5.10.2006

Alpen zerbröseln

Klimakatastrophe rückt näher

Das Auftauen des Permafrosts in den Alpen hat erneut einem Menschen das Leben gekostet. In der Nacht vom 3. auf 4. Oktober wurde eine Autofahrerin im Schweizer Biasca von einem Erdrutsch erfaßt und getötet. Auch die San-Bernadino-Route bleibt voraussichtlich noch den gesamten Tag (5. 10.) gesperrt.

Ein Erdrutsch verschüttete die Straße auf eine Länge von rund 30 Metern. Das Geröll türmte sich zwei Meter hoch. Zuletzt waren am 31. Mai zwei Deutsche im Auto ums Leben gekommen, als ein tonnenschwerer Felsbrocken auf die Schweizer A2 stürzte und Fahrzeug samt Insassen unter sich begrub. Die beliebte Urlaubsroute A2 samt dem Gotthard-Tunnel war für einige Zeit gesperrt. Anschließend wurde die Autobahn kurzzeitig wieder für den Verkehr frei gegeben, aber nach weiteren kleineren Felsabgängen erneut gesperrt.

In den Alpen gibt es zahlreiche Viertausender, bei denen sich oberhalb der Waldgrenze der Untergrund in Folge des Klimawandels verändert und verschiebt. Gefahr droht durch das Abschmelzen der Permafrost-Schichten, die oberhalb von rund 2400 Metern angesiedelt sind.

"Die Nullgrad-Grenze liegt ständig mehr als 4.000 Meter hoch. An manchen Tagen ist sie auf über 5.000 Meter angestiegen", erklärt Wilfried Haeberli, Geografie-Professor an der Universität Zürich. "Auf allen Alpengipfeln schmilzt es." Haeberli ist der Nestor der Schweizer Gletscherforschung, doch so etwas hat er noch nie erlebt. Er hat in der Schweiz gerade für Schlagzeilen gesorgt, weil er vor einer Katastrophe warnte. Professor Haeberli nennt einen Felssturz im fernen Kaukasus als Beispiel. Im September 2002 waren dort zwei Millionen Tonnen Gestein abgestürzt und fielen auf den Kolka-Gletscher. Der Gletscher brach daraufhin vom Hauptkamm des Kaukasus ab und begann eine Höllenfahrt in die russische Teilrepublik Nordossetien. Die Lawine aus Eismassen, Schlamm und Geröll tötete dort 33 Menschen und verwandelte ein ganzes Tal in eine Mondlandschaft.

Auch im Schweizer Hochgebirge könne sich eine Kettenreaktion wie im Kaukasus abspielen, sagtt Haeberli. Gefährdet seien vor allem tief eingeschnittene Täler wie zum Beispiel jenes von Zermatt. Mögliche Sturzbahnen werden bereits heute aufmerksam studiert. Vergleichbare Flächen wie am Kolka-Gletscher seien dort keine Seltenheit.

Steigen die Sommertemperaturen um 3 Grad Celsius, verlieren die Gletscher in den Europäischen Alpen 80 Prozent ihrer Eisfläche. Bei einer Erwärmung um 5 Grad Celsius würden die Alpen praktisch eisfrei werden. Diese Auswirkungen der Klimaszenarien für das Ende des 21. Jahrhunderts haben Forscher der Universität Zürich in einem Modellexperiment nachgewiesen. Die Studie erschien am 15. Juli 2006 in der Zeitschrift 'Geophysical Research Letters'.

Gletscherschwund der Alpen

Von 1850 bis in die 1970er-Jahre haben die Alpengletscher insgesamt 35 Prozent ihrer Fläche verloren. Im Jahr 2000 war nur noch etwa die Hälfte der Alpinen Eisfläche von 1850 vorhanden. Dies entspricht einer Schwundrate von knapp 3 Prozent pro Jahrzehnt zwischen 1850 und 1975 und von fast 9 Prozent pro Jahrzehnt zwischen 1975 und 2000.

Der ungebremste Klimawandel führt nicht nur in Folge der Gletscherschmelze zu Hochwasser- und Dürre-Risiken. Die Hitze weicht auch jenen unsichtbaren Kitt auf, der für die Standfestigkeit ganzer Gebirgszüge verantwortlich ist, und der diese versiegelt hat wie Beton: den Dauer- oder Permafrost in kalten Böden, schattigen Hängen und Felsflanken hoch über der Baumgrenze.

Weil Zermatt an mehreren Seiten von Hängen mit dem labil werdenden Dauerfrost umgeben ist, findet sich die touristische Zentrale der Schweiz auf einer Art Gefahrenkarte wieder, die das eidgenössische Bundesamt für Umwelt erstellt hat. Selbst das nicht minder prominente St. Moritz ist darin verzeichnet.

Ebenso verzeichnet ist der tiefblaue Oeschinensee im Berner Oberland, eingerahmt von Dreitausendern und - ähnlich wie Zermatt - überdies noch von steilen Gletschern. Permafrosthänge befinden sich aber auch hoch über einem künstlichen Gefahrenherd: dem See hinter der Staumauer Grande Dixence im Kanton Wallis - mit 285 Metern die höchste der Schweiz. Hier würde ein Bruch der Betonmauer eine Flutwelle erzeugen, die selbst noch Sion im Rhônetal, die Hauptstadt des Wallis, erreichen könnte.

Wilfried Haeberli und der Eiger-Geologe Hans-Rudolf Keusen weisen auf eine "flächenhafte, tiefgründige Degradation" des Permafrosts hin. Die heißen Sommer mit Temperaturen wie in Rio de Janeiro sorgen darüber hinaus für weitere Gefahren, wie Haeberli auch in dem Fachmagazin 'Geophysical Research Letters' darlegt. Felsstürze und Steinschlag haben in jüngster Zeit ausgerechnet dort am meisten zugenommen, wo dies der Laie kaum vermuten würde: auf Steilhängen, die nach Norden ausgerichtet sind und in Nordwänden wie jener am Eiger. Die Nordlage schützt zwar vor direkter Sonneneinstrahlung, nicht jedoch vor erhöhter Lufttemperatur, die auch in den finsteren Wänden angestiegen ist. Die Folge sei eine "rapide Destabilisierung, eine fast unverzügliche Reaktion auf die extreme Erwärmung im Sommer", heißt es in den 'Geophysical Research Letters'.

Haeberlis Mitautor, der deutsche Gletscherforscher Stephan Gruber, kennt große Wände wie seine Westentasche. Denn er bringt dort selbst die Messgeräte an, mit denen die Gesteinstemperatur aufgezeichnet wird. Die Befunde sind verblüffend: Selbst im gewachsenen Gestein taut es schon bis in acht Meter Tiefe - in Zukunft werden also noch mehr Wände und Grathöcker locker werden.

Spektakulär war im Hitzesommer 2003 ein Felsabbruch am Matterhorn. Dutzende von Bergsteigern mußten per Hubschrauber gerettet werden. Auf der Südseite des Bergs, am sogenannten Lion-Grat, kippte eine ganze Flucht weg. Dort war in 3.600 Metern Höhe Eis unter den Felsen abgeschmolzen, das diese bis dahin zusammenhielt. "Was uns Sorge bereitet, sind die Ausmaße der Felsstürze. Die gehen auch hier schon in die Kubikmeter-Millionen", sagt Professor Haeberli.

Während an der Ostflanke des Eiger derzeit noch Alteis des Unteren Grindelwaldgletschers gut eine Million Kubikmeter Fels im Schwebezustand hält, hat sich andernorts der Eis- und Frostkitt bereits aufgelöst. Ende der neunziger Jahre gab es einen Permafrost-Unfall in der Ostwand des Montblanc, wo ein Teil des Brenvasporns abstürzte. Zwei Millionen Tonnen Fels krachten auf den darunter liegenden Brenvagletscher, von dem dann aber zehn Millionen Tonnen Schnee, Eis und Geröll ins Tal rasten. Zwei Menschen wurden von der Lawine begraben, die eine Spitzengeschwindigkeit von 360 Stundenkilometern erreicht hatte.

Im August 2004 stürzte in der Südtiroler Ortlergruppe ein Pfeiler der Thurwieserspitze - mehrere Millionen Kubikmeter Fels - in sich zusammen. In der Ostwand des Monte Rosa brach ein Hängegletscher - Gewicht: eine Million Tonnen - auseinander. Er kam auf dem Belvedere-Gletscher zu liegen. Zum Glück lag dort ein Gletschersee gerade trocken, der im Hitzesommer 2003 auf dem Eisfeld entstanden war. Die Flut wäre sonst in das rustikale Bergdorf Macugnaga auf der italienischen Seite des Massivs geschwappt.

Schwere Auflösungstendenzen zeigt aber auch die Westwand des Petit Dru (3.733 Meter), der kühnsten Felsnadel von Chamonix. Dort wackelt die ganze Granitwand und entsendet seit Jahren unter großer Staubentwicklung Felslawinen in die Tiefe.

Die Folgen des von den Industrienationen provozierten Treibhauseffekts sind gewaltig. Nicht nur die Alpen zerbröseln.

 

Frank Bayer

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Beiträge:

      'Nordpol schmilzt
      Klimakatastrophe rückt näher (19.09.06)

      'Wilma und die
      kommende Klimakatastrophe' (24.10.05)

      'Klimakatastrophe und Polarmeere
      Neue wissenschaftliche Erkenntnisse' (17.05.05)

      'Klimakatastrophe zeigt sich
      bereits an Erwärmung der Ozeane' (26.02.05)

      'Deutscher "Klimaschutz"
      ohne Substanz' (15.02.05)

      'War da was?
      Klima? - kein Thema!' (5.09.04)

      'Vorgeschmack
      für Boscastle und Istambul' (17.08.04)

      'Mit uns die Sintflut
      Hurrikan "Charley" wütete in Florida' (15.08.04)

      'Vorgeschmack
      oder Vorhölle' (7.08.04)

      'Vorgeschmack
      auf die Klimakatastrophe' (18.07.04)

      'MONITOR:
      Rot-Grüne Klimapolitik?' (5.06.04)

      '"Rot-Grüne" Klima-Verbrecher' (9.03.04)

      'Eines der schönsten Opfer
      der Klimakatastrophe: Vor Australien stirbt
      das Great Barrier Reef' (28.02.04)

      'EU weiter Richtung Klimakatastrophe
      Deutschland schlechtes Mittelfeld' (7.12.03)

      'Umweltpolitische Geisterfahrer
      "Rot-Grün" mit voller Fahrt in Richtung Klimakatastrophe' (9.01.03)

 

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