12.06.2003

Nachruf

zur Ausrufung einer
europäischen Verfassung

Thukydides ist tot und Europa vergewaltigt

Wie zum Hohn wurde ein Zitat von Thukydides an den Anfang der gestern von den "Hohen Vertragsparteien" ausgerufenen europäischen Verfassung gestellt: "Die Verfassung, die wir haben (...) heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist."
(Thukydides, II, 37)

Doch bei allem wohlfeilen Wortgeklingel und bei allen leeren, pseudo-humanistischen Menschenrechtsformeln, wird bereits bei den ersten altertümlich hochtrabend gesetzten Worten klar, daß diese Verfassung mit Demokratie nichts am Hut hat. Sie wurde nicht von den Menschen Europas in einer gemeinsamen und mit den heutigen Kommunikationsmitteln leicht zu organisierenden Diskussion entwickelt. Es sind "die Hohen Vertragsparteien nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten wie folgt übereingekommen..."

Wer hat ihre Vollmacht "gut und gehörig" befunden? Sie haben sich gegenseitig bevollmächtigt!

Und wie jede der Verfassungen, die von oben herunter den Völkern gewährt wurden, ist sie nur so demokratisch wie der Druck von unten stark ist. Aber die Völker Europas sind zur Zeit schwach. Sie müssen es sich gefallen lassen, daß ihre Regierungen mehrheitlich einem Krieg zustimmten, gegen den so viele Menschen demonstrierten wie noch nie zuvor in Europa. Und sie müssen zusehen wie sich die Regierungen, die sich aus allzu offensichtlichen Gründen gegen den Krieg aussprachen (und ihn hinten herum doch unterstützten), schleunigst wieder in Reih und Glied aufgestellt haben.

Wie demokratisch diese Verfassung ist, zeigt sich nicht an den Deklamationen, von denen die Geschichte lehrt, daß sie - wenn es hart auf hart kommt - das Papier nicht wert sind, auf das sie geschrieben wurden, sondern es zeigt sich an den Kompetenzen, mit denen das Europa-Parlament ausgestattet wird. Und diese sind noch geringer als die der eh schon recht wenig demokratischen Parlamente der europäischen Staaten.

Eine große Mehrheit ist in Europa für den Atom-Ausstieg. Aktuell zeigt sich bei einer von GREENPEACE in Österreich initiierten Abstimmung, daß rund 90 Prozent der ÖsterreicherInnen von ihrer Regierung fordern, daß sie gegen die Sonderstellung der Atomindustrie in Europa Einspruch erhebt. Doch als "Protokoll" soll der neuen EU-Verfassung der unverändert seit 1957 gültige EURATOM-Vertrag angehängt werden. Dieser ist die rechtliche Grundlage dafür, daß die Atomindustrie weiterhin jährlich aus europäischen Mitteln mit Milliarden Euro subventioniert wird.

Wenn von Subventions-Abbau die Rede ist, sind nie diese Subventionen gemeint. Das zeigte sich gerade erst, als es um die europäischen Agrar-Subventionen ging. Beim Höhepunkt der BSE-Krise tönte die "rot-grüne" Bundesregierung, sie wolle die "Agrar-Fabriken" abschaffen und kündigte eine Agrar-Wende an. Doch aktuell wurden mit Beihilfe von Ministerin Künast die Agrar-Subventionen, die nur die Großen fördern, die Überproduktion beschleunigen und die kleinen und Bio-Bauern kaputt machen, entgegen den Vorschlägen des EU-Agrar-Kommissars Fischler beibehalten.

Einige Umwelt-Organisationen laufen aktuell gegen die Aufnahme des EURATOM-Vertrags in die neue EU-Verfassung Sturm. Doch der deutsche "grüne" Außenminister Joseph Fischer, der den Deutschen noch immer ein Stück Papier als Atom-Ausstieg verkaufen will, stellt sich taub. GREENPEACE, BUND, NABU u.a. bezeichnen es als "Nagelprobe" für die deutsche Regierung wie sie sich in dieser Frage verhält. Mit Schopenhauer ist da nur zu wünschen, daß eine Enttäuschung nicht als Verlust, sondern als Gewinn an Erkenntnis realisiert wird.

Ein weiterer entscheidenden Punkt in dieser neuen europäischen Verfassung ist, daß darin die "soziale Marktwirtschaft" festgeschrieben werden soll. In Artikel I-3 heißt es unter Punkt 3: "Die Union strebt ein Europa der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft an, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität abzielt."

Lassen wir das schmückende und unverbindliche Beiwerk weg, heißt dies nichts anderes, als daß die Menschen Europas in Zukunft nicht das Recht haben sollen, über die Art des Wirtschafts-Systems demokratisch zu entscheiden. Auch dies ist schon allein deshalb nicht "auf die Mehrheit ausgerichtet", weil es der Mehrheit von Jahr zu Jahr wirtschaftlich schlechter geht. Nur eine Minderheit profitiert von diesem "blinden Spiel", bei dem angeblich die "freien Kräfte des Marktes" die Wirtschaft lenken. Bei einem "freien" Spiel zwischen Starken und Schwachen steht das Ergebnis nun mal meist im Voraus fest.

Nur nebenbei bemerkt: Kein vernünftiger Mensch denkt bei einer Alternative zum Kapitalismus an jenes Wirtschafts-System, das sich sozialistisch nannte und Ende der 80-er Jahre unterging. Auch bei jenem System profitierte nur eine kleine Minderheit. Die eigentliche Frage muß doch heißen: Warum darf nicht die Wirtschaft ebenso wie alle anderen Bereiche des öffentlichen Lebens, in denen dies - angeblich - legitim ist, der demokratischen Willensbildung unterworfen werden?

Über die Proklamation von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung kann die Mehrheit der EuropäerInnen heute nur noch bitter lachen.

Ein weitere Artikel ist noch erwähnenswert, da er eine reale Gefahr darstellt. Es geht darin ums Militär.

Nein, wir teilen nicht die Sorge, daß Europa zur militärischen Großmacht aufsteigen könnte. Dazu ist es auch bei einer Bündelung seiner Kräfte glücklicherweise zu schwach. Schon jeder Ansatz zu unabhängigen europäischen Streitkräften wird von der US-Regierung aufmerksam verhindert. Diese europäische Verfassung dient dazu, Europa den großen Konzernen gefügiger zu machen, Europa zu einem großen einheitlichen "Marktplatz" umzugestalten und zu vergewaltigen. Und sie dient gleichzeitig dazu, die EuropäerInnen gefügig zu machen. In Artikel I-42 wird die traditionelle Trennung zwischen Polizei und Militär aufgehoben: "Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen Ursprungs betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um a) - terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden..."

Und wer definiert, was "terroristisch" ist, wird nicht die Mehrheit der EuropäerInnen sein.

 

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