13.03.2009

Nachbetrachtung
zum Amoklauf in Winnenden

Mainstream-Medien kaschieren eigenen Fehler

Nach dem Amoklauf in Winnenden verbreiteten etliche Mainstream-Medien, der 17-jährige Täter1 habe im Internet seine Tat angekündigt. Dies war nicht nur voreilig und leichtfertig, sondern wirft zudem ein bezeichnendes Licht auf die Autoritätsgläubigkeit der Nachrichten-"Macher".

Wie die Journalistin Twister (Bettina Winsemann) bereits am darauffolgenden Tag (Donnerstag, 12. März) in der Internet-Zeitung 'telepolis' berichtete2, gab es die angebliche Ankündigung offenbar gar nicht. Ein wenig Recherche - zwei Klicks im Internet - hätten genügt, um die Behauptung des baden-württembergischen Innenministers Heribert Rech zumindest als fragwürdig kennzeichnen zu müssen, statt sie unkritisch weiterzuverbreiten.

Im Gegensatz zur Internet-Journalistin Twister hatten die Redaktionen der Mainstream-Medien durchweg darauf verzichtet, eine der einfachsten journalistischen Grundregeln zu beachten und zu überprüfen, wo denn nun genau der Amoklauf angekündigt worden sei. Wie Twister ohne großen Aufwand herausfand, handelt es sich bei der fraglichen Stelle im Internet um krautchan.net. Dort war mittlerweile wegen des ungewöhnlichen Ansturms ein Statement der BetreiberInnen zu finden, wonach es sich bei der vermeintlichen Ankündigung um eine Fälschung gehandelt habe. Unbeeindruckt behaupteten Innenminister und baden-württembergische Polizei weiterhin nahezu 12 Stunden lang, die Ankündigung sei keine Fälschung und es hätten sich auf dem Computer des Amokläufers entsprechende Spuren gefunden - bis auch diese Position kläglich geräumt werden mußte.

Ohne auch nur den geringsten Ansatz von Selbstkritik schoben heute (Freitag, 13. März) die Mainstream-Medien die alleinige Schuld an der Verbreitung einer Fehlinformation auf den Minister. Auf diese Weise versuchen sie nun, den Mangel an eigener journalistischer Seriosität zu kaschieren.

Was Twister besonders erbost, ist die im Zusammenhang mit dieser medialen Fehlleistung zu Tage tretende Stimmungsmache gegen das Internet, die nicht zuletzt mit der Kampage um eine Zensur von kinderpornographischen Internet-Seiten fröhliche Urständ gefeiert hatte. Offensichtlich zielen all diese Angriffe und Zensurabsichten auf eines der letzten Refugien eines unabhängigen und kritischen Journalismus: auf das Internet mit seinen verschiedenen online-Zeitungen.

Sarkastisch merkt Twister hierzu an:

»Nun, besser geht es ja nicht mehr - sämtliche Leute, die sowieso momentan auf dem Netzkreuzzug sind, können jetzt also die Schlachtrösser satteln, die Lanzen des Jugendschutzes packen, oder die Studien über den Zusammenhang von Internet und Entfremdung, über rechtsfreie Räume usw. heraussuchen und haben Material für die nächsten drei Wochen.

Und die Zeitungen erst:
"Keiner nahm Ankündigung des Amokläufers ernst" titelt die Welt,
"(...) kündigte Amoklauf im Chat an", ist bei der FAZ zu lesen,
"Amokläufer kündigte der (sic) Tat kurzzeitig im Internet an" meldet die Süddeutsche, und auch die sonstigen Überschriften lassen Pietät oder Zurückhaltung vermissen,
"Sechs Stunden um Tim K. zu stoppen" zum Beispiel.«

(Zitat aus 'telepolis' mit kleinen Korrekturen und einer Auslassung, NR)

Und hier das Statement von krautchan.net:

»Leider wird unser winziger Server mit dem momentanen Ansturm nicht fertig. Es gibt allerdings auch gar nichts zu sehen, da die deutsche Presse sich bedauerlicherweise (vermutlich nicht zum ersten Mal) von einer Fälschung hat täuschen lassen.

Hier wurde kein Amoklauf angekündigt, es gibt hier nur Leute, die mit Photoshop umgehen können. Scheinbar ist recherchieren heutzutage uncool. Schlimm genug, bei Wikipedia abzuschreiben, aber hier? Grundgütiger.«

Die Anspielung auf 'Wikipedia' zielt auf die Verbreitung des von einem Witzbold in die lange Reihe der Vornamen des neuen Bundeswirtschaftsministers von und zu Guttenberg eingefügten 'Wilhelm'. Diese Fälschung war von einer ganzen Reihe von Mainstream-Medien ungeprüft aus 'Wikipedia' übernomen worden, womit sich diese - zumindest in informierten Kreisen - bis auf die Knochen blamierten.3

Kritische Medien-WissenschaftlerInnen wiesen derweil darauf hin, daß bei den crossmedial über fast sämtliche TV- und Radio-Kanäle geschalteten stundenlangen Sondersendungen der Informationsgehalt in krassem Mißverhältnis zur Sendezeit stand.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

1
Wir erkennen keine Notwendigkeit, hier seinen Vornamen, den ersten Buchstaben des Nachnamens oder gar den vollen Nachnamen - wie es inzwischen in einem Teil der Mainstream-Medien Mode geworden ist - zu nennen, da es sich um keine relevante Information handelt. Eine Nennung des Namens kann allenfalls zur Folge haben, daß potentielle Nachahmer(Innen) hierin eine Möglichkeit sehen, "Unsterblichkeit" zu erlangen.

2
http://www.heise.de/tp/blogs/5/134499
Vee haff wayz to make you feel stoopid

3
Ausführlich heißt der am 10. Februar 2009 unter grotesken Begleitumständen zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Ernannte:
Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg
Eine ganze Reihe von Mainstream-Medien wie 'spiegel online', 'Handelsblatt', 'Süddeutsche Zeitung' und 'heute.de' hatte einen falschen Eintrag aus der Internet-Enzyklopädie 'Wikipedia' unkritisch übernommen, in der die Vornamen von und zu Guttenbergs zu jenem Zeitpunkt wie folgt aufgeführt waren:
Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Wilhelm Franz Joseph Sylvester
(Nebenbei bemerkt: Auch auf der Titelseite von Deutschlands meistverkauftem Toilettenpapier prangte diese Liste von Vornamen inclusive des 'Wilhelm' am 10. Februar 2009.)
Vollends zur Realsatire mutierte diese Begebenheit, als der falsche Eintrag - nachdem er kurzfristig gelöscht worden war - eine zeitlang erneut auf 'Wikipedia' präsentiert wurde. Als vermeintlich seriöse Quelle diente hierbei 'spiegel online', wo diese sich doch selbst zuvor bei 'Wikipedia' die Falschinformation besorgt hatte. Eine selbstreferentielle Posse!

Siehe auch unsere Artikel zum Thema:

      Weitere Konzentration auf dem deutschen Zeitungsmarkt
      Kölner Konzern DuMont-Schauberg jetzt auf Platz 3 vor WAZ
      (8.01.09)

      Sozialabbau und Medien
      Medienmacht - wie und zu welchem Zweck
      wird das Bewußtsein manipuliert? (7.01.08)

      Der 1,5-Millionen-Euro-Artikel
      Aldi straft die Süddeutsche (20.04.04)

 

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