Im Verlauf des vergangenen und verregneten Sommers - während einer Zeit also, die man auch die "Saure-Gurken-Zeit" nennt und die, was den Nachrichtenmarkt betrifft, gerne von den Hinterbänklern der Politik mit Horrormeldungen gefüttert wird - stand diesmal ein wirkliches Thema im Mittelpunkt und erregte die Öffentlichkeit. Als habe es ihn vorher nicht gegeben, wurde plötzlich in Deutschland der Rechts- radikalismus als Gefahr entdeckt; eine Reihe brutaler Gewalttaten - es gab Tote - trug dazu bei. Da etliche der jugendlichen Schläger im Osten der Bundesrepublik leben und dort tätig werden, geriet der zeitgleiche, aber immer noch unaufgeklärte Mordanschlag von Düsseldorf in den Hintergrund, und da wir in Deutschland dazu neigen, trotz Wegfall der Mauer, uns als Ost- und Westdeutsche zu definieren, sollen es wieder einmal die Ostdeutschen gewesen sein, die den Nährboden bereitet haben.
Angekränkelt durch ihr kommunistisches Erbe, haben sie als besonders anfällig zu gelten, als gäbe es im Westen nicht seit Jahrzehnten dort angestammte Brandstifter und - wie es das rechtsextreme Rollenspiel fordert - entsprechend gesittete Biedermänner. So kam denn auch aus Bayern recht forsch der Ruf nach dem Verbot der NPD. Nur zögernd meldeten sich einige Gegenstimmen: Mit einem Verbot alleine sei dieses Problem nicht zu bewältigen. Schnell waren die leicht erkennbaren Skinheads als Übeltäter ausgemacht. Doch zeigte sich bald, daß die so treffsicher anmutende Benennung von offenkundigen Rassisten und Totschlägern nur die Oberfläche der gewaltsamen Vorgänge kratzt; es fehlte und fehlt der Mut, die Biedermänner als regierungsverantwortliche Mittäter beim Namen zu nennen.
Wie in anderen europäischen Ländern, so auch in Deutschland: der Fisch beginnt vom Kopf her zu stinken. Dennoch wurde vergessen oder verdrängt, daß es der bayrische Ministerpräsident Stoiber gewesen ist, der vor Jahren, zu Beginn der Asyldebatte, mit demagogischem Tremolo vor einer "Durchrassung des deutschen Volkes" gewarnt hat. Und vor bald einem Jahr hörten wir ebenfalls Herrn Stoiber, der die Österreichische Volkspartei ermuntert hat, mit der sich liberal nennenden Haider-Partei eine Koalition einzugehen. Eigentlich sollte uns noch in Erinnerung sein, mit welch rassistischen Nebentönen anlässlich der Wahlen in Hessen der jetzige Ministerpräsident Roland Koch die längst überfällige Einbürgerung von Ausländern, die seit langer Zeit in Deutschland leben, zu hintertreiben versucht hat. In Nordrhein-Westfalen ging zwar die Kampagne "Kinder statt Inder", was das dortige Landtagswahlergebnis betrifft, daneben, aber auch sie war ein Beweis dafür, wie verantwortungslos Politiker, die nach dem Verbot der NPD verlangen, punktuell die rassistische Politik genau dieser Partei betreiben.
Ich könnte noch weitere Beispiele anführen,
doch will ich mich darauf beschränken,
die Demontage des Asylparagraphen
in der Verfassung der Bundesrepublik
und die Folgen dieser auch von
der SPD mitgetragenen Entscheidung als
einen der Gründe zu nennen, die zum
Anwachsen des Rechts- radikalismus und
zum Anschwellen der Gewalttätigkeiten
geführt haben. Seitdem ist der inhumane
Umgang mit Asylsuchenden zur
rechtsstaatlichen Praxis geworden.
Mehr noch, in ihrer Alltäglichkeit erregen
selbst skandalöse Vorfälle kaum
noch die Öffentlichkeit. Allenfalls sind
es kleine Gruppen, die Anstoß nehmen
und zu helfen versuchen, indem sie Kirchenasyl
gewähren, vergeblich gegen
die brutale Trennung von asylsuchenden
Familien protestieren oder als Schulklassen
einen kurdischen Mitschüler mit
Protestbriefen vor dem angekündigten
Zwang der Ausweisung schützen wollen.
Es ist, als habe man sich damit abgefunden,
daß in Deutschland - grob geschätzt
- viertausend Menschen hinter
Schloß und Riegel in Abschiebehaft gehalten
werden, als seien sie Kriminelle.
Gelegentlich erregt ein Selbstmord auf
dem Frankfurter Abschiebeflughafen
ein, zwei Tage lang die Gemüter, dann
herrscht wieder Ruhe im Rechtsstaat.
Man beruft sich auf das Schengener
Abkommen, weist auf die Praxis anderer
Länder hin, will bestätigt haben, daß es
in Deutschland relativ liberal zugehe,
und unterscheidet neuerdings zwischen
Asylsuchenden, die der deutschen Wirtschaft
nützlich werden können, und solchen,
die dem Volk, oder trefflicher gesagt,
dem Steuerzahler zur Last fallen.
"Selektieren" heißt dieses aus von Verbrechen
belasteter Vergangenheit herrührende
System der Auslese.
So geht es in Deutschland zu. Sind die
Zustände in unseren Nachbarländern
besser? Ich will nicht vergleichen und
Noten verteilen. Dennoch ist insgesamt
zu sagen, daß sich die europäische Union
inklusive zukünftiger Beitrittsländer
mehr und mehr als Festung begreift. Europa
will sich dicht machen, um dem
Eindringen der Elenden, die aus Afrika,
Asien und Rußland kommen, kommen
wollen oder bereits unterwegs sind, widerstehen
zu können. Das ist nicht einfach.
Die langen Meeresküsten Spaniens
und Italiens, die rigorosen Schleuserbanden,
die Durchlässigkeit der osteuropäischen
Grenzen, all das spricht gegen
den Erfolg der Festungsbauer. Noch
behilft man sich mit der Abschiebepraxis.
Noch glaubt man mit - wenn auch
zögerlichem und unzureichendem
Schuldenerlaß - den armen Ländern
genügend Hilfe zu gewähren. Doch innerhalb
Europas macht sich Festungsmentalität
breit.
Immer neue Gesetze werden erlassen,
die die demokratischen Spielräume
verengen. Dem Rechtsradikalismus, den
oft genug die regierungsamtliche Politik
auf die brutalst möglichste Weise in die
Tat umsetzt, will man, wie gesagt, mit
einem Parteiverbot der NPD beikommen.
Das Denken verengt sich. Ängste
gehen um, die sich aus latenter und oft
genug mit politischem Kalkül ermunterter
Fremdenfeindlichkeit speisen. Da es
aber nicht gelingt, Europas Grenzen
nach außen total abzusichern, richtet
sich der einmal entfesselte Sicherheitswahn
gesamteuropäisch auch gegen
Minderheiten, die seit Jahrhunderten
Mitbewohner unseres Kontinents sind.
Von ihnen soll hier die Rede sein. Sie
stehen ständig unter Verdacht. Sie sind
allerorts nur geduldet, ihre Existenz ist
von starren Vorurteilen beschwert. Man
hat sie diskriminiert, verfolgt und während
zwölf Jahren, als nach deutschen
Rassegesetzen Recht gesprochen wurde,
deportiert und in Konzentrationslagern
ermordet. Sie werden, wenn Schuld eingestanden
wird, vergessen oder allenfalls
beiläufig genannt. Ich spreche von
Sinti und Roma.
Die grob geschätzt zwanzig Millionen
Angehörigen dieses Volkes bilden die
größte und dennoch nicht ausreichend
anerkannte Minderheit Europas. Sie
sind wie ohne Stimme. Das heißt: Sie
sind da, doch dort, wo gesellschaftspolitische
Entscheidungen getroffen werden,
werden sie nicht wahrgenommen.
Wenn von ihrer Kultur die Rede ist, fehlt
es nicht an schwärmerischen Hinweisen
auf die Zigeunermusik und deren Einflüsse
auf spanische, ungarische und
deutsche Komponisten. Man tut einerseits
so, als bestehe das Volk der Roma
aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber andererseits
nicht bereit, über Proklamationen hinaus dieser so zahlreichen
Minderheit zu einem demokratischen
Mitspracherecht zu verhelfen.
Ich muß mich korrigieren: In Ansätzen
gibt es diese Mitsprache. In der jungen
und bisher von den blutigen Wirren
des Balkans verschonten Republik Mazedonien
sind Abgeordnete aus vier Roma-Parteien im Parlament vertreten. In
einigen Stadtbezirken der Hauptstadt ist
sogar Romanes, die Sprache der Roma,
Amtssprache. Doch in Tschechien, wo
selbst unter kommunistischer Herrschaft
dem Parlament elf Abgeordnete
der Roma-Minderheit angehörten, ist es
seit der politischen Wende mit dieser
Mitsprache vorbei.
Als kürzlich in Prag ein Kongreß der
Internationalen Romani Union stattfand
und sich vierhundert Vertreter der weit
zerstreuten Minderheit versammelt hatten,
wurden all die europaweit zu belegenden
Ungerechtigkeiten laut, die seit
Jahrhunderten dem Volk der Roma zugefügt
werden; Diskriminierung, Ausgrenzung,
Vertreibung, Verfolgung, Totschlag.
So sind zur Zeit von den 280.000
Roma- Angehörigen
im Kosovo nur noch acht- bis zehntausend
geblieben, die, in Ghettos gepfercht,
zu überleben versuchen; der
Großteil hat, verfolgt vom Haß und den
Gewalttätigkeiten der Serben und Albaner,
die Flucht ergreifen müssen. Die
Kfor-Soldaten waren und sind nicht in
der Lage, sie vor dem doppelten Haß zu
schützen, sei es, weil sie überfordert
sind, sei es, weil wieder einmal den Angehörigen
des Roma-Volkes Schutz verweigert
wird. Und dennoch wurde auf
dem Kongreß in Prag kühn und aus verletzten
Selbstbewußtsein von der Nation
der Roma gesprochen. Ein Beschluß
wurde gefaßt, nach dem in Brüssel ein
Büro der internationalen Organisation
eingerichtet werden soll. Denn auch
dort sind die Roma ohne Stimme.
Doch das ist und kann nicht genug
sein. Eine so große Minderheit, die bei
uns in geringerer Zahl, doch in Spanien
und Portugal, in Ungarn, Tschechien,
der Slowakei, Rumänien und Bulgarien
überaus zahlreich ist, verlangt nach einem
demokratischen Mitspracherecht.
Wo anders sollte ein solches Recht verwurzelt
sein als hier in Straßburg, im Europäischen
Parlament. Es ist nicht damit
getan, daß dann und wann so feierliche
wie gutwillige Resolutionen verabschiedet
werden, die dem Volk der Roma ihre
ohnehin unübersehbare Existenz bestätigen.
Vielmehr ist es an der Zeit, den
hochgesteckten Ansprüchen der immer
größer werdenden Europäischen Union
gerecht zu werden.
Europa muß mehr sein als ein erweiterter
Markt und eine auf Wirtschaftsinteressen
ausgerichtete Bürokratie. Europa
hat eine gemeinsame, wenn auch
widerspruchsvolle und allzu oft in Krieg
und Gewalt umschlagende Geschichte;
seit dem 15. Jahrhundert sind die Gitanes,
Gypsies, Zigeuner dieser Geschichte
zugehörig, oft genug als Leidtragende.
Europa in seiner Vielgestalt hat eine sich
wechselseitig inspirierende Kultur; wer
wollte leugnen, daß insbesondere die
Musik von der Musikalität der Roma beeinflußt
worden ist. Und Europa hat eine
gemeinsame Verantwortung.
Nach einem Jahrhundert, in dem totalitäre
Ideologien und Rassenwahn,
Weltkriege und Völkermorde, blindwütige
Zerstörung und Massenvertreibungen
unseren Kontinent wiederholt an
den Abgrund gebracht haben, sich aber
schließlich doch ein demokratisches
Selbstverständnis erprobt und endlich
auch eingebürgert hat, sollte es möglich
sein, der größten Minderheit in Europa
im Straßburger Parlament Sitz und
Stimme zu geben.
Schon bei der nächsten Europawahl
könnten die Vertreter der Roma mit einer
gemeinsamen Liste Mandate anstreben.
Ich weiß, der Weg bis zu einem
demokratischen Wahlgang ist mit
Schwierigkeiten besonderer Art gepflastert.
Nicht nur die eingefleischten Vorurteile
gegenüber Zigeunern werden gegen
einen solchen Entschluß wirksam
werden, auch wird es nicht leicht sein,
die Angehörigen des Roma-Volkes, unter
ihnen viele Staatenlose, dazu zu bewegen,
sich für eine Wahl registrieren zu
lassen. Allein dieses Wort ruft bei ihnen
Erinnerungen wach an hunderttausende
Familienangehörige, die registriert und
mit Hilfe genau geführter Listen verhaftet,
deportiert, in deutschen Konzentrationslagern
ermordet wurden. Also ist
die Scheu vor einer Registrierung selbst
dann, wenn sie für eine demokratische
Wahl Voraussetzung ist, verständlich
und muß doch überwunden werden.
Hinzu kommt, daß Romanes, die
Sprache des Roma-Volkes, nur in Ansätzen
verschriftlicht ist. Zwar wird sie in
allen europäischen Ländern neben der
Landessprache von den Roma und Sinti
in jeweiligem Dialekt gesprochen, aber
diese innere Verständigung dringt nicht
nach draußen. Sie kapselt ab. Sie bot und
bietet Schutz. Sie ist die Gemeinsprache
der Diskriminierten und Verfolgten.
Doch auch diese Widerstände müssen
nach und nach überwunden werden.
Auf der Prager Tagung der Internationalen
Romani Union wurden solche Forderungen
laut. Es könnte, zum Beispiel,
Aufgabe der europäischen Behörden
und der Europäischen Investitionsbank
sein, mit einem langfristigen Programm
die Sprachentwicklung des Romanes zur
Unterrichtssprache zu fördern. Nur so
wird sich den Kindern der Roma und
Sinti der Weg zu weiterführenden Schulen
und in die Universitäten öffnen lassen,
nur so können sie in ausreichender
Zahl zu Sprechern ihres Volkes werden.
Es mag Sie ein wenig verwundern,
daß ich hier mit einem Vorschlag aufwarte,
dem schier unüberwindliche Widerstände
garantiert sind. Zudem komme
ich aus einem Land, dessen Mißstände
und Skandale zwar zum Himmel
stinken, doch außer Naserümpfen bisher
wenig zur Folge gehabt haben. Schließlich
sind vor zwei Jahren, anlässlich eines
ganz normalen Regierungswechsels,
im Amt des Bundeskanzlers zwei Drittel
aller Akten gelöscht, vernichtet,
geschreddert worden; schließlich weigert
sich in Deutschland, einem Land,
das noch immer an der Verantwortung
für begangene Verbrechen während der
Zeit des Nationalsozialismus trägt, eine
Vielzahl von Industriebetrieben, Schadenersatz
für die wenigen noch lebenden
Zwangsarbeiter zu zahlen; und
schließlich komme ich aus einem Land,
in dem rechtsradikaler Straßenterror
durch fremdenfeindliche Politik zusätzlich
Auftrieb erfährt. Drei Gründe, die
mich dazu bringen sollten, ausschließlich
vor der eigenen Tür zu kehren.
Doch das hier in Straßburg gesetzte
Thema ist von grenzüberschreitender
Bedeutung. Und weil es nicht damit getan
ist, in wohlformulierten Erklärungen
gegen den Rassismus zu protestieren, es
vielmehr darauf ankommt, mutig politische
Zeichen zu setzen, wiederhole ich
meinen Vorschlag als Forderung. Für das
Europäische Parlament in Straßburg wäre
es ein Gewinn, wenn in ihm die Abgeordneten
des Roma-Volkes Sitz und
Stimme hätten. Sie sind Europas beweglichste
Bürger. Sie überwinden Grenzen.
Sie sind mehr als alle anderen bewährte,
weil leidgeprüfte Europäer.