London: Millionenstrafe
für kritische Berichterstattung
Das linke Monatsmagazin Living Marxism (LM) ist finanziell ruiniert, nachdem ein britisches Gericht am Dienstag, 14.03.2000, nach rund zweiwöchiger Verhandlung das Urteil in einem aufsehenerregenden Verleumdungsprozeß fällte. Umgerechnet eine Million DM Strafe müßte die Zeitschrift an den klagenden Nachrichtensender ITN (Independent Television News) und zwei Journalisten zahlen.
Anlaß der ITN-Klage war die Veröffentlichung eines Artikels von Thomas Deichmann im Februar 1997 in LM. Deichmann hatte darin gezeigt, daß Teile der ITN- Berichterstattung über das bosnisch-serbische Lager Trnopolje vom Sommer 1992 irreführend waren. Demnach habe es sich bei Trnopolje um ein Flüchtlings- und Transitlager gehandelt, nicht aber um ein Konzentrationslager, wie es die berühmten ITN-Aufnahmen von bosnischen Moslems hinter Stacheldraht suggerierten. Deichmann sprach von einer Täuschung. Obwohl seine Recherche bis dato jeder Überprüfung standhielt und sich selbst das Gericht im Urteil für dessen inhaltliche Richtigkeit aussprach, wurde LM basierend auf dem repressiven britischen Verleumdungsrecht zur ruinösen Schadensersatzzahlung verurteilt.
»Es ist eine Schande«, wertete Deichmann am Mittwoch das Urteil gegenüber 'junge Welt'. Mick Humes, LM- Chefredakteur, erklärte, daß die Zukunft des Magazins ungewiß sei. Dennoch werde man den Kampf für »Meinungsfreiheit und journalistische Standards« weiterführen.
Wahrheit gesagt und doch verurteilt?
jW sprach mit dem Journalisten Thomas Deichmann:
F: Konzentrationslager ähnlich denen der Nazis oder Flüchtlingszentrum
- Ende Februar begann in London Verleumdungsprozeß des großen Fernsehsenders ITN gegen das kleine linke Magazin Living Marxism (LM). Anlaß war die Veröffentlichung eines Artikels im Jahr 1997, in dem Sie aufgezeigt haben, daß berühmte ITN-Aufnahmen von 1992 aus einem Lager in Bosnien irreführend waren. Am Dienstag entschied das Gericht zugunsten von ITN. Heißt das, Sie haben doch die Unwahrheit geschrieben?
Nein. Während des Prozesses wurde eigentlich das genaue Gegenteil bestätigt: Mein Artikel ist korrekt. Es wurde während der Beweisführung in dem Verfahren eindeutig festgestellt und auch von Richter Morland im Summary bestätigt, daß es - wie in meinem Artikel beschrieben - einen Stacheldraht nur um das kleine Gelände gab, das vorher ein Bauhof war, daß die Journalisten auf diesem kleinen Gelände standen und herausgefilmt haben. Das wurde einwandfrei festgestellt.
Interessant beim Urteil ist auch, daß die Klage wegen »böswilliger Verleumdung« fallengelassen wurde. Aufgrund dieser Klage wurden LM und ich in den letzten Jahre immer wieder denunziert, wir wären proserbisch. Noch vor drei Wochen hat mich ein Guardian-Reporter
angerufen und mich gefragt, ob es wahr wäre, daß ich mit einer Serbin verheiratet bin. Diese Klage wurde fallengelassen, weil es dafür überhaupt keine Anhaltspunkte gab.
Das Problem mit dem libel-law, dem Verleumdungsgesetz in England, ist, daß LM hätte beweisen müssen, daß die Reporter das damals absichtlich gemacht haben. Nur dann hätten sie den Prozeß gewonnen. Das heißt, sie sollten etwas beweisen, was nicht beweisbar ist. Daher ging es bei diesem Prozeß um eine einzige Frage: Kann LM während des Prozesses beweisen, daß die Reporter damals dieses »fehlleitende« Bild absichtlich in Umlauf gebracht haben. Doch wie soll man diese »Absichtlichkeit« beweisen?
F: Trotz des Richterspruchs wird doch aber die Kernaussage Ihrer
Recherchen, daß es sich in Trnopolje nicht um ein KZ, sondern ein Flüchtlings- und Transitlager handelte, nun noch stärker in Zweifel
gezogen werden. Daß es ein kompliziertes Presserecht in Großbritannien ist, das zu der LM-Verurteilung führte, dürfte eher in den Hintergrund treten.
ITN macht seit Dienstag Pressearbeit und versucht genau diesen Aspekt zu vertuschen: daß mein Artikel sachlich korrekt ist. Sie versuchen es so darzustellen, als hätten sie einen Riesensieg errungen und beweisen können, daß mein Artikel falsch ist.
In meinem Artikel geht es um ein Medienthema. Ich frage, ob es korrekt ist, wenn Journalisten, selbst eingezäunt von einem Stacheldraht, Bilder in die Welt setzen, die von der ganzen Welt als Beweis für Konzentrationslager in Bosnien interpretiert werden. Das habe ich in Frage gestellt. Ich habe sehr sachlich und detailliert aufgezeigt, wie die Bilder zustande gekommen sind und bin zu dem Schluß gekommen, das ist ein falsches Bild - weil die Situation im Lager eben ganz anders war. Trnopolje war kein Konzentrationslager. Die ITN- Reporter haben das zwar nie gesagt, aber Bilder erzählen ihre eigene Geschichte.
F: Was haben die Journalisten Penny Marshall und Ian Williams, die neben ITN gegen LM klagten, zu Ihren Vorwürfen gesagt?
Penny Marshall konnte sich nicht daran erinnern, ob sie auf einem mit Stacheldrahtzaun umgebenen Grundstück stand. Sie konnte sich zwar daran erinnern - das ist ja auch auf den ITN-Bändern zu sehen -, daß sie das Gelände vom Süden her durch eine Lücke im Stacheldrahtzaun betreten hat. Aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob rings um sie herum ein Stacheldraht war und auch nicht, wie sie rausgekommen ist, wie sie das Gelände wieder verlassen hat. Erschwerend für die Beweisführung von LM war, daß ausgerechnet das unbearbeitete Filmmaterial von Penny Marshalls Team, das sie auf diesem Grundstück zeigt, im ITN-Archiv verlorengegangen ist und während der Verhandlung nicht gezeigt werden konnte.
F: Welche Konsequenzen hat das Urteil für LM?
Es ist ein harter Schlag für die Zeitung. Das Urteil bestätigt wieder einm`l den repressiven Charakter des britischen Verleumdungsgesetzes. Es ist eine Schande, daß sich Reporter und Medienagenturen, in dem Fall ITN, dieser repressiven Gesetze bedienen können, um eine wichtige Diskussion zu unterdrücken. ITN wurden 75 000 Pfund Schadensersatz, den beiden Journalisten Penny Marshall und Ian Williams jeweils 150 000 Pfund zugesprochen. Das ist eine gute Million DM. Das bedeutet für den Verlag, den Herausgeber, den Chefredakteur sowie die Verlegerin praktisch den Bankrott.
F: Gab es bisher schon Reaktionen auf das Urteil?
Es gibt bislang eine sehr gemischte Berichterstattung. Eigentlich aber insgesamt zugunsten von LM. Viele Journalisten, die die letzten zwei Wochen der Verhandlung beiwohnten, sehen, daß mein Artikel im Prinzip korrekt ist, aber dennoch LM verloren hat. Den meisten, wenn nicht allen ist klar, daß das Urteil ein Schlag ins Gesicht eines jeden Journalisten ist. Mit der Klage und dem Urteil wurde ein Pfad betreten, der sehr, sehr nachdenklich stimmt. Innerhalb der Medienwelt wurde ein Exempel statuiert: Diejenigen, die das entsprechende Kaliber und die Finanzen haben, können, wie im Fall ITN, Nachrichten, Meinungen oder Meldungen, die ihnen nicht in den Kram passen, einfach zensieren. Das ist schon einigen Leuten aufgestoßen und auch bewußt. Ich hoffe, daß es die Bemühungen stärkt, dieses libel-law entweder abzuschaffen oder zu reformieren.
Interview: Rüdiger Göbel
siehe auch:
Das Bosnien-Bild, das angeblich die Welt täuschte
http://www.egroups.com/group/infopool/1289.html
"Es wird nie soviel gelogen wie vor der Wahl
während des Krieges und nach der Jagd" (Bismarck)