4.08.2004

Der Leichnam stinkt
seit 90 Jahren

Am 4. August 1914 stimmte die SPD für Krieg

Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag den Kriegskrediten zu und damit gelang es dem damals noch nicht globalisierten, sondern nationalen deutschen Kapital mit Hilfe der Regierung Bethmann Hollweg, "die Sozialdemokraten ins Boot" zu holen. Dies war entscheidend für die Möglichkeit, einen Krieg zu führen, denn a) benötigt eine Macht immer eine große Anzahl Menschen, die bereit sind, in den Tod zu marschieren und b) hätte das damals noch zahlenmäßig starke deutsche Proletariat einen Krieg verhindern können. Mehr noch: Die sozialdemokratischen Parteien Europas - als die parlamentarischen Vertreterinnen des europäischen Proletariats - hatten sich bei allen sonstigen ideologischen Differenzen ausnahmslos gegen Krieg erklärt. (Die kommunistischen Parteien entstanden erst in der Folge des moralischen Bankrotts der Sozialdemokratie.) Diese noch 1913 gemeinsam proklamierte Kriegsgegnerschaft beruhte nicht etwa auf prinzipiellen pazifistischen Erwägungen, sondern darauf, daß die Arbeiterbewegung erkannt hatte, daß Krieg allein im Interesse des Kapitals lag und ihre Seite - das europäische Proletariat - nur dabei verlieren konnte.

Seit den Zeiten von Karl Marx (1818 - 1883) und Ferdinand Lassalle (1825 - 1864) wußte das deutsche Proletariat, das als weitgehend einheitliche Arbeiterklasse um 1900 zur mit Abstand größten Klasse in der deutschen Gesellschaft aufgestiegen war, um die Bedeutung der internationalen Solidarität und war sich seiner Gegnerschaft zur Klasse der Kapitalisten bewußt.

Deren zunehmende Kriegsvorbereitungen, die europaweit zu beobachten waren, stießen auf den einhelligen Widerstand der internationalen Arbeiterbewegung. Die 'Sozialistische Internationale' konnte sich auf starke Arbeiterparteien in vielen europäischen Ländern stützen. Auf den Internationalen Sozialisten-Kongressen 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel hatte die SPD noch eine führende Rolle gespielt und die europäischen Arbeiter zum Widerstand gegen den nahenden Krieg aufgerufen. 1907 wurde eine Resolution verabschiedet, auf dem Internationalen Sozialisten-Kongreß 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel unter einmütiger Zustimmung der deutschen TeilnehmerInnen aus SPD und Gewerkschaften ausdrücklich bestätigt, in der es heißt:

"Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen."

Ein Jahr nach dem Sozialisten-Kongreß in Basel und ein Jahr vor dem Ende der bis dahin als SPD bezeichneten Partei starb August Bebel (1840 - 1913), der diese Partei zusammen mit Wilhelm Liebknecht (1826 - 1900) 1869 unter ihrem ersten Namen als 'Sozialdemokratische Arbeiterpartei' gegründet hatte. Bebel war nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 entscheidend an der Neuorganisation der SPD und an der Formulierung ihres Erfurter Programms beteiligt und war ihr erster Vorsitzender. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts baute Bebel die SPD zu einer Massenpartei aus. 1912 war die SPD stärkste Fraktion im Reichstag und 1913 zählte sie eine Million Mitglieder.

Bebel, bis zu seinem Tod Vorsitzender der SPD, war zeitlebens unzweideutiger Kriegsgegner. So äußerte er sich zum Krieg ebenso wie zur Rolle der Frau immer klar und prägnant wie beispielsweise 1911:

"Wenn es zum Kriege kommen sollte, so würde ich vorschlagen, daß aus diesen Kriegshetzern eine Brigade gebildet wird mit dem Titel »Brigade zur Rettung der Ehre des Vaterlandes«, und an der Stirn der Kopfbedeckung müßten die Worte stehen: »Retter des Vaterlandes«. Diese müßten zunächst in die Schlacht: die hetzenden Redakteure und Abgeordneten, die hetzenden Großindustriellen, kurz, alle jene, die an der Kriegshetze beteiligt sind. Diese müßten in der Schlacht voraus geschickt werden, um mit ihren meist doch ziemlich korpulenten Leibern zur Ehre des Vaterlandes das Feld zu decken."

Der 'Vorwärts', die große Parteizeitung der SPD, druckte noch am 25. Juli 1914 einen Appell, der mit den Worten schloß:

"Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Gewalthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!"

Im Jahr 1914 hatten es die AnführerInnen der europäischen sozialdemokratischen Parteien bis zum Monat August noch in der Hand, das mehrheitlich gegen Krieg eingestellte Proletariat zum Generalstreik aufzurufen. Leider war der Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel 1913 gestorben. Dieser hätte vielleicht in Deutschland zusammen mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (dem Sohn Wilhelm Liebknechts) die Kehrtwende der Sozialdemokratie verhindern können.

Doch nicht nur in Deutschland, auch in vielen anderen europäischen Ländern waren innerhalb der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften reformistische Kräfte in die Führung aufgestiegen und hatten dort eine Mehrheit erlangt. Rosa Luxemburg kritisierte diese Entwicklung scharf als "Bürokratismus". Der Revisionismus innerhalb der SPD hatte sich erst 1890 nach der Aufhebung der Sozialistengesetze und der Aufhebung des SPD-Verbots entwickelt. Während der Illegalität konnte niemand seine Existenz auf den Fortbestand einer sicheren Arbeitsstelle bei der "Arbeitgeberin" SPD aufbauen. Doch in wenig mehr als 20 Jahren war eine Schicht von "Parteibonzen" entstanden. In ihrer saturierten Existenz und der oftmals als Abgeordnete erlangten allgemeinen Anerkennung, hatten sie einen Status erreicht, den sie nicht mehr durch "Revolutionsrhetorik" gefährdet sehen wollten. Und gerade indem diese Kräfte ihren Frieden mit der Obrigkeit gemacht hatten, waren sie dafür prädestiniert, das Proletariat in den Krieg zu führen.

Diese revisionistischen Kräfte waren 1914 nicht nur in der SPD-Führung, sondern auch in der SPD-Reichstagsfraktion in der Mehrheit. Und nur weil ein einstimmiges Votum der Fraktion zwingend war, konnte die Gruppe um Friedrich Ebert (seit 1913 einer der beiden SPD-Vorsitzenden und nach dem Krieg zum Reichspräsidenten aufgestiegen) durchsetzen, daß die gesamte Fraktion am 4. August 1914 im Reichstag den Kriegskrediten zustimmte. Das war der entscheidende Schlag. Die SPD-Reichstagsfraktion begründete dies mit der Aussage: "Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich."

Mit dieser Entscheidung stellte sich die SPD auf die Seite der deutschen Kapitalisten - vorneweg die Kohle- und Stahl-"Barone" Krupp, Kirdorf und Stinnes, auf die Seite der Eisen- und Stahlkonzerne, Schiffswerften und Chemiekonzerne, die in der Zeit der seit 1900 stagnierenden Ökonomie zu immer größeren Teilen ihre Profite mit Rüstungsaufträgen gemacht, und mit ihren Interessenverbänden wie dem Flottenverein, dem Wehrverein und dem Alldeutschen Verein eine permanente Propaganda für Patriotismus, Kolonialismus, Aufrüstung und Krieg betrieben hatten, auf die Seite der ostelbischen Junker, die ihre großen Ländereien durch Gebietseroberungen in Westrußland vervielfältigen wollten, und auf die Seite der ausführenden Repräsentanten, des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg und des unsäglichen Kaisers Wilhelm II. Die SPD machte sich mitschuldig an der bis dato blutigsten Massenschlächterei der Menschheitsgeschichte.

Rosa Luxemburg, damals 43 Jahre alt, kommentierte:

"Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen."
(Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 20)
Und weiter schrieb sie:
"Gestellt vor diese Alternative, die sie zuerst erkannt (...) hatte, strich die Sozialdemokratie die Segel, räumte kampflos dem Imperialismus den Sieg ein. Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt, hat es eine Partei gegeben, die in dieser Weise, nach fünfzig-jährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hatte wie die deutsche Sozialdemokratie. An ihr (...) läßt sich der Zusammenbruch des Sozialismus am klassischsten nachweisen."
(Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 21)

Von Rosa Luxemburg stammt der Vergleich der unter dem Namen SPD fortbestehenden Partei mit einem "stinkenden Leichnam".1

Einen Ansatz für eine Analyse und Kritik auf materialistischer Grundlage machte Rosa Luxemburg bereits, indem sie formulierte:
"Die Herrschaft der Partei und Gewerkschaftsinstanzen (...) über die organisierte Arbeiterschaft, das ist im Kern nichts anderes als der gewaltigste Sieg der deutschen Bourgeoisie über die Arbeiterklasse, der je erfochten oder nur erträumt worden ist. Die zum Kampfe wider das Kapital unter die Fahnen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gelockten Massen sind heute gerade durch diese Organisationen und in diesen Organisationen unter das Joch der Bourgeoisie in einer Weise gespannt worden, wie sie es nie seit Beginn des modernen Kapitalverhältnisses waren."
(Rosa Luxemburg am 6. Januar 1917, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 235)

Leider jedoch arbeitete sie diese Kritik nicht weiter aus und äußerte sich am 25. Mai 1917 lediglich kryptisch:
"Wer die gewaltige welthistorische Krise des deutschen und des internationalen Sozialismus seit Ausbruch des Krieges nicht für eine vom Himmel gefallene Zufallserscheinung hält, muß begreifen, daß der Kladderadatsch des 4. August 1914 wohl schon im Wesen der Arbeiterbewegung vor dem 4. August 1914 wurzelte."
(Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 271)

Dennoch fixierte sie sich auf das Datum 4. August 1914 wie die Formulierung "binnen vierundzwanzig Stunden" im obigen Zitat belegt und wie sich an vielen späteren Formulierungen, die sich am "4. August 1914" aufhängen, zeigen läßt.

Ihre Überlegungen schwanken zwischen Vermutungen in Hinblick auf ideologische Fehler und Ansätzen einer materialistischen Analyse:

"...und nachdem - was das Entscheidende - weder das Erfurter Programm noch die nationalen und internationalen Beschlüsse den betäubenden Bankerott der Arbeiterbewegung haben verhüten können."
(wobei es uns heute seltsam anmutet, bei dieser intelligenten Frau die Hoffnung zu finden, Resolutionen könnten irgend etwas verhindern.)
und:
"Das krampfhafte Bemühen, sich des Bürokratismus der alten Partei durch rein mechanische Mittel des Organisationsstatuts zu erwehren, wirkte wie ein tragikomisches Schlagen nach dem eigenen Schatten, nachdem die Führer der Opposition von der Arbeitsgemeinschaft es geflissentlich vermieden hatten, die politischen Wurzeln des Bürokratismus und der ganzen Entartung der Demokratie in der alten Partei aufzudecken und an sie die Axt anzulegen."
(beide Zitate aus dem Artikel 'Rückblick auf die Gothaer Konferenz',
v. 25. Mai 1917, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 272)

Was ihre Kritik an der inneren Demokratie angeht, lag sie ebenso falsch. Verglichen mit dem, was sich in späteren Zeiten SPD nannte, insbesondere mit der Organisation gleichen namens nach dem Zweiten Weltkrieg, war die SPD um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. ein Ausbund an Demokratie. Und mehrere Faktoren, wovon sicherlich der, daß sie selbst ihren Lebensunterhalt auf Parteiarbeit gründete, nicht unerheblich war, hinderten sie daran, das, was sie "Bürokratismus" nannte, in seiner Entwicklung und Dynamik zu analysieren.

Die von ihr im selben Text angekündigte "allgemeine scharfe Kritik des Parlamentarismus" blieb sie schuldig.

Viele Linke und die Mehrzahl der Gruppierungen in der Nachfolge der kommunistischen Parteien, die als Reaktion auf das Scheitern der Sozialistischen Internationale nach 1914 entstanden waren, erklären bis heute die Kehrtwende "binnen vierundzwanzig Stunden" mit Verrat.

Es müßte sich dabei um eine europaweit abgesprochene Verschwörung gehandelt haben, denn nicht nur in Deutschland - dort zuerst - kippte die Arbeiterpartei um. Trotz internationaler Massendemonstrationen noch im Juli 1914 beschlossen fast alle Arbeiterparteien Europas, sich auf die Seite ihrer jeweiligen Bourgeoisie zu stellen, also nicht, wie auf Kongressen der 2. Internationale beschlossen, den Krieg für eine europäische Revolution zu nutzen. Lediglich die kleine bulgarische sozialdemokratische Partei und die russischen Sozialdemokraten (unter denen die Bolschewiki nur eine Gruppe in einer minoritären Partei waren) blieben den ursprünglichen Beschlüssen treu. Mangels Masse hatte sich dort noch keine Schicht von Partei-Bonzen entwickeln können.

Indem die deutschen Sozialdemokraten als führende europäische Partei am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Chance für eine Ablösung des Kapitalismus in Europa, der sich nur noch durch Krieg am Leben halten konnte, verpaßte, war sie zugleich auslösendes Moment für die Mißgeburt der Oktoberrevolution. Und nur das Versagen der Sozialistischen Internationale erklärt das zwiespältige Verhältnis Rosa Luxemburgs zum bolschewistischen Regime in Rußland.

Nachdem sie ihr liebstes Kind für tot erklären und zusehen mußte, wie Opportunisten dessen Namen für eine Partei mißbrauchten, die die Ziele ihrer Gründer nicht nur in der entscheidenden Kriegs-Frage verriet, akzeptierte sie nach einer gewissen Zeit das russische Proletariat als Avantgarde des Sozialismus. So schreib sie 1917 / 1918 in dem 'Zur russischen Revolution' betitelten unvollendeten Manuskript:
"Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung (...), sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus."
Doch selbst W.I. Lenin schrieb zu dieser Zeit noch, indem er anerkannte, daß eine sozialistische Revolution in nur einem Land nicht überlebensfähig ist:
"Deshalb ist die in Rußland ausgebrochene sozialistische Revolution nur der Anfang zur sozialistischen Weltrevolution."
('Um Brot und Frieden', Werke, Bd. 26, S. 388)

Rosa Luxemburg hatte noch 1917 klar erkannt:
"Vom Rade der imperialistischen Weltkatastrophe erfaßt, kann die russische Republik allein an ihrem Teil sich den Konsequenzennicht entziehen, sich aus dem Rad nicht befreien und auch das Rad allein nicht zum Stillstand bringen. Die internationale Katastrophe vermag nur das internationale Proletariat zu bändigen. Den Imperialistischen Weltkrieg kann nur eine proletarische Weltrevolution liquidieren. Und die Widersprüche, in denen sich die russische Revolution unentrinnbar bewegt, sind nur praktische Äußerungen des Grundwiderspruchs zwischen der revolutionären Politik des russischen Proletariats und der Kadaverpolitik des europäischen Proletariats, zwischen der Klassenaktion der Volksmassen in Rußland und dem Verrat der deutschen, englischen, französischen Arbeitermassen an ihren Klasseninteressen und am Sozialismus."
('Brennende Zeitfragen', Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 278)

Ein Sozialismus in einem Land konnte keine Chance haben. Als das Regime der Bolschewiki dennoch nach dem Sonderfrieden von Brest-Litowsk an der Macht bleiben konnte, dann nur, weil es sich in eine erbarmungslose Diktatur verwandelte.

Rosa Luxemburg hatte derweil ihren Anspruch, das Versagen der deutschen Sozialdemokratie zu analysieren, vergessen. Die anvisierte Kritik des Parlamentarismus mag bei ihr von der altbekannten Platitüde überlagert worden sein, daß es sich bei einer bürgerlichen Demokratie nur um eine Scheindemokratie handeln könne. Den Begriff "Diktatur des Proletariats", der als propagandistische Kampfbegriff von Marx und Engels allenfalls mit dem Argument zu rechtfertigen war, daß eine sozialistische Gesellschaft nur auf der Grundlage einer überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse zu erreichen sei, akzeptierte sie bald im Leninschen Sinne als Diktatur einer kleinen Minderheit in Vertretung eines (in Rußland in weiten Teilen fiktiven) Proletariats. Und in der Frage der Beteiligung am Parlamentarismus nahm sie die von Lenin geprägte opportunistische Haltung an, indem sie sich 1919 für eine Beteiligung der neu gegründeten KPD an den Wahlen zur Nationalversammlung aussprach. Noch war die Mehrheit der KPD (mit den falschen Argumenten) für einen Wahlboykott.

Die eigentliche Gefahr des Parlamentarismus liegt darin: Zum einen ist es immer eine kleine Minderheit der gesamten Parteimitglieder, die in das Parlament gewählt wird. Zum anderen erzwingt die Orientierung einer Partei auf Wahlerfolge die Entstehung einer professionalisierten Parteibürokratie, in der ebenfalls - hier aus finanziellen, dort aus konstitutiven Gründen - nur eine kleine Minderheit der Parteimitglieder arbeitet. Auf diese beiden Minderheiten kann die geballte Macht der Kapitalinteressen fokussiert einwirken. Bei dem hier offenkundigen Kräfteungleichgewicht kann das Ergebnis nicht verwundern.

Dieses Einwirken ist an der Entwicklung der revisionistischen Strömung innerhalb der SPD und deren stetigem Wachstum bis zum Erreichen der Mehrheit in den Parteigremien (bei weitem nicht an der Basis!) genau zu studieren. Der "Revisionismus" - personalisiert an ihrem ideologischen Exponenten Eduard Bernstein (1850 - 1932) - entwickelte sich erst 1890 nach der Aufhebung der Sozialistengesetze und der Aufhebung des SPD-Verbots. Während der Illegalität konnte niemand seine Existenz mit dem Fortbestand einer sicheren Arbeitsstelle bei der "Arbeitgeberin" SPD verknüpfen. Und dies ist nur einer der vielfältigen Einwirkungspfade, auf denen das Bewußtsein von der realen Existenzweise bestimmt wird.

Rosa Luxemburg beginnt ihr Werk von 1899, 'Sozialreform oder Revolution?', mit dem Satz: "Wenn Theorien Relexe der Erscheinungen der Außenwelt im menschlichen Hirn sind, so muß man angesichts der [neuesten] Theorie von Eduard Bernstein jedenfalls hinzufügen - manchmal auf den Kopf gestellte Reflexe." Mit dieser ironischen Bemerkung beweist sie leider zugleich, daß sie von der grundlegenden Erkenntnis von Karl Marx, "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", nicht viel verstanden hatte.

Zumindest hatte sie das Erstarken dieser Strömung bemerkt und sah 1899 die Notwendigkeit, dieser theoretisch entgegenzutreten:
"Die opportunistischen Strömungen datieren in unserer Bewegung, wenn man ihre sporadischen Äußerungen wie in der bekannten Dampfersubventionsfrage in Betracht zieht, seit längerer Zeit. Allein eine ausgesprochen einheitliche Strömung in diesem Sinne datiert erst seit Anfang der neunziger Jahre, seit dem Fall des Sozialistengesetzes und der Wiedereroberung des gesetzlichen Bodens."
(Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1.1, S. 440, 441)
Dabei zeigt schon die Wortwahl "Wiedereroberung", daß sie die Zweischneidigkeit der Legalisierung nicht zu erkennen vermochte.

Neben der Abhängigkeit des eigenen Arbeitsplatzes oder Parlamentsmandats von der Legalität und möglichst gleichbleibenden Größe der "Arbeitgeberin" SPD, spielen weitere Faktoren die Rolle einer schleichenden Infusion. Der Durchschnittsmensch ist der Privilegisierung als ParlamentarierIn und der permanenten öffentlichen Aufmerksamkeit und Anhimmelung durch eigene AnhängerInnen, dem abgesicherten Lebensstandard und dem subjektiven Eindruck persönlicher Machtteilhabe und daraus abgeleiteter Wichtigkeit nicht gewachsen. Jutta Ditfurth schreibt hierzu:
"Mich wundert, daß die »legale« Form der Korruption in der Politik kein Thema ist. Sie ist überall. Die rot-grüne Regierung führte 1999 Krieg gegen Jugoslawien, ohne bestochen worden zu sein. Es ist überhaupt nicht nötig, die rot-grüne Regierung durch illegale Zuwendungen zu bestechen. Die legale Korruption, besonders auch die intellektuelle, der Reiz und die Befriedigung, Teil einer besonderen Herrschaftselite zu sein - was sich auch in materiellen und immateriellen Statussymbolen ausdrückt -, reicht in der Regel zur Einbindung in die Interessen eines Mensch und Natur verachtenden Herrschaftssystems".
('Das waren die Grünen', 2000, S. 182)

Hinzu kommt, daß von Medien und Parteihierarchien eine unsichtbare Selektion ausgeübt wird: Die "Anpassungsfähigen" werden mit Aufmerksamkeit belohnt, die "Unbelehrbaren" mit Häme überzogen, diffamiert oder schlicht ignoriert. So steigt in der Regel immer nur eine Auswahl der schwächsten und anfälligsten Menschen von der Basis der Parteien in den Hierarchien nach oben.

Wie die Interessen von Wirtschaft und Militär die Meinungsbildung (im Sinne von Manipulation - nicht im offenen Sinne) und Beschlußfassung im Parlament bestimmen, kann an der zeitlichen Entwicklung und einer statistischen Auswertung der politischen Drift dieser Veränderungen an Hand konkreter Fragestellungen untersucht werden. Eine solche Untersuchung wurde von B. Badura und J. Reese bereits 1976 vorgelegt: 'Jungparlamentarier in Bonn - ihre Sozialisation im deutschen Bundestag'.

All dem ist auch mit ständiger Ausbildung, mit Überwachung oder mit der Einführung administrativer Regelungen - wie es bei den Grünen in deren Anfangszeit in Kenntnis aber gleichzeitiger Unterschätzung jener Wirkzusammenhänge mit Rotation, Trennung von Parteiamt und Mandat und freiwilligen Diätenbeschränkungen vergeblich versucht wurde - nicht beizukommen.

Der selbe Menschenversuch, der mit so schrecklichem Ergebnis bei der SPD zwischen 1890 und 1914 zu betrachten ist, mit der Gründung der Grünen (1979) und mit der Gründung der PDS (1990) zweimal unnütz wiederholt wurde, soll nun dieses Jahr mit einer Neugründung einer "sozialdemokratischen" Partei (nach dem Wunschbild der SPD der 70er Jahre) ein viertes Mal durchgeführt werden. Wie oft müssen Menschen denselben Fehler wiederholen, bevor sie etwas daraus lernen?

 

Adriana Ascoli
und
Klaus Schramm

 

Anmerkung:

1 Ein direkter Beleg, daß diese während der Weimarer Zeit noch recht bekannte Bezeichnung der SPD tatsächlich von Rosa Luxemburg stammt, ist unseres Wissens in den vom Dietz Verlag in der DDR herausgegebenen 'Gesammelten Werken' nicht zu finden. Auch wenn es zweitrangig ist, wiedergegebene Ansichten oder Zitate irgendwelcher Autoritäten mit exakten Seitenangaben zu belegen, und es viel wichtiger ist, die Gedanken im Gesamtzusammenhang zu begreifen als einzelne "Stellen" heraus zu picken, die sich vielleicht sogar beliebig mißbrauchen lassen, wollen wir in diesem Zusammenhang auf eine kleine Anekdote verweisen. Christian von Ditfurth hatte Anfang der 70er Jahre nach eigenen Angaben bei einem Besuch des "linken" Vorsitzenden der SPD Schleswig-Holstein, Jochen Steffen, in der Realschule in Ahrensburg das zweifelhafte Vergnügen, von diesem zum Schweigen gebracht zu werden. Christian von Ditfurth hatte Jochen Steffen das bekannte Zitat "entgegengeschleudert" und daraufhin zur Antwort bekommen, eine solche Äußerung Rosa Luxemburgs gebe es gar nicht. Es existieren in den Werken von Rosa Luxemburg eine ganze Reihe von Passagen, in denen sie die Metapher vom "Haufen organisierter Verwesung" in Bezug auf die SPD bemüht. Am deutlichsten vielleicht in ihrem oben bereits zitierten Offenen Brief vom 6. Januar 1917, in dem sie schreibt: "Seit dem 4. August 1914 hat in der deutschen Sozialdemokratie ein Prozeß der Zersetzung und des Zerfalls eingesetzt..." (was wir in unserer Stellungnahme hier in ihrer Fixierung auf den 4. August als falsch analysierten) und weiter (Seite 234 der 'Gesammelten Werke'): "..., die alte ruhmreiche Sozialdemokratie, die sie erst zu verscharren mitgeholfen und auf deren Grab sie anderthalb Jahre lang selbst mitgetanzt hatten..." und weiter (Seite 235 der 'Gesammelten Werke'): "Der Zerfall der deutschen Sozialdemokratie ist ein geschichtlicher Prozeß größter Dimensionen, eine Generalauseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, und von diesem Schlachtfeld drückt man sich nicht vor Ekel auf die Seite, um im Winkel unter dem Busch reinere Luft zu atmen." Diese Anmerkung hilft allerdings auch nicht in Situationen wie der von Christian von Ditfurth dargestellten, in der er sich als Jugendlicher gewünscht hat, eine Zitatensammlung zur Hand zu haben.

 

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