10.07.2010

Protestival der Parkschützer
Zehntausende gegen "Stuttgart 21"

historischer Stuttgarter Hauptbahnhof Nach Angaben des Aktions- bündnisses gegen "Stuttgart 21" folgten dem Aufruf zum Protestival trotz Temperaturen von 35 Grad knapp 20.000 Menschen. Die DemonstrantInnen zogen aus vier Richtungen in einem Sternmarsch zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Außer Redebeiträgen war ein hervorragendes musikalisches Programm geboten.

Mittlerweile rechnen die GegnerInnen von "Stuttgart 21" damit, daß dieses Mega-Projekt statt der anfänglich veranschlagten 4,1 letztlich mehr als zehn Milliarden Euro verschlingen könnte. Allein die mit dem Projekt verbundene Streckenerneuerung soll laut unabhängigen Berechnungen statt der veranschlagten zwei mindestens fünf Milliarden Euro beanspruchen.

Protestgruppen kamen beispielsweise aus Backnang, Freiburg, Heidelberg, Heilbronn, Konstanz, Plochingen, Reutlingen, Tübingen, Ulm und Neu-Ulm. Die meisten kamen mit der Bahn, denn es sind überwiegend verkehrspolitisch engagierte Menschen, die sich gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof wenden. Auch BaumschützerInnen beteiligten sich am Protestival. Rund 300 alte Bäume im Stuttgarter Schloßpark - unmittelbar neben dem historischen Bahnhof - sind von dem Mega-Projekt bedroht. Friedlich wurden schon einmal Baumbesetzungen geprobt.

Gerhard Pfeifer vom Aktionsbündnis erklärte am Samstag-Abend nach dem überaus erfolgreichen Protestival: "Spätestens mit dieser Veranstaltung ist unser Protest gegen Stuttgart 21 im Land angekommen. Ministerpräsident Mappus wird sich zukünftig schwer damit tun, sich mit der Bagatellisierung von Stuttgart 21 als lokalem Stuttgarter Problem aus der Verantwortung stehlen zu wollen." Immer mehr rücke mittlerweile die unsinnige Verschwendung von Milliarden von Steuergeldern für ein reines Prestige-Projekt ins Zentrum der Kritik. Laut Pfeifer müssen angesichts der Rekordverschuldung der öffentlichen Haushalte die knapper werdenden Gelder dort eingesetzt werden, wo sie wirklich einen Nutzen für die Bevölkerung stiften.

"Wir wollen ein Schienennetz, das den Bürgern nützt, und kein Prestigeprojekt", erklärt Brigitte Dahlbender Landesvorsitzende der Umweltschutz-Organisation BUND. "Stuttgart 21" habe das Potential, die Verkehrspolitik des ganzen Landes in die Sackgasse zu führen. Dahlbender: "Die Bürgerinnen und Bürger in ganz Baden-Württemberg sind in der Mehrzahl gegen Stuttgart 21." Außerdem werde zum Bau des Tiefbahnhofs eine Grundwasserabsenkung nötig. Dies gefährde das "nach Budapest zweitgrößte Mineralwasservorkommen in Europa" in hohem Maße. Ursel Beck, Vertreterin des Linke-Ortsverbands Bad Cannstatt zitierte aus dem offiziellen Planfeststellungsbeschluß, daß bei den Bauarbeiten im Stuttgarter Untergrund "in die das Mineralwasser schützende Schichten eingegriffen" werde. "In anderen Worten: die Quellen in Cannstatt und Berg könnten versiegen", so Beck. Um die "qualitative Beeinträchtigung" des kostbaren Heilwassers zu verhindern seien den Planern zufolge "der Infiltration vorgeschaltete Reinigungsanlagen" erforderlich, deren Bau "über den derzeitigen Stand der Technik" hinaus geht. Ursel Beck erinnert daran, dass die Stadt im Jahr 2006 "völlig überteuert für zehn Millionen Euro" das Mineralbad Berg gekauft habe, um eine Klage des privaten Betreibers gegen Stuttgart 21 zu verhindern. Kosten, die mit dem Projekt zusammenhängen, aber in keiner offiziellen Auflistung vorkommen.

Der Schauspieler Walter Sittler wies in seiner Rede auf die Funktion der rund 300 Parkbäume hin, die das Klima in der in einem Talkessel angelegten Landeshauptstadt gerade noch erträglich machen und massig Feinstaub filtern. Diese bis zu hundert Jahre alten Bäume sollen nun auf dem Altar des "Kannibalen Stuttgart 21, der alles auffrißt" geopfert werden, beklagte Sittler. Die hierfür bereitgestellten Milliarden würden laut Sittler anderswo dringend benötigt. "Der Rest an demokratischen Strukturen" im Land sei ebenfalls bedroht. Der Schauspieler prangerte ein Kartell aus Banken, Firmen, Verkehrswissenschaftlern und Politik an, das an dem Projekt allen Widerständen zum Trotz festhalte. Mut mache, daß das Projekt bereits seit zehn Jahren aufgeschoben werde und geplatzte Ausschreibungen jetzt einen weiteren Verzug nach sich zögen. Wolfgang Schorlau, bekannter Stuttgarter Autor von Politkrimis, hatte einen "Minikrimi zum Fall Stuttgart 21" mitgebracht. Nach seiner Autorenlesung konnte der Krimi zu Gunsten der Kasse des Aktionsbündnisses erworben werden.

Christoph Reinstadler von den "Parkschützern" rief die Stuttgarter Bevölkerung dazu auf, sich aktiv in die Verteidigung des Parks wie der Stadt einzuklinken: "Wir werden dieser Zerstörung von Stuttgart nicht einfach zusehen. Wir stehen zusammen, um gemeinsam dafür einzutreten, daß diese Stadt lebenswert bleibt". Die "Parkschützer" sind eine aus der Kampagnenseite www.parkschuetzer.de des Aktionsbündnisses hervorgegangene Bürgerinitiative. Innerhalb weniger Monate haben sich - bei weiter steigender Tendenz - bereits 16.374 Menschen auf der Kampagnenseite eingetragen und ihre Bereitschaft erklärt, sich aktiv für den Erhalt des Stuttgarter Schloßgartens einzusetzen. Dazu bieten die Parkschützer unter anderem Infoveranstaltungen und Trainings zum gewaltfreien Widerstand an. Reinstadler: "Wir wollen Fortschritt mit Lebensqualität - und keine 15 Jahre Baustellenhölle mitten in der Stadt!"

"Oben bleiben", sang etwas später der Stuttgarter Rapper Borna auf einer im Schloßpark aufgebauten Bühne. Davor standen die Menschen einem guten Teil dicht gedrängt unter den ausladenden Platanen und Eichen, die bei rund 35 Grad mit ihrem Schatten Abkühlung spendeten. Diese stummen Protagonisten des Tages demonstrieren damit eindrucksvoll, welch wichtige Funktion sie für das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt einnehmen: Die Gasaustausch- und Luftfilterleistung einer etwa 100 Jahre alten Buche mit 1200 Quadratmetern Blätterfläche wäre nur durch die Neupflanzung von 2000 Jungbäumen für rund 150 000 Euro auszugleichen, informiert ein an vielen Stellen im Park ausgelegtes Faltblatt. Geplant als Ausgleich für "Stuttgart 21" sind aber lediglich 200, und das weiter außerhalb der Stadt, in zweieinhalb Kilometern Entfernung auf den Gleisflächen am Rosenstein. Dieser natürliche Sicht-, Lärm- und Windschutz bietet Lebensraum für zahlreiche Arten, argumentieren die Parkschützer. Eine ganze Generation von Kindern wüchse ohne Grün in der Stadt heran.

Ein Trio von "Landschaftsgärntern gegen Stuttgart 21" macht mit Kettensägenklängen vor, wie sich die inzwischen offenbar auf einen Zeitpunkt nach der Landtagswahl 2011 verschobene Fällaktion anhören könnte. "An diesen Sound werden wir uns nicht gewöhnen", rufen sie abschließend - und tausende Menschen im Park jubeln bei diesem ausgelassenen Familienfest mit politischem Hintergrund. Das gesamte Protestival zeugte von Entschlossenheit und Kreativität. Das Aktionsbündnis wies darauf hin, daß es kaum je eine Kundgebung in der Landeshauptstadt gab, an der sich so viele Bürgerinnen und Bürger - aus Stuttgart, der Region und dem ganzen Land - beteiligten. Trotz millionenschwerer Werbekampagnen der Projekt-Betreiber mit weiter wechselnden Agenturen würden zunehmend mehr Menschen ihren Protest in die Öffentlichkeit tragen.

Mit "Keep it up", das als "Oben bleiben" ebenso wie "Dranbleiben" übersetzt werden kann, von Funk-Saxophonist und ehemaligem James-Brown-Bandmitglied Sir Waldo Weathers & Band sowie Ex-Freundeskreis-HipHopper Max Herre, dessen "A-N-N-A" ebenfalls zum Gegen-S21-Protestsong wurde, ging das Protestival gegen halb sechs zu Ende. Zur Heimreise traf sich eine Ulmer und Reutlinger Gruppe im Hauptbahnhof. Der ICE hatte diesmal 40 Minuten Verspätung, die Regionalbahn war pünktlich. Mit der langsameren Regionalbahn kamen sie daher eher ans Ziel und außerdem: sie fährt auch bei großer Hitze.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      'stern' veröffentlicht geheime Studie
      zu "Stuttgart 21" / Steilvorlage für GegnerInnen (8.07.10)

      Europäische Nachbarn bauen Eisenbahn aus
      In Deutschland wird das Schienennetz abgebaut (29.04.10)

      Verkehrssicherheit
      Bahn weit vor Konkurrenten (30.03.10)

      'Robin-Wood'-Aktion gegen "Stuttgart 21"
      "Stuttgart verscherzt es sich - Zug um Zug" (2.02.10)

      Investitionen in Schienenverkehr:
      BRD ist ganz hinten in der EU (21.01.10)

      Bahn-Privatisierung abgesetzt
      Weltwirtschaftskrise rettet Deutsche Bahn (4.03.09)

      Aus für Transrapid
      Erfolg für Umwelt und Klima (27.03.08)

      38.000 Unterschriften
      gegen Transrapid München (21.12.07)

      Stuttgart 21
      Unerwartet starke Beteiligung am Bürgerbegehren (14.11.07)

 

neuronales Netzwerk