5.09.2004

Joseph Wirth,
Weimarer Reichskanzler aus Baden

"Immer feste auf den Wirth"

Vor 125 Jahren, am 6.09.1879, wurde Joseph Wirth geboren - der aus Freiburg stammende Reichskanzler der Weimarer Republik wurde erst postum rehabilitiert.

Es war mehr als eine protokollarische Fehlleistung: Das Freiburger Rathaus wollte den 100. Geburtstag von Joseph Wirth mit einem Kranz auf dem Hauptfriedhof abhandeln, erledigen sollte es der Friedhofsdirektor. Doch der rannte in die wartenden Kameras von Franz Alts 'Report'-Team. "Die unterlassene Ehrung des Reichskanzler Joseph Wirth" - so der Titel eines Buches von Gernot Erler und Karl-Otto Sattler - ging vor 25 Jahren durch die Republik.

Joseph Wirth mit Mutter
Joseph Wirth mit seiner Mutter Agathe und seinem Hund in Freiburg
Die Ignoranz des offiziellen Freiburg galt einem seiner berühmtesten Bürger: Dr. Joseph Wirth, geboren in Freiburg, dort Gymnasiallehrer und Stadtverordneter, später Reichstagsabgeordneter, Badischer Finanzminister, Reichs-Finanzminister, schließlich Reichskanzler - Grund genug für eine Ehrenbürgerschaft. Doch der Reichskanzler des Rapallo-Vertrages von 1922 war nach dem Zweiten Weltkrieg als Verfechter einer neutralen Deutschlandpolitik auf Gegenkurs zu Adenauers Westintegration. Aus dem Kalten Krieg ging Wirth als geächtete Unperson hervor.

Es hatte nichts genützt, daß Prälat Ernst Gottlieb Föhr, Seelsorger und früher wie Wirth in der Zentrumspartei aktiv, seinen Freund bei der Beerdigung am 5. Januar 1956 als treuen Katholiken in Schutz nahm: "Joseph Wirth war so wenig Kommunist wie irgendeiner von uns." Die Konservativen schnitten ihn, die Sozialdemokraten konnten mit ihm nichts anfangen. Einzig die Kommunisten, mit denen sich Wirth nicht scheute, zusammenzuarbeiten, hielten ihm die Treue über den Tod hinaus. So war es auch 1979. Der kommunistische Malermeister Hans Kaufmann hatte seinen Genossen eingeschärft, "etwas für den Wirth" zu tun. Kaufmann, wie Wirth vor den Nazis in die Schweiz geflohen, hatte den Zentrumspolitiker noch gekannt. Weil das "Joseph-Wirth- Friedensforum" hauptsächlich aus DKP-Kommunisten und linken Sozialdemokraten bestand, glaubte man im Freiburger Rathaus, dessen Begehren ignorieren zu können, den 100. Geburtstag Wirths angemessen zu würdigen.

Das änderte sich erst, als der christdemokratische Historiker Hugo Ott sich Joseph Wirths annahm. Seine Studien und die Biographie von Ulrike Hörster-Philipps gaben "den ganzen Wirth" preis. Zehn Jahre und ein Oberbürgermeister später kehrte Joseph Wirth postum rehabilitiert in die Reihen des Bürgertums zurück. Freiburg steht seither zum "großen Sohn dieser Stadt, welcher zu seiner Zeit wichtige Weichen zu einem guten und friedlichen Miteinander der Völker in Europa gestellt hat", wie Oberbürgermeister Rolf Böhme 1989 erklärte. Heute ist der zweite - neben Fehrenbach - aus Freiburg stammende Reichskanzler kein Zankapfel mehr. In der "Joseph-Wirth-Stiftung" sind fast alle Fraktionen des Gemeinderates vertreten, eine Gedenktafel an seinem Elternhaus in der Herrenstraße und eine Büste im Rathaus erinnern an Wirth.

Der gläubige Katholik kokettierte gerne, er sei "wie ein Schwarzwälder Schinken: außen schwarz, innen rot". Daß er so umstritten war, hängt mit seiner exponierten Rolle in zwei heiklen historischen Situationen zusammen - der Reparationsfrage nach dem Ersten Weltkrieg und der Ausrichtung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. In beiden Fällen war sich das Bürgertum uneinig. Joseph Wirth, Sohn eines Buchdruckers und Maschinenmeisters, Mathematiklehrer am Vorläufer des Kepler-Gymnasiums, machte in der katholischen Zentrumspartei politische Karriere von der Pike auf. Der glänzende Rhetoriker wurde 1921 nach mehreren Stationen Reichskanzler, als Nachfolger von Constantin Fehrenbach und gegen die Ambitionen des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer.

Die noch junge Weimarer Republik wurde innenpolitisch von reaktionären Feinden und außenpolitisch von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges mit ihren Reparationsforderungen schier erdrückt. Der Realpolitiker Wirth wagte dennoch eine Gratwanderung zwischen dem Ansturm der nationalistischen Rechten und der gemäßigten Linken. Auch die "Weimarer Koalition" - Zentrum, SPD und Deutsche Demokratische Partei (DDP) - wollte die Revision des "Versailler Vertrages". Doch Wirth und der realistischere Teil des bürgerlichen Lagers traten für eine "Erfüllungspolitik" ein, um die Siegermächte zu Verhandlungen über die Reparationslasten zu bewegen. Die Ultranationalen griffen diese Politik an, ihre Geheimarmeen ermordeten ihre Exponenten, zunächst Mathias Erzberger, später Walter Rathenau. Auch Wirth war in Gefahr:
"Haut immer feste auf den Wirth
haut ihn, daß der Schädel klirrt
knallt ab den Walter Rathenau
die gottverdammte Judensau"
- so lautete einer der Mordgesänge der gewalttätigen Freikorps.

Wirth wagte in der aufgewühlten Frühphase der Republik einen Ausbruchsversuch: Am 16. April 1922, kurz vor der Weltwirtschafts- konferenz in Genua, schloß er im italienischen Seebad Rapallo mit der Sowjetunion einen Vertrag, der gegenseitigen Verzicht auf Reparationen und die Bereitschaft zur friedlichen Zusammenarbeit beinhaltete. Es war der erste völkerrechtliche Vertrag Rußlands nach der Oktoberrevolution und er durchbrach die außenpolitische Isolierung Deutschlands. Die Öffnung nach Osten erschloß der deutschen Industrie einen riesigen Markt. England und Frankreich schäumten vor Wut. Das Vertragswerk wurde in der Folge und solange es das sozialistische Lager gab, als Musterbeispiel für die Politik der "friedlichen Koexistenz" von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen gefeiert. Dies war auch der Grund, weshalb ein Teil der Rechten Sturm gegen den "Ausverkauf" nationaler Interessen lief.

Dabei hatte die Übereinkunft zwischen Deutschland und Rußland eine geheime Seite, von der gerade rechte und militaristische Kräfte profitierten. Mit Rapallo wurde die schon früh begonnene Zusammenarbeit der "schwarzen" (weil im Versailler Vertrag verbotenen) Reichswehr und der Roten Armee gestärkt. In der Sowjetunion durften sich deutsche Rüstungsbetriebe ansiedeln, konnten Reichswehrverbände noch bis 1933 neue Waffensysteme ausprobieren - auch Giftgas! Die am Versailler Vertrag vorbei betriebene Rüstungspolitik war Wirth nicht nur bekannt, er rühmte sich, "ein Vater" der Schwarzen Reichswehr gewesen zu sein. Ihm war unwohl dabei, denn er paktierte mit den Kräften, die der von ihm verteidigten Republik ans Leder gingen. Einer von vielen Widersprüchen Wirths, die auch seine Biografen nicht klären können.

Joseph Wirth und Friedrich Ebert
Reichskanzler Joseph Wirth 1922 hinter Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD),
der 1914 die Kriegskredite befürwortet hatte.

Das Zweckbündnis mit rechtsnationalen Kreisen hat deren Stoßtrupps nicht abgehalten, Wirths Weggefährten und Freund Walter Rathenau am 24. Juni 1922 in Berlin auf offener Straße zu ermorden. Vor dem Reichstag am 25. Juni 1922 sprach Joseph Wirth seinen wohl berühmtesten Satz, nach rechts gewandt, wo die ultrarechten Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei saßen: "Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts."

Dem Ansturm der nationalen Welle hielt die Republik nicht stand. Schon nach seiner Kanzlerschaft im Oktober 1922 hatte Wirth, der "Linke" im Zentrum, Amt und Einfluß verloren, auch wenn er in zwei weiteren Kabinetten, zuletzt unter Brüning, Minister war. Gegen Wirths Willen stimmte die Zentrumsfraktion 1933 dem "Ermächtigungsgesetz" zu, das Hitler uneingeschränkte Macht verschaffte. Wirth floh zunächst nach Frankreich, dann in die Schweiz, wo er mit befreundeten Sozialdemokraten wie Otto Braun und Wilhelm Hoegner eine Widerstandsorganisation gründete. Wirth engagierte sich für verfolgte Juden und intervenierte beim Heiligen Stuhl gegen die päpstliche Stillhaltepolitik gegenüber Nazi-Deutschland.

Diese Aktivitäten Wirths sind erst in jüngster Zeit durch Aktenfunde der Wirth-Biografin Hörster-Philipps in Moskauer Archiven bekannt geworden. Lange Zeit gab es unbewiesene Mutmaßungen über Geheimdienstaktivitäten von Wirth. "Nichts, rein gar nichts" sei da dran, betont die Historikerin. Genährt wurden die Gerüchte auch durch die befremdlich anmutenden Bemühungen Wirths, seine "nationale Ehre" gegenüber den Nazis zu verteidigen, die ihm seine Kanzler-Pension entzogen hatten. Wirth lebte vor allem von Zuwendungen eines Gönners, des Bankiers Fritz Mannheimer.

Nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland stand Wirth erneut nicht im bürgerlichen Mainstream, sondern im linken Abseits. Die französischen Besatzungsbehörden ließen Wirth zunächst nicht nach Deutschland reisen. Als er Mitte 1948 endlich kam, war ihm sein 1921 unterlegener Rivale Konrad Adenauer schon zuvorgekommen. Statt des katholischen Zentrums hatte sich die überkonfessionelle CDU gebildet, der Kalte Krieg der früheren Anti-Hitler-Koalition führte zur Spaltung Deutschlands und zu West- und Ostzonen der Führungsmächte. Befürworter der Neutralität wie Gustav Heinemann und Wirth schieden aus der CDU aus oder wurden fern gehalten. Wirths Pläne einer Partei nach Vorbild der "Labour"-Party fanden kaum Resonanz, die Wiederbelebung des Rechts-links-Parteienschemas ließ weder Heinemanns "Gesamtdeutscher Volkspartei" noch Wirths "Bund der Deutschen" Platz, sie endeten als Splitterparteien.

Im Gegensatz zu Heinemann, der sich später der SPD anschloß, blieb der alte Joseph Wirth politisch heimatlos und seine von einem deplaziert wirkenden staatsmännischen Gestus geprägten Reisen 1951/52 in die DDR und nach Moskau 1953 wurden dem "Forellensepp", wie Wirth wegen seiner Leibspeise gehänselt wurde, medial zum Verhängnis. Obwohl er deutlich den realpolitischen Zweck seiner Kontakte mit "drüben" klarstellte und der DDR-Regierung jeweils Listen für die Freilassung politischer Gefangener präsentierte, schoß sich die westdeutsche Presse auf ihn ein. "Handlanger der SED" und "Kommunistensäckel" wurde er gescholten. Auch die Adenauer- Regierung weigerte sich, ihm Reichskanzler- und Ministerpension zu gewähren. Am Ende seiner Tage war der früher kraftstrotzende Mann ein Schatten seiner selbst und hilflos den Anfeindungen ausgesetzt. Rechtsradikale hatten Hammer und Sichel an das Gartentor des Hauses in der Landsknechtstraße 18 geschmiert, in dem Wirth, verarmt und krank, bei seiner Schwägerin untergekommen war. Er starb dort 76-jährig am 3. Januar 1956 an Herzversagen.

 

Heinz Siebold

 

Anmerkungen:

Literatur:
Ulrike Hörster-Philipps: Joseph Wirth 1879-1956
Eine politische Biographie, 1998, (Schöningh) Paderborn, München, Wien, Zürich (ISBN: 3506799878).

Zur Person
Joseph Karl Wirth wurde am 6. September 1879 in der Nußmannstraße 7 in Freiburg geboren. Gestorben ist er am 3. Januar 1956 in Freiburg, begraben auf dem Hauptfriedhof.
1905 Promotion, Uni Freiburg
1908 Gymnasialprofessor am Realgymnasium Freiburg (heute Keplergymnasium)
1912 Stadtverordneter in Freiburg
1913 Abgeordneter des Badischen Landtages
1914 Kriegsdienst als freiwilliger Krankenpfleger
1918-1920 Badischer Finanzminister
1920-1921 Reichsfinanzminister
1921-1922 Reichskanzler
1929-1930 Reichsminister für die besetzten Gebiete
1930-1931 Reichsinnenminister
1933-1948 Exil in der Schweiz
1951/53 Reisen in die DDR und Sowjetunion
1953 Wahlbündnis mit Gustav Heinemanns GVP

 

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