Keine Märchen mehr
von Mördern

veröffentlicht in der Badischen Zeitung v. 29.12.89
Die zensierten Passagen sind in roter Schrift wiedergegeben

 

Am 15.12. warnte Korrespondent Ulrich Achermann in seinem Bericht über den brasilianischen Präsidentschaftskandidaten, den Sozialisten Lula da Silva, davor, daß es diesem genauso gehen könne wie 1973 in Chile dem demokratisch zum Präsidenten gewählten Salvador Allende: Radikale Kräfte könnten "die Oberhand gewinnen und alles unternehmen, ihren Chef mit nicht mehr zeitgemäßen Revolutionstheorien links zu überholen. Dasselbe hatte" - so weiter im Text - "in den siebziger Jahren in Chile den Sozialisten Salvador Allende Amt und Leben und das chilenische Volk insgesamt einen hohen Blutzoll gekostet."

Am Tag darauf war in der BZ (ebenfalls von Ulrich Achermann) über den neuen christdemokratischen Präsidenten Chiles, Patricio Aylwin, zu lesen, dieser habe den blutigen Putsch General Pinochets ausdrücklich gebilligt, weil der Sozialist Allende "Chile in ein Chaos" gestürzt habe. Unterschlagen wird hier, daß Aylwin diese seine Billigung spätestens 1980 als fatalen Irrtum bezeichnete. Zu lesen war dies in einem Portrait Patricio Aylwins, das am 19.09.89 in der Stuttgarter Zeitung erschien und vom selben Autor, Ulrich Achermann, stammt.

Pinochet malte das Schreckbild des Kommunismus mit Enteignung, Hunger und Terror an die Wand. Als Vorbild mag er Husak genommen haben, der 1968 den Einmarsch der Sowjets in die CSSR und den Sturz Alexander Dubceks damit zu rechtfertigen suchte, dieser habe das Land dem Kapitalismus ausliefern wollen. Zum Glück ist es heute so weit, daß dieses Märchen drüben abgedankt hat und die Herrschenden sich gezwungen sehen, die Unrechtmäßigkeit des Einmarschs und die Zerschlagung des "Prager Frühlings" einzugestehen.

Ob nun mit dem Schreckbild des Kommunismus oder dem des Kapitalismus Angst gemacht wurde: Ziel war es immer, das Volk in die Arme der Mächtigen zu treiben. Gerade für den neuen Aufbruch in Osteuropa, aber auch für uns im Westen, wäre es interessant, sich zu vergegenwärtigen, wohin der Weg eines Allende und eines Dubcek wirklich geführt hätte. Gerade auch im Hinblick auf ein Überwinden der Blockmentalität hin zu einem gemeinsamen Haus Europa und darin vielleicht auch einem "grenzenlosen Raum" aller deutschsprachigen Europäer. Jedenfalls ist es endlich Zeit, nirgendwo mehr den giftigen Märchen der Mörder zu glauben.

Klaus Schramm

zurück zur Übersicht 'Politische Texte'