Frankfurter Rundschau, 09.03.2000

 

Das Bosnien-Bild, das angeblich die Welt täuschte

Eine kleine Zeitschrift erzürnte einen TV-Konzern -
und riskierte die eigene Existenz

 

Von Peter Nonnenmacher (London)

Für die kleine britische Polit-Zeitschrift Living Marxism geht es ums Überleben - für den Fernsehkonzern ITV, den größten kommerziellen Sender der Insel, ums Renommee sauberer Berichterstattung. Vor dem High Court in London ringen beide Seiten in diesen Wochen um ein Bild aus dem Bosnien-Krieg, das Anfang der neunziger Jahre Geschichte machte - und das jetzt ernste Fragen zur Pressefreiheit in Britannien aufgerührt hat.

Das Bild, aus einem ITV-Report vom Sommer 1992, ist eines, das um die Welt ging und Millionen Fernseh-Zuschauer schockierte: Es zeigte den bosnischen Moslem Fikret Alic hinter mannshohem Stacheldraht im Lager Trnopolje, mit nacktem Oberkörper und ausgemergelt bis auf die Rippen, zusammen mit anderen Männern, die durch den Stacheldraht hindurch mit den Reportern Ian Williams und Penny Marshall sprachen. Die Bilder aus dem Lager, Teil eines größeren Berichts, der einen Tag nach dem Reporter-Besuch in Trnopolje von ITV gesendet und von vielen Stationen rund um die Erde aufgegriffen wurde, führte damals zu unmittelbaren Reaktionen in den Medien und bei den politischen Führungen der westlichen Welt.

Dass hier die bosnischen Serben ein Konzentrationslager nach Nazi-Art unterhielten, drängte sich beispielsweise in Britannien den meisten Massenblättern spontan auf. "Belsen '92" überschrieb der Daily Mirror das Bild, das er am nächsten Morgen auf der Titelseite präsentierte. Endlich sei "der Beweis" geliefert worden für "das Leiden in Bosnien . . . hinterm Stacheldraht", stimmte die Daily Mail bei.

Politiker von London bis Washington sahen sich nach der Ausstrahlung der Sendung zu scharfen Statements veranlasst. Später, als der Bericht mit Preisen überhäuft worden war, erklärte ein Begleiter des ITV-Teams, der Guardian-Journalist Ed Vulliamy, Fikret Alic "mit seinen Rippen hinter dem Stacheldraht von Trnopolje" sei "zur symbolischen Figur des Kriegs" in Bosnien geworden. ITV-Auslandschef Mike Jeremy pries das Bild im Rückblick als "eins der Schlüssel-Bilder des Kriegs im früheren Jugoslawien". Etwas verärgert reagierten die gefeierten Journalisten indes, als im Februar 1997 die Zeitschrift Living Marxism (LM) etwas an dem Schlüssel-Bild auszusetzen hatte. LM, ein links-intellektuelles Blatt mit gewissen serbischen Sympathien, druckte die Übersetzung einer kritischen Analyse des deutschen Journalisten und Kriegsgerichts-Zeugen Thomas Deichmann nach, die kurz zuvor in der Frankfurter Zeitschrift Novo veröffentlicht worden war, und zwar unter dem Titel "Es war dieses Bild, das die Welt in Alarmbereitschaft versetzte".

In seiner - nüchtern und ausführlich argumentierten - Analyse warf Deichmann den ITV-Reportern vor, durch Kamera-Perspektive und Auswahl ihres Bildmaterials die Fakten von Trnopolje verfälscht, das Bild des Lagers verzerrt zu haben. Unter Berufung auf Augenzeugen behauptete Deichmann, das Camp sei kein Gefangenen-Lager gewesen, sondern ein Auffang-Lager für Flüchtlinge, das die Betreffenden jederzeit hätten verlassen können. Ein hoher Stacheldraht, wie im Film gezeigt, habe nur ein kleines Gelände eingeschlossen, in dem sich eine Trafo-Station und ein Lager-Laden befanden.

Um des Effekts willen, meinte Deichmann, hätten sich die ITV-Reporter auf dieses eingezäunte Gelände begeben und durch den Stacheldraht die angeblichen Gefangenen gefilmt (die also in Wirklichkeit außerhalb des Zauns gestanden hätten). Filmmaterial, das die Fiktion hätte enthüllen können, sei bei der gesendeten Fassung unterschlagen worden. Deichmann legte auch nahe, warum seiner Ansicht nach die ITV-Leute sich eines solchen Tricks bedienten: Das Camp Trnopolje war das letzte, das sie auf ihrer Bosnien-Tour besuchten, und der Druck der Redaktion daheim, nach Tagen wild kursierender KZ-Gerüchte, war beträchtlich.

Sich auf das Bild des ausgemergelten Fikret Alic - umgeben von überwiegend gut genährten und teils lachenden Männern - konzentriert und es zu einem "Belsen-Bild" stilisiert zu haben, hätte in die aktuellen Bedürfnisse des Mediums und der hohen Politik gepasst. Kein Wunder, dass der Fernsehsender auf den Vorwurf allergisch reagierte und von "größtem Schaden" für die Organisation sprach: Mehrfach in den letzten Jahren musste ITV schon eingestehen, dass Reporter Geschichten erfunden und die britische Öffentlichkeit irregeführt hatten.

Diesmal will der Sender seine Glaubwürdigkeit vor Gericht sicher gestellt wissen. Sollte ITV das nicht gelingen, würde die Vertrauenskrise in London zweifellos hohe Wellen schlagen. Gewinnt ITV aber gegen Living Marxism, blickt die Zeitschrift in den Abgrund finanziellen Ruins: Schon haben Journalisten und Schriftsteller auf der Insel eine Kampagne ins Leben gerufen, die eine solche "Beeinträchtigung der Pressefreiheit" verhindern soll und, unabhängig von der Faktenlage ums Bosnien-Bild, dafür wirbt, die Verleumdungs-Gesetzgebung im Vereinigten Königreich zugunsten kleinerer Publikationen gründlich zu reformieren.

Kleine Anmerkung von Klaus Schramm:

Peter Nonnenmacher ist mir als langjähriger England-Korrespondent der Badischen Zeitung bekannt und so stellte ich verwundert fest, daß dieser Artikel am 9.03.2000 zwar in der Frankfurter Rundschau, aber nicht in der BZ veröffentlicht war. Ich schrieb an die Redaktion der BZ und fragte (durchaus in freundlichem Ton) nach, warum der Artikel nicht erschienen sei. Ich erhielt zwar keine Antwort - stattdessen erschien der Artikel
4 Tage später in der BZ: unter 'Medien' auf Seite 39...
Noch etwas: In diesem Artikel ist fälschlich von ITV statt ITN die Rede - vielleicht war das ein kleiner juristischer Kniff, um nicht ebenfalls von ITN vor Gericht gezerrt zu werden ?

 

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