"Immer feste auf den Wirth"
Vor 125 Jahren, am 6.09.1879, wurde Joseph Wirth geboren - der aus Freiburg
stammende Reichskanzler der Weimarer Republik wurde erst postum
rehabilitiert.
Es war mehr als eine protokollarische Fehlleistung: Das Freiburger Rathaus
wollte den 100. Geburtstag von Joseph Wirth mit einem Kranz auf dem
Hauptfriedhof abhandeln, erledigen sollte es der Friedhofsdirektor. Doch der
rannte in die wartenden Kameras von Franz Alts 'Report'-Team. "Die
unterlassene Ehrung des Reichskanzler Joseph Wirth" - so der Titel eines Buches
von Gernot Erler und Karl-Otto Sattler - ging vor 25 Jahren durch
die Republik.
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| Joseph Wirth mit seiner Mutter Agathe und seinem Hund in Freiburg
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Die Ignoranz des offiziellen Freiburg galt einem seiner berühmtesten
Bürger: Dr. Joseph Wirth, geboren in Freiburg, dort Gymnasiallehrer
und Stadtverordneter, später Reichstagsabgeordneter, Badischer
Finanzminister, Reichs-Finanzminister, schließlich Reichskanzler - Grund
genug für eine Ehrenbürgerschaft. Doch der Reichskanzler des
Rapallo-Vertrages von 1922 war nach dem Zweiten Weltkrieg als
Verfechter einer neutralen Deutschlandpolitik auf Gegenkurs zu
Adenauers Westintegration. Aus dem Kalten Krieg ging Wirth als
geächtete Unperson hervor.
Es hatte nichts genützt, daß Prälat Ernst Gottlieb Föhr, Seelsorger
und früher wie Wirth in der Zentrumspartei
aktiv, seinen Freund bei der Beerdigung
am 5. Januar 1956 als treuen Katholiken
in Schutz nahm: "Joseph Wirth war so
wenig Kommunist wie irgendeiner von
uns." Die Konservativen schnitten ihn, die
Sozialdemokraten konnten mit ihm nichts
anfangen. Einzig die Kommunisten, mit
denen sich Wirth nicht scheute,
zusammenzuarbeiten, hielten ihm die Treue
über den Tod hinaus. So war es auch
1979. Der kommunistische Malermeister
Hans Kaufmann hatte seinen Genossen
eingeschärft, "etwas für den Wirth" zu tun.
Kaufmann, wie Wirth vor den Nazis in die
Schweiz geflohen, hatte den Zentrumspolitiker noch gekannt. Weil
das "Joseph-Wirth- Friedensforum" hauptsächlich aus
DKP-Kommunisten und linken Sozialdemokraten bestand, glaubte
man im Freiburger Rathaus, dessen Begehren ignorieren zu können,
den 100. Geburtstag Wirths angemessen zu würdigen.
Das änderte sich erst, als der christdemokratische Historiker Hugo
Ott sich Joseph Wirths annahm. Seine Studien und die Biographie von
Ulrike Hörster-Philipps gaben "den ganzen Wirth" preis. Zehn Jahre
und ein Oberbürgermeister später kehrte Joseph Wirth postum
rehabilitiert in die Reihen des Bürgertums zurück. Freiburg steht
seither zum "großen Sohn dieser Stadt, welcher zu seiner Zeit
wichtige Weichen zu einem guten und friedlichen Miteinander der
Völker in Europa gestellt hat", wie Oberbürgermeister Rolf Böhme
1989 erklärte. Heute ist der zweite - neben Fehrenbach - aus
Freiburg stammende Reichskanzler kein Zankapfel mehr. In der
"Joseph-Wirth-Stiftung" sind fast alle Fraktionen des Gemeinderates
vertreten, eine Gedenktafel an seinem Elternhaus in der
Herrenstraße und eine Büste im Rathaus erinnern an Wirth.
Der gläubige Katholik kokettierte gerne, er sei "wie ein
Schwarzwälder Schinken: außen schwarz, innen rot". Daß er so
umstritten war, hängt mit seiner exponierten Rolle in zwei heiklen
historischen Situationen zusammen - der Reparationsfrage nach dem
Ersten Weltkrieg und der Ausrichtung Deutschlands nach dem
Zweiten Weltkrieg. In beiden Fällen war sich das Bürgertum uneinig.
Joseph Wirth, Sohn eines Buchdruckers und Maschinenmeisters,
Mathematiklehrer am Vorläufer des Kepler-Gymnasiums, machte in
der katholischen Zentrumspartei politische Karriere von der Pike
auf. Der glänzende Rhetoriker wurde 1921 nach mehreren Stationen
Reichskanzler, als Nachfolger von Constantin Fehrenbach und
gegen die Ambitionen des Kölner Oberbürgermeisters Konrad
Adenauer.
Die noch junge Weimarer Republik wurde innenpolitisch von
reaktionären Feinden und außenpolitisch von den Siegermächten des
Ersten Weltkrieges mit ihren Reparationsforderungen schier
erdrückt. Der Realpolitiker Wirth wagte dennoch eine
Gratwanderung zwischen dem Ansturm der nationalistischen
Rechten und der gemäßigten Linken. Auch die "Weimarer Koalition"
- Zentrum, SPD und Deutsche Demokratische Partei (DDP) -
wollte die Revision des "Versailler Vertrages". Doch Wirth und der
realistischere Teil des bürgerlichen Lagers traten für eine
"Erfüllungspolitik" ein, um die Siegermächte zu Verhandlungen über
die Reparationslasten zu bewegen. Die Ultranationalen griffen diese
Politik an, ihre Geheimarmeen ermordeten ihre Exponenten,
zunächst Mathias Erzberger, später Walter Rathenau. Auch Wirth
war in Gefahr:
"Haut immer feste auf den Wirth
haut ihn, daß der Schädel klirrt
knallt ab den Walter Rathenau
die gottverdammte Judensau"
- so lautete einer der Mordgesänge der gewalttätigen Freikorps.
Wirth wagte in der aufgewühlten Frühphase der Republik einen
Ausbruchsversuch: Am 16. April 1922, kurz vor der
Weltwirtschafts- konferenz in Genua, schloß er im italienischen
Seebad Rapallo mit der Sowjetunion einen Vertrag, der
gegenseitigen Verzicht auf Reparationen und die Bereitschaft zur
friedlichen Zusammenarbeit beinhaltete. Es war der erste
völkerrechtliche Vertrag Rußlands nach der Oktoberrevolution und
er durchbrach die außenpolitische Isolierung Deutschlands. Die
Öffnung nach Osten erschloß der deutschen Industrie einen riesigen
Markt. England und Frankreich schäumten vor Wut. Das
Vertragswerk wurde in der Folge und solange es das sozialistische
Lager gab, als Musterbeispiel für die Politik der "friedlichen
Koexistenz" von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen
gefeiert. Dies war auch der Grund, weshalb ein Teil der Rechten
Sturm gegen den "Ausverkauf" nationaler Interessen lief.
Dabei hatte die Übereinkunft zwischen Deutschland und Rußland
eine geheime Seite, von der gerade rechte und militaristische Kräfte
profitierten. Mit Rapallo wurde die schon früh begonnene
Zusammenarbeit der "schwarzen" (weil im Versailler Vertrag
verbotenen) Reichswehr und der Roten Armee gestärkt. In der
Sowjetunion durften sich deutsche Rüstungsbetriebe ansiedeln,
konnten Reichswehrverbände noch bis 1933 neue Waffensysteme
ausprobieren - auch Giftgas! Die am Versailler Vertrag vorbei
betriebene Rüstungspolitik war Wirth nicht nur bekannt, er rühmte
sich, "ein Vater" der Schwarzen Reichswehr gewesen zu sein. Ihm
war unwohl dabei, denn er paktierte mit den Kräften, die der von
ihm verteidigten Republik ans Leder gingen. Einer von vielen
Widersprüchen Wirths, die auch seine Biografen nicht klären
können.
Reichskanzler Joseph Wirth 1922 hinter Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD),
der 1914 die Kriegskredite befürwortet hatte.
Das Zweckbündnis mit rechtsnationalen Kreisen hat deren
Stoßtrupps nicht abgehalten, Wirths Weggefährten und Freund
Walter Rathenau am 24. Juni 1922 in Berlin auf offener Straße zu
ermorden. Vor dem Reichstag am 25. Juni 1922 sprach Joseph
Wirth seinen wohl berühmtesten Satz, nach rechts gewandt, wo die
ultrarechten Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei
saßen: "Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines
Volkes träufelt. Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel:
dieser Feind steht rechts."
Dem Ansturm der nationalen Welle hielt die Republik nicht stand.
Schon nach seiner Kanzlerschaft im Oktober 1922 hatte Wirth, der
"Linke" im Zentrum, Amt und Einfluß verloren, auch wenn er in zwei
weiteren Kabinetten, zuletzt unter Brüning, Minister war. Gegen
Wirths Willen stimmte die Zentrumsfraktion 1933 dem
"Ermächtigungsgesetz" zu, das Hitler uneingeschränkte Macht
verschaffte. Wirth floh zunächst nach Frankreich, dann in die
Schweiz, wo er mit befreundeten Sozialdemokraten wie Otto Braun
und Wilhelm Hoegner eine Widerstandsorganisation gründete. Wirth
engagierte sich für verfolgte Juden und intervenierte beim Heiligen
Stuhl gegen die päpstliche Stillhaltepolitik gegenüber
Nazi-Deutschland.
Diese Aktivitäten Wirths sind erst in jüngster Zeit durch Aktenfunde
der Wirth-Biografin Hörster-Philipps in Moskauer Archiven bekannt
geworden. Lange Zeit gab es unbewiesene Mutmaßungen über
Geheimdienstaktivitäten von Wirth. "Nichts, rein gar nichts" sei da
dran, betont die Historikerin. Genährt wurden die Gerüchte auch
durch die befremdlich anmutenden Bemühungen Wirths, seine
"nationale Ehre" gegenüber den Nazis zu verteidigen, die ihm seine
Kanzler-Pension entzogen hatten. Wirth lebte vor allem von
Zuwendungen eines Gönners, des Bankiers Fritz Mannheimer.
Nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland stand Wirth
erneut nicht im bürgerlichen Mainstream, sondern im linken Abseits.
Die französischen Besatzungsbehörden ließen Wirth zunächst nicht
nach Deutschland reisen. Als er Mitte 1948 endlich kam, war ihm
sein 1921 unterlegener Rivale Konrad Adenauer schon
zuvorgekommen. Statt des katholischen Zentrums hatte sich die
überkonfessionelle CDU gebildet, der Kalte Krieg der früheren
Anti-Hitler-Koalition führte zur Spaltung Deutschlands und zu West-
und Ostzonen der Führungsmächte. Befürworter der Neutralität wie
Gustav Heinemann und Wirth schieden aus der CDU aus oder
wurden fern gehalten. Wirths Pläne einer Partei nach Vorbild der
"Labour"-Party fanden kaum Resonanz, die Wiederbelebung des
Rechts-links-Parteienschemas ließ weder Heinemanns
"Gesamtdeutscher Volkspartei" noch Wirths "Bund der Deutschen"
Platz, sie endeten als Splitterparteien.
Im Gegensatz zu Heinemann, der sich später der SPD anschloß,
blieb der alte Joseph Wirth politisch heimatlos und seine von einem
deplaziert wirkenden staatsmännischen Gestus geprägten Reisen
1951/52 in die DDR und nach Moskau 1953 wurden dem
"Forellensepp", wie Wirth wegen seiner Leibspeise gehänselt wurde,
medial zum Verhängnis. Obwohl er deutlich den realpolitischen
Zweck seiner Kontakte mit "drüben" klarstellte und der
DDR-Regierung jeweils Listen für die Freilassung politischer
Gefangener präsentierte, schoß sich die westdeutsche Presse auf
ihn ein. "Handlanger der SED" und "Kommunistensäckel" wurde er
gescholten. Auch die Adenauer- Regierung weigerte sich, ihm
Reichskanzler- und Ministerpension zu gewähren. Am Ende seiner
Tage war der früher kraftstrotzende Mann ein Schatten seiner selbst
und hilflos den Anfeindungen ausgesetzt. Rechtsradikale hatten
Hammer und Sichel an das Gartentor des Hauses in der
Landsknechtstraße 18 geschmiert, in dem Wirth, verarmt und krank,
bei seiner Schwägerin untergekommen war. Er starb dort 76-jährig
am 3. Januar 1956 an Herzversagen.
Heinz Siebold
Anmerkungen:
Literatur:
Ulrike Hörster-Philipps: Joseph Wirth 1879-1956
Eine politische Biographie, 1998, (Schöningh) Paderborn, München,
Wien, Zürich (ISBN: 3506799878).
Zur Person
Joseph Karl Wirth wurde am 6. September 1879 in der
Nußmannstraße 7 in Freiburg geboren. Gestorben ist er am 3.
Januar 1956 in Freiburg, begraben auf dem Hauptfriedhof.
1905 Promotion, Uni Freiburg
1908 Gymnasialprofessor am Realgymnasium Freiburg (heute
Keplergymnasium)
1912 Stadtverordneter in Freiburg
1913 Abgeordneter des Badischen Landtages
1914 Kriegsdienst als freiwilliger Krankenpfleger
1918-1920 Badischer Finanzminister
1920-1921 Reichsfinanzminister
1921-1922 Reichskanzler
1929-1930 Reichsminister für die besetzten Gebiete
1930-1931 Reichsinnenminister
1933-1948 Exil in der Schweiz
1951/53 Reisen in die DDR und Sowjetunion
1953 Wahlbündnis mit Gustav Heinemanns GVP