen bemühen, die sich kennenlernen und sich nicht mehr verbergen wollen, weder vor sich selbst noch vor anderen; und die hier und jetzt den Kern des Menschen so verwirklichen wollen, wie er ihnen als Ziel der Kulturrevolution vorschwebt.

Derartige Gruppen würden dezentralisiert und unbürokratisch arbeiten. Mitglied könnte jeder werden, der lieber aktiv sein als ein Konsument bleiben will, der Verständnis für den radikalen Humanismus hat, seine Ziele bejaht und überzeugt ist, daß Fanatismus und Destruktionslust keine charakteristischen Eigenschaften des Menschen sind, die durch Scheinerklärungen verschleiert und kultiviert werden dürfen, sondern menschliche Schwächen, die es zu überwinden gilt. Solche kleinen Gruppen mit zehn bis zwanzig Mitgliedern lassen sich nicht nur innerhalb der bestehenden politischen, religiösen und sozialen Organisationen bilden, sondern auch von Einzelnen, die außerhalb derartiger Sozialgefüge stehen.

Diese Gruppen müßten ihren Mitgliedern ein richtiges Zuhause bieten, wo sie >>Nahrung<< im Sinne von Erkenntnissen und zwischenmenschlicher Anteilnahme finden und gleichzeitig Gelegenheit bekommen, auch selber zu geben. Das Ziel der Gruppen wäre, entfremdete Menschen in aktiv teilnehmende zu verwandeln. Deshalb würden die Gruppen natürlich der in der entfremdeten Gesellschaft üblichen Lebensweise kritisch gegenüber stehen, aber sie müßten versuchen, ein Höchstmaß von persönlicher Nicht-Entfremdung zu erreichen, und dürfen sich nicht mit den Trost ständiger Entrüstung zufriedengeben, der nur ein Ersatz für das Lebendigsein ist.

Die Gruppen würden einen neuen Lebensstil entwickeln: unsentimental, realistisch, aufrichtig, mutig und aktiv. Allerdings muß ihre realistische Unsentimentalität - die, wenn man so will, an Zynismus grenzen kann - unbedingt mit tiefem Glauben und mit Hoffnung zusammengehen. Gewöhnlich sind diese beiden Bereiche ja nicht miteinander verbunden: Menschen des Glaubens und der Hoffnung sind oft unrealistisch, und Realisten hegen wenig Glauben oder Hoffnung. Wir werden aber nur dann einen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation finden, wenn Realismus und Glauben sich wieder so vereinbaren lassen wie bei einigen der größten Lehrmeister der Menschheit."

Rudi Dutschke hat - zufällig auch 1968 - etwas ähnliches auf dem Internationalen Vietnamkongress gesagt:

"Genossen, Antiautoritäre ! Wir haben in der Tat nicht sehr viel Zeit, wir haben nicht Zeit uns jetzt langsam und sicher auf eine Periode vorzubereiten, sondern wir stehen schon im täglichen Kampf und jeder hat sich mehr denn je direkt zu beteiligen, sich als Organisator in der Praxis zu bewähren - nicht auf eine Partei, eine Mitgliederpartei zu warten, sondern als Einzelner in der je spezifischen Sphäre zu organisieren: Zellen zu bilden, Basisgruppen zu bilden, Zirkel insgesamt wie Arbeitsgruppen, Projektgruppen, Aktivgruppen bilden, das ist unsere Aufgabe! Nicht zu warten auf Godot, auf die neue sozialistische Partei, sondern konkret zu arbeiten an der Mobilisierung jedes Einzelnen, woraus dann auch eine Partei entstehen könnte. Aber die Partei ist nicht der Ausgangspunkt ! Sie könnte..., genauer: die Organisation, nicht die Partei im klassischen Sinne, eine Organisation der Revolution in Mitteleuropa und Westeuropa ist Resultat des praktischen Kampfes und nicht der Beginn einer bürokratischen Aktion !"

Zwar hat Rudi Dutschke bei der Entstehung der GRÜNEN 1979 kurz vor seinem Tod noch mitgewirkt und konnte die Entwicklung sicher nicht vorhersehen - um so bedenkenswerter halte ich seine Worte von 68.

 

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