26.02.2001

Artikel /
Leserbrief an die Badische Zeitung (veröffentlicht am 8.03.)

Das Verhältnis zum Leben,
zum Nahrungsmittel
und zur Dritten Welt

Die zensierten Passagen sind in rot wiedergegeben.

Am 21.02.01 berichtete Die Badische Zeitung unter der Überschrift "Wahnsinn: Bauern essen Rindfleisch um die Wette" über ein perverses Rindfleisch-Wettessen in der Oberpfalz. Es hatte deswegen Ärger zwischen der Bauernschaft und dem örtlichen katholischen Pfarrer gegeben. Die Bauern wollten BSE vergessen machen und zugleich ins Guinness-Buch der Rekorde kommen. Der Pfarrer predigte dagegen: "Richtig kann so etwas nicht sein, wenn woanders in der Welt gehungert wird."

Am 23.02.01 schrieb Johannes Schradi einen Kommentar in der Badischen Zeitung "Entwicklungshilfe der ganz besonderen Art - Rindfleisch aus Deutschland für Nordkorea: Zwischen Hinwendung zu den Habenichtsen und schlichter Marktbereinigung". Er kommt darin völlig richtig zum Schluß, daß die "gelegentliche Entsorgung von Überproduktion dorthin, wo der Hunger ist, (...) in der Vergangen mehr Schaden als Nutzen gestiftet" hat.

Beide stellen einen Zusammenhang her, zwischen Überproduktion und Verschwendung hier und Armut und Hunger dort. Aber die Sichtweise ist oberflächlich und daher angreifbar.
Daß die sogenannten Entwicklungsländer seit Jahrzehnten in neokolonialer Abhängigkeit gehalten werden, um ihre Rohstoffe praktisch kostenlos ausbeuten zu können, daß ihre Entwicklung dagegen systematisch verhindert wurde, indem korrupte, dem Westen (und in früheren Zeiten ebenso dem Ostblock) willfährige Potentaten oder scheindemokratische Regierungen an der Macht gehalten und potentielle Konkurrenten wie die asiatischen "Tiger"-staaten, durch Börsentricks ruiniert wurden, bleibt ausgeblendet.

Basis dafür, daß das Wirtschaftssystem der Industrieländer, manche nennen es Kapitalismus (ohne daß dieser Begriff viel erhellt), zwei Drittel der Menschheit in Armut halten kann, ist jedoch die Korruptheit und Gier weiter Teile der Bevölkerung, die in den reichen Ländern Europas und den USA leben und dieses System aufrechterhalten. Wie Daniel Goldhagen in Hinblick auf das Naziregime und den Holocaust klar aufgezeigt hat, ist ein menschenverachtendes Unrechts- System nur bei aktiver Beihilfe eines Großteils der Menschen aufrechtzuerhalten und zu organisieren.

Das "große Fressen", die industrielle Massentierhaltung, der Wahnsinn der EU-Landwirtschaftspolitik, dies alles ist in meinen Augen Ausdruck einer perversen, krankhaften Einstellung allem Leben gegenüber. Das Leben von Tieren, das Leben von Mitmenschen, ja das eigene Leben wird nur noch als Ware wert geschätzt. Was nicht mehr zu gebrauchen ist, wird wertlos.

Ich bin zwar Atheist, aber ich ekle mich davor, wenn ich sehe, daß in ein zur Hälfte aufgegessenes Frühstücksei eine Zigarette ausgedrückt wird. Nicht, weil ich Nahrungsmittel als etwas heiliges, von Gott gegebenes ansehe, sondern weil ich weiß, daß die Haltung zum Leben für uns Menschen emotional unteilbar ist. Dies mag vielleicht früher einmal im Gebot vieler Religionen, mit Nahrungs- oder "Lebens"-Mitteln achtsam umzugehen, der rationale Gehalt gewesen sein. Heute weckt dieser Pfarrer mit seiner Predigt (leider) bestenfalls nur noch mitleidiges Lächeln.

Wenn sich Menschen heute in Fitness-Studios quälen, um die angefressenen Pfunde herunterzutrainieren, dann nicht, weil sie eine gesunde Einstellung zu ihrem Körper haben, sondern um ihren Marktwert auf dem "Markt der Eitelkeiten" und der Kontaktbörse zu steigern. Ausdruck dieser gesteigerten Lebensfeindlichkeit, die sich selbst fälschlich als gesunder Egoismus deutet, ist auch der unter "rot-grün" gesunkene Etat für Entwicklungshilfe, der zwar nie mehr als Alibicharakter hatte, aber heute selbst diese Funktion einbüßt. Es ist kein Zufall, sondern psychologische Gesetzmäßigkeit, daß in destruktiven Gesellschaften die Mordrate gleichermaßen wie die Selbstmordrate hoch ist, während vielen "primitiven" Gesellschaften sowohl Mord als auch Selbstmord selten sind.

Ich war immer ein Gegner des Paragraph 218. Aber ist es nicht ebenso ein Ausdruck der Lebensfeindlichkeit dieser (insgesamt) reichen bundesrepublikanischen Gesellschaft, wenn jährlich rund 130.000 Abtreibungen stattfinden ? Ich kann nur schmunzeln, wenn ich von selbsternannten "Lebensschützern" angegriffen werde, weil ich mich öffentlich für die Abtreibungspille Mifegyne eingesetzt habe. Was ist nur so anstrengend am Denken, daß es bevorzugt durch Haß ersetzt wird? Wie können Menschen nur glauben, es könne auch nur eine einzige Abtreibung verhindert werden, in dem eine risikoärmere Methode der Abtreibung verhindert wird? Im übrigen ist die Alternative doch nicht, daß 130.000 Menschen mehr geboren werden, sondern daß wir lernen, mit Leben verantwortungsbewußt umzugehen. Und das heißt auch, Leben nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern nur nach bewußter Entscheidung zu zeugen.

Wenn bekannt würde, daß mit strukturellen Veränderungen, die nur wenige Milliarden kosten würden, Bedingungen geschaffen werden könnten, die den Ländern der Dritten Welt erlaubten, sich unabhängig zu machen und Armut und Hunger abzuschaffen, wie könnten die Menschen der Industrieländer dann noch ihr Gewissen beschwichtigen? Aber über die Hintergründe und Zusammenhänge berichten die großen Medien selten oder gar nie. So bleibt uns nur, dieses Wissen in Leserbriefen oder mündlich zu verbreiten. Ab und zu sind in seltenen Artikeln mal dürre Zahlen zu lesen wie zum Beispiel, daß rund 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen - aber wer stellt sich schon konkret vor, wie das eigene Leben wohl unter solchen Bedingungen aussehen würde...

Viele Religionen vertraten - im Sinne einer Gewissens- beschwichtigung - als Almosen-"Regelsatz" den Zehnten. Also zehn Prozent des Einkommens sollte für Arme gespendet werden. Die westlichen Industrieländer bekundeten 1971 - allerdings ohne die USA - die Absicht, ihre Entwicklungshilfe auf einen Anteil von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts steigern zu wollen. Selbst das war nichts als ein Lippenbekenntnis. Entwicklungshilfe erreicht heute gerade mal 0,24 Prozent. Und selbst dieses Geld fließt zum Großteil auf die Konten großer Konzerne, die in Entwicklungsländern Straßen oder Brücken in die Landschaft stellen, die nie benötigt werden oder ökologisch zerstörerische Staudammprojekte, die nur strategischer Wasser-Macht-Politik dienen und zudem Hunderttausende aus ihren Dörfern vertreiben.

Doch hierzulande machen sich bisher nur wenige Menschen Gedanken darüber, ob dies alles geändert werden sollte.

 

Klaus Schramm

 

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