20.08.2003

Diskussionsbeitrag

ÖSR
durch Druck von unten

von Jürgen Grahl

Lieber Herr Schramm,

Besten Dank für Ihre wohlwollende Besprechung meines "Reform"-Artikels. In einigen Punkten haben Sie mich allerdings missverstanden; daher folgende Erläuterungen:

(Im folgenden sind die zitierten Passagen aus dem Diskussionsbeitrag von Klaus Schramm in roter Schrift wiedergegeben.)
3. Er beleuchtet das Verhältnis der Produktionsfaktoren Energie und Arbeit: Während Arbeit ohne (nennenswerte) Effektivitätssteigeung teurer wird, steigt zugleich die Produktionsmächtigkeit des Faktors Energie. Pro eingesetzter Kilowattstunde (ob nun Strom, auf diese Einheit umgerechnetes Heizöl oder was auch immer) kann mehr produziert oder mehr Dienstleistung angeboten werden.

Sie verstehen Produktionsmächtigkeit (PM) offenbar im Sinne von Produktivität (d.h. Verhältnis von Wertschöpfung zu Faktoreinsatz). Das ist NICHT gemeint; PM (oder genauer Produktionselastizität) bedeutet die Empfindlichkeit, mit der Veränderungen im Faktoreinsatz die Wertschöpfung beeinflussen. Eine PM von 0 Prozent bedeutet, dass die Wertschöpfung völlig unabhängig von dem betreffenden Faktor ist (dieser also irrelevant ist), eine PM von 100 Prozent bedeutet, dass eine kleine (z.B. 1-prozentige) Erhöhung des Faktoreinsatzes voll auf die Wertschöpfung durchschlägt, diese also um ebenfalls (z.B. 1 Prozent) wachsen lässt; eine PM von 40% bedeutet entsprechend, dass bei 1Prozent Mehreinsatz des Faktors die Wertschöpfung um 0,4 Prozent wächst usw. In diesem Sinne können die PM als Maß für die "Wichtigkeit" der einzelnen Faktoren für die Wertschöpfung betrachtet werden - und als Maß für das "Gewinnsteigerungspotential" der einzelnen Faktoren. Im Text ist auch nicht von steigender PM der Energie die Rede, sondern von hoher PM (44 Prozent); über die zeitliche Entwicklung treffe ich keine Aussage.

Die (Arbeits- bzw. Energie-)Produktivität hingegen ist ein sehr schlechter Maßstab für die Bedeutung eines Faktors: Wenn dieser vollständig substituiert wird durch andere Faktoren, geht seine Produktivität gegen Unendlich! (So bedeutet der Marsch in die maximale Automation, dass die Arbeitsproduktivität immer weiter ansteigt. Daraus wird von den Gewerkschaften etc. der Anspruch abgeleitet, die Löhne entsprechend der gestiegenen Produktivität zu erhöhen - und dabei verkannt, dass sich hierin nur die zunehmende Entbehrlichkeit und Verdrängung des Faktors Arbeit widerspiegelt, was die Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs zunehmend illusorisch macht.)

Es ist selbstverständlich, daß in einer profitorientierten Wirtschaft in energieeffizientere Verfahren investiert wird, statt in Arbeitsplätze.

Meinen Sie hier nicht "energieintensiv" statt "-effizient"? Denn zwar steigt die Energieeffizienz AUCH, aber nur relativ langsam - sie hinkt weit hinter dem technisch Möglichen hinterher, als Folge der niedrigen Energiepreise. Die dominierende Entwicklung ist das Wegrationalisieren der Arbeit, nicht das der Energie. Unter der Annahme, dass Sie dies auch so gemeint haben, ist einzuwenden, dass diese Entwicklung kein inhärentes Wesensmerkmal einer profitorientierten Wirtschaft ist, sondern durch das beschriebene Ungleichgewicht zwischen Arbeit / Energie bedingt: Das Verhältnis zwischen PM und Kosten ist bei der Energie um den Faktor ca. 60 günstiger als bei der Arbeit! Wäre es umgekehrt, dann würde die Entwicklung völlig anders verlaufen: Man würde gerade aus Gründen der Profitmaximierung Energie durch Arbeit ersetzen (was wir natürlich nicht beabsichtigen - es soll nur ein Gedankenexperiment sein.)

Selbst wenn es gelänge, Energie durch Besteuerung teurer zu machen, würde sich dieser Prozeß beschleunigen. Denn umso attraktiver wäre es, energieeffizientere Verfahren zu investieren und umso schneller ginge die Zahl der Arbeitsplätze zurück.

??? Weshalb sollte eine Steigerung der Energieeffizienz mit einem sogar noch BESCHLEUNIGTEN Verlust an Arbeitsplätzen verbunden sein? In Einzelfällen mag dies zutreffen, aber nicht im Durchschnitt. Im Gegenteil, in vielen Fällen würde das Wegrationalisieren menschl. Arbeit unterbleiben, weil diese konkurrenzfähiger gegenüber der Energie würde. Zudem sind die Arbeitsplätze zu bedenken, die in anderen Bereichen (Bildung, Gesundheit, Pflege) neu entstehen können und dort auch dringend benötigt werden, sich heute aber nicht "rechnen". Das ist eigtl. der wichtigere Effekt, denn wie Sie ja selbst vermerken, geht es uns nicht um ein Rückgängigmachen der industr. Revolution.

A Die Illusion der "ökologischen" (von J. Grahl selbst in Anführungszeichen gesetzt) Steuerreform.
In den letzten Jahren erfolgten minimale Erhöhungen der Mineralöl- und anderer Energiesteuern. Diese wurden um ein Vielfaches durch gleichzeitige und mehrmalige Preiserhöhungen übertroffen.

Darüber, wie unzureichend die bisherigen Ökosteuerschritte waren, sind wir uns einig. Das spricht aber nicht gegen das Konzept als solches. Wenn ich von der ÖSR rede, dann meine ich damit nicht primär die rotgrüne ÖSR, sondern unser idealtypisches Konzept, das im übrigen weit über die üblichen ÖSR-Konzepte hinausgeht, vgl. z.B. den Artikel "Agenda 2009" von W. v. Fabeck auf unserer Homepage (www.sfv.de, Anm. v. K.S.) , in dem wir - wiederum "nur" als Gedankenexperiment - den Fall betrachtet haben, dass die gesamten (!) Steuern und Abgaben auf die Energie umgelegt werden. Dass es bis zur Umsetzung dieses im besten Wortsinne radikalen Konzeptes ein weiter Weg ist, darüber gebe ich mich keinen Illusionen hin.

Dass ich "ökolog." bei "ÖSR" in Anführungszeichen setze, ist übrigens nicht abwertend gemeint, sondern nur ein Seitenhieb darauf, dass über der zumeist ökolog. Begründung der ÖSR ihre wirtschaftlichen und sozialen Chancen übersehen werden. Daher gefällt mir die Terminologie der ÖDP besser: "Steuerreform für Arbeit und Umwelt".

Es ist eine Illusion zu meinen - aus Vernunftgründen, statt aufgrund gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse - könne noch draufgesattelt und die (längst aufgegebene) "soziale Marktwirtschaft" zur "öko-sozialen Marktwirtschaft" aufgestockt werden.

Ich habe nirgends behauptet, dass Vernunftgründe allein die notwendigen Veränderungen herbeiführen können; das wäre in der Tat illusorisch. Aber auch wenn man die Veränderungen durch Druck von unten erzwingen will, muss man dafür ein realpolitisch taugliches Konzept haben, und dazu bedarf es nun einmal breitangelegter Aufklärungsarbeit.

Das dieses Wirtschaftssystem konstituierende "kurzsichtige Profitstreben" steuert die gesamte Weltwirtschaft (d.h. die verflochtene Wirtschaft der gegenwärtig zehn Industrie-Nationen) unweigerlich in den Kollaps. Ob dieser bereits in naher Zukunft oder erst in Jahrzehnten eintreten wird, bleibt der Spekulation überlassen.

Ich kann Ihren Pessimismus gut verstehen, aber er hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil, dieser Pessimismus und die mit ihm einhergehende Mut- und Perspektivlosigkeit ist wohl der Hauptgrund, weshalb sich heute kaum noch jemand engagiert - und damit wird der Pessimismus zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung!

Herzliche Grüße,

 

Jürgen Grahl

 

 

Geistes-Blitz-Werk