Das Bosnien-Bild, das angeblich die Welt täuschte
Eine kleine Zeitschrift erzürnte einen TV-Konzern -
und riskierte die
eigene Existenz
Von Peter Nonnenmacher (London)
Für die kleine britische Polit-Zeitschrift Living Marxism geht es ums
Überleben - für den Fernsehkonzern ITV, den größten kommerziellen
Sender der Insel, ums Renommee sauberer Berichterstattung. Vor dem
High Court in London ringen beide Seiten in diesen Wochen um ein Bild
aus dem Bosnien-Krieg, das Anfang der neunziger Jahre Geschichte
machte - und das jetzt ernste Fragen zur Pressefreiheit in Britannien
aufgerührt hat.
Das Bild, aus einem ITV-Report vom Sommer 1992, ist eines, das um die
Welt ging und Millionen Fernseh-Zuschauer schockierte: Es zeigte den
bosnischen Moslem Fikret Alic hinter mannshohem Stacheldraht im Lager
Trnopolje, mit nacktem Oberkörper und ausgemergelt bis auf die Rippen,
zusammen mit anderen Männern, die durch den Stacheldraht hindurch mit
den Reportern Ian Williams und Penny Marshall sprachen. Die Bilder aus
dem Lager, Teil eines größeren Berichts, der einen Tag nach dem
Reporter-Besuch in Trnopolje von ITV gesendet und von vielen Stationen
rund um die Erde aufgegriffen wurde, führte damals zu unmittelbaren
Reaktionen in den Medien und bei den politischen Führungen der
westlichen Welt.
Dass hier die bosnischen Serben ein Konzentrationslager nach Nazi-Art
unterhielten, drängte sich beispielsweise in Britannien den meisten
Massenblättern spontan auf. "Belsen '92" überschrieb der Daily Mirror
das Bild, das er am nächsten Morgen auf der Titelseite präsentierte.
Endlich sei "der Beweis" geliefert worden für "das Leiden in Bosnien .
. . hinterm Stacheldraht", stimmte die Daily Mail bei.
Politiker von London bis Washington sahen sich nach der Ausstrahlung
der Sendung zu scharfen Statements veranlasst. Später, als der Bericht
mit Preisen überhäuft worden war, erklärte ein Begleiter des
ITV-Teams, der Guardian-Journalist Ed Vulliamy, Fikret Alic "mit
seinen Rippen hinter dem Stacheldraht von Trnopolje" sei "zur
symbolischen Figur des Kriegs" in Bosnien geworden. ITV-Auslandschef
Mike Jeremy pries das Bild im Rückblick als "eins der Schlüssel-Bilder
des Kriegs im früheren Jugoslawien". Etwas verärgert reagierten die
gefeierten Journalisten indes, als im Februar 1997 die Zeitschrift
Living Marxism (LM) etwas an dem Schlüssel-Bild auszusetzen hatte. LM,
ein links-intellektuelles Blatt mit gewissen serbischen Sympathien,
druckte die Übersetzung einer kritischen Analyse des deutschen
Journalisten und Kriegsgerichts-Zeugen Thomas Deichmann nach, die kurz
zuvor in der Frankfurter Zeitschrift Novo veröffentlicht worden war,
und zwar unter dem Titel "Es war dieses Bild, das die Welt in
Alarmbereitschaft versetzte".
In seiner - nüchtern und ausführlich argumentierten - Analyse warf
Deichmann den ITV-Reportern vor, durch Kamera-Perspektive und Auswahl
ihres Bildmaterials die Fakten von Trnopolje verfälscht, das Bild des
Lagers verzerrt zu haben. Unter Berufung auf Augenzeugen behauptete
Deichmann, das Camp sei kein Gefangenen-Lager gewesen, sondern ein
Auffang-Lager für Flüchtlinge, das die Betreffenden jederzeit hätten
verlassen können. Ein hoher Stacheldraht, wie im Film gezeigt, habe
nur ein kleines Gelände eingeschlossen, in dem sich eine Trafo-Station
und ein Lager-Laden befanden.
Um des Effekts willen, meinte Deichmann, hätten sich die ITV-Reporter
auf dieses eingezäunte Gelände begeben und durch den Stacheldraht die
angeblichen Gefangenen gefilmt (die also in Wirklichkeit außerhalb des
Zauns gestanden hätten). Filmmaterial, das die Fiktion hätte enthüllen
können, sei bei der gesendeten Fassung unterschlagen worden. Deichmann
legte auch nahe, warum seiner Ansicht nach die ITV-Leute sich eines
solchen Tricks bedienten: Das Camp Trnopolje war das letzte, das sie
auf ihrer Bosnien-Tour besuchten, und der Druck der Redaktion daheim,
nach Tagen wild kursierender KZ-Gerüchte, war beträchtlich.
Sich auf das Bild des ausgemergelten Fikret Alic - umgeben von
überwiegend gut genährten und teils lachenden Männern - konzentriert
und es zu einem "Belsen-Bild" stilisiert zu haben, hätte in die
aktuellen Bedürfnisse des Mediums und der hohen Politik gepasst. Kein
Wunder, dass der Fernsehsender auf den Vorwurf allergisch reagierte
und von "größtem Schaden" für die Organisation sprach: Mehrfach in den
letzten Jahren musste ITV schon eingestehen, dass Reporter Geschichten
erfunden und die britische Öffentlichkeit irregeführt hatten.
Diesmal will der Sender seine Glaubwürdigkeit vor Gericht sicher
gestellt wissen. Sollte ITV das nicht gelingen, würde die
Vertrauenskrise in London zweifellos hohe Wellen schlagen. Gewinnt ITV
aber gegen Living Marxism, blickt die Zeitschrift in den Abgrund
finanziellen Ruins: Schon haben Journalisten und Schriftsteller auf
der Insel eine Kampagne ins Leben gerufen, die eine solche
"Beeinträchtigung der Pressefreiheit" verhindern soll und, unabhängig
von der Faktenlage ums Bosnien-Bild, dafür wirbt, die
Verleumdungs-Gesetzgebung im Vereinigten Königreich zugunsten
kleinerer Publikationen gründlich zu reformieren.
Kleine Anmerkung von Klaus Schramm:
Peter Nonnenmacher ist mir als langjähriger England-Korrespondent der Badischen Zeitung bekannt und so stellte ich verwundert fest, daß dieser Artikel am 9.03.2000 zwar in der Frankfurter Rundschau, aber nicht in der BZ veröffentlicht war. Ich schrieb an die Redaktion der BZ und fragte (durchaus in freundlichem Ton) nach, warum der Artikel nicht erschienen sei. Ich erhielt zwar keine Antwort - stattdessen erschien der Artikel
4 Tage später in der BZ: unter 'Medien' auf Seite 39...
Noch etwas: In diesem Artikel ist fälschlich von ITV statt ITN die Rede - vielleicht war das ein kleiner juristischer Kniff, um nicht ebenfalls von ITN vor Gericht gezerrt zu werden ?