25.07.2006

"Gegen Hitler hat ja
auch nur Gewalt geholfen!"
?

Bericht über die Vortrags-Veranstaltung
mit Christoph Besemer
von der 'Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden'
Zu den Möglichkeiten gewaltfreien Widerstands gegen Faschismus, Diktatur und Krieg
am 24. Juli 2006 in Freiburg

Christoph Besemer stellte dem nicht eben zahlreich erschienenen Publikum ein aktuelles Buchprojekt der 'Werkstatt für Gewaltfreie Aktion' vor, in dem das Thema gewaltfreier Kampf gegen den Faschismus bearbeitet wird. Teile daraus bildeten die Grundlage seines Vortrags.

Zu Beginn stellte Besemer dem Dogma vom Scheitern des Pazifismus ein Zitat Gandhis gegenüber. Dieser sprach von einer dritten Alternative jenseits von Gewalt oder Passivität. Das "Scheitern des Pazifismus" wird oft oberflächlich begründet, indem die von Großbritannien und den USA gegenüber Hitler verfolgte Appeasement-Politik mit Pazifismus gleichgesetzt wird. 1992 äußerte der spätere deutsche Außenminister Joseph Fischer, von dem es immer wieder fälschlich heißt, er sei zeitweilig selbst Pazifist gewesen: "Auschwitz konnte durch den Pazifismus nicht verhindert werden." Und schon zu Beginn der 80er Jahre erregte der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler mediale Aufmerksamkeit mit der gegen die damals starke Friedensbewegung gerichteten Parole "Pazifismus hat den Nazionalsozialismus erst möglich gemacht!"

Besemer hob darauf ab, daß ein Zurückweisen dieses Dogmas vom Scheitern des Pazifismus keineswegs mit einem Verharmlosen des Holocaust gleichgesetzt werden kann. Seine Hauptthesen: Es muß das Fehlen eines planvollen gewaltfreien Widerstands in den Jahren 1933 bis 1945 konstatiert werden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es ihn nicht gegeben hätte. Nach wie vor werden in der Öffentlichkeit wie in der Geschichtswissenschaft die zahlreichen Beispiele gewaltfreien Widerstands weitestgehend ausgeblendet und totgeschwiegen. Gewaltfreier Widerstand war in der Zeit des Faschismus nicht selten verblüffend erfolgreich.

Auch das Buch von Jacques Semelin, 'Ohne Waffen gegen Hitler', auf das sich Besemer vielfach berief, ist hierzulande von der Geschichtswissenschaft bisher nicht zur Kenntnis genommen worden. Semelin untersuchte in dem genannten Werk rund 40 Beispiele "zivilen Widerstands" mit einer Beteiligung von tausend bis zehntausend Menschen.

Der Vortrag Christoph Besemers behandelte 13 Thesen, die ich im folgenden kurz vorstelle:

1. Das NS-Regime war in sich nicht geschlossen, sondern brüchig und widersprüchlich - ein Resultat verschiedener Interessen.

Eines dieser Interessen war die maximale Ausbeutung der Ressourcen in den besetzten Ländern. Hierzu war der eigene Verwaltungs-Apparat nicht ausreichend. Das NS-Regime mußte sich daher auf den Verwaltungs-Apparat der besetzten Länder stützen.

2. Eine Zusammenarbeit mit dem Aggressor, um vermeintlich "das Schlimmste zu verhindern", ist die Garantie für die Erfüllung dessen Interessen.

Zu unterscheiden ist dabei allerdings zwischen einer "defensiven Zusammenarbeit" wie sie in Dänemark stattfand und einer "aktiven Zusammenarbeit" wie bei der Kollaboration in Frankreich unter der Vichy-Regierung. In Dänemark gab es starken Widerspruch gegen den Krieg und - was besonders bemerkenswert ist - die dänischen Juden konnten fast ausnahmslos gerettet werden. Die Bilanz ist nach Einschätzung Besemers dennoch ambivalent, da der Widerstand nach 1943 nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte.

3. Die militärische Niederlage mußte nicht das Ende des Kampfes bedeuten. Eine Verweigerung der staatlichen Zusammenarbeit, eine "Politik der Verweigerung", aktiviert das Widerstandspotential der Bevölkerung. Eine wichtige Voraussetzung ist zudem die langfristig angelegte Vorbereitung der Bevölkerung auf einen Widerstand gegen Besatzung.

4. Individueller Widerstand erfordert außergewöhnliche moralische Kraft. Kollektiver Widerstand ist auf sozialen Zusammenhalt angewiesen. Neben dem Grad des sozialen Zusammenhalts der Bevölkerung ist die Solidarität innerhalb gesellschaftlicher Gruppen von ausschlaggebender Bedeutung.

Beispielhaft hierfür ist der Widerstand norwegischer LehrerInnen 1942. Trotz der Deportation von 1.100 LehrerInnen in Arbeitslager konnte der Widerstand nicht gebrochen werden. Die Kollaborateurs-Regierung unter Qisling mußte schließlich nachgeben. In den Niederlanden gab es Widerstand von Seiten der ÄrztInnen. 1942/43 unterschrieb die überwiegende Mehrheit einen Protestbrief mit voller Namensnennung. Alle in der Folge verhafteten ÄrztInnen waren bereits 1943 wieder freigelassen. In Belgien kam es zu Bergarbeiter-Streiks, die Erfolge verzeichnen konnten. Die Beispiele zeigen zudem, daß Steiks, die von wirtschaftlichen Gründen ausgelöst wurden, sich in einen politischen Kampf transformierten. In Westeuropa war die Besatzung weniger brutal als in Osteuropa. So war die Situation in Polen nicht mit der westeuropäischer Staaten vergleichbar. Hitlers Ziel war die Vernichtung der polnischen Intelligenz und Kultur. Dennoch war es möglich, Untergrund-Schulen zu organisieren. 70 Prozent der polnischen GymnasiastInnen besuchten diese Schulen.

5. Gewaltfreier Widerstand benötigt das Wohlwollen der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung.

Wichtig sind dabei drei "Hauptkanäle": a) gesellschaftlichen Autoritäten wie die Kirchen, b) Untergrund-Presse und c) Streiks. Hierüber kann eine Interaktion zwischen öffentlicher Meinung und Widerstand organisiert werden.

6. Die Repression des brutalsten Systems stößt bei gewaltfreiem Widerstand an Grenzen. Waffen helfen dabei, die Bevölkerung zu spalten. Völlig verfehlt sind vereinfachende Modelle auf der Folie des Streits zwischen zwei Personen.

Bei der Analyse der Situation in Osteuropa zeigt sich, daß das Besatzungsregime auch hier der Unterstützung kompetenter Kollaborateure bedurfte. Es konnte sich auf eine hierarchische Gesellschaft stützen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse von Jean Gross, der auf den Zusammenhang zwischen Gewalt und Gehorsam hinweist. Gewaltverhältnisse werden nicht allein wegen der Repression geduldet, sondern zugleich, weil sie einen "Vorteil" versprechen. Die Minimierung dieses Vorteils in Polen - im Gegensatz beispielsweise zu Frankreich - ist ein wesentlicher Grund für den Massencharakter des polnischen Widerstands. Ein isolierter Widerstand ist zur Erfolglosigkeit verurteilt.

7. Der Völkermord an den Juden und Jüdinnen war auch eine Folge des europaweiten Antisemitismus. Ein entscheidender Faktor war der mangelnde gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen der jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerung. Dieser war eine Voraussetzung für die Spaltung. Die Spaltung war im Westen schwieriger durch die Emanzipation und weitgehend vollzogene Integration des jüdischen Bevölkerungsteils.

Für die Nazis bestand die Notwendigkeit, die Judenverfolgung stufenweise zu eskalieren. Dieses Vorgehen wurde bereits durch Meinungsumfagen optimiert. Jüdinnen und Juden wurden mit Hilfe von "Judenräten" dazu eingespannt, zur eigenen Vernichtung beizutragen.

György Conrad, ein ungarischer Schriftsteller, schildert die bereitwillige Kooperation der ungarischen Verwaltung bei der Juden-Deportation und deren disziplinierte Ausführung. Gegenbeispiele sind Dänemark und Bulgarien.

8. Staat, öffentliche Meinung und soziale Netze konnten den jüdischen Bevölkerungsteil schützen.

Beispiele hierfür sind der Widerstand in Dänemark, der sowohl das Parlament als auch den König umfaßte, der Widerstand in Finnland und in Rumänien, wo die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung gerettet werden konnte.

Offener Protest ist weitaus wirkungsvoller als vertraulicher Protest. Dies zeigt auch der heute durch den Film von Margarete von Trotha bekannt gewordene Widerstand der "Frauen von der Rosenstraße" in Berlin. Am 27. Februar 1943 wurden jüdische Zwangsarbeiter, die mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet waren, verhaftet und in der Rosenstraße festgehalten. Der tägliche, öffentliche Protest von meist über 600 Frauen - insgesamt waren über 1000 Personen beteiligt - führte dazu, daß die Nazis zurückwichen und die Gefangenen am 6. März freiließen. Laut Göbbels Tagebuch war dies auf den "öffentlichen Protest" zurückzuführen.

Ebenso als Folge öffentlichen Drucks wurde die Juden-Deportation in Bulgarien eingestellt.

9. Ohne kollektiven Zusammenhalt gibt es keinen Genozid. Eine unabdingbare Voraussetzung ist die Mittäterschaft breiter Bevölkerungskreise. Tiefergehende historische Analysen zeigen, daß Auschwitz nur als das Endstadium einer sich über einen langen Zeitraum entwickelnden Krankheit verstehen läßt. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß ein Genozid besser durch Vorbeugung statt durch Widerstand verhindert werden kann. Im "Endstadium" ist kaum mehr als Katastrophenhilfe möglich. Wie bei Krebs gilt auch hier: Je früher die Krankheit erkannt wird, desto größer ist die Chance, daß sie wirkungsvoll bekämpft werden kann.

10. Der zivile Widerstand hat die Ausbeutung der besetzten Länder erschwert und mehr Jüdinnen und Juden gerettet als der militärische Kampf gegen den Faschismus.

11. Die Judenvernichtung konnte nur im Schatten des Krieges vollzogen werden.

12. Die Politik und der Kriegseintritt der Alliierten verfolgte in erster Linie nationale und imperiale Ziele (vgl. hierzu auch die ausführliche Analyse von Andreas Buro und Arno Klönne) Die Rede vom "Scheitern der pazifistischen Politik" geht an der Realität vorbei. Der Zweite Weltkrieg wurde weder zur Rettung der Deutschen vor dem Faschismus noch zur Verhinderung des Holocaust geführt.1 Die Gründe für den Kriegseintritt der Alliierten waren die militärische Verteidigung gegen den Angriff durch Hitler und die Niederwerfung einer konkurrierenden imperialen Macht.

13. Es gibt nachvollziehbare Gründe, warum bis heute die historischen Fakten über zivilen Widerstand gegen das Nazi-Regime ignoriert und verschwiegen werden. Wenn eingestanden werden muß, daß es die Möglichkeit zivilen Widerstands gegen die Nazis gab, würde damit zugleich das Versagen fast aller relevanter gesellschaftlicher Kreise in Deutschland offen gelegt.

 

Klaus Schramm

 

Anmerkungen

1 Siehe auch unseren Artikel

      'Auschwitz war den Westmächten gleichgültig'
      Die Verhinderung des Massenmords paßte nicht
      in die militärische Strategie (27.01.05)

 

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