5. Mai 2000   Beitrag der Badischen Zeitung

Der Machtkampf um Tibet geht weiter

Seit fünf Jahren hält Peking den Panchen Lama gefangen

 

Die Entführung des Gott-Kindes

Von BZ-Korrespondent Harald Maass

Mehrere Tage mussten die Mönche am Ufer des Lhamo Latso warten, ehe der See im tibetischen Hochland das lang ersehnte Zeichen gab. In „allen Farben des Regenbogens“ habe sich das Wasser verfärbt, notierten die heiligen Männer des Tashilhunpo-Klosters. Magische geometrische Formen und Mandalas seien plötzlich erschienen, die Wasseroberfläche habe merkwürdig gebrodelt.

Für die Gruppe ehrenwerter Mönche und Lamas war damit die Entscheidung gefallen: Am 14. Mai 1995 erklärte der Dalai Lama den sechs Jahre alten Hirtenjungen Gendün Chökyi Nyima zur elften Wiedergeburt des Panchen Lama. Drei Tage währte die Freude in Tibet über die glückliche Wiedergeburt, dann wurden Chökyi Nyima und seine Eltern von der chinesischen Sicherheitspolizei verschleppt. Vor einigen Tagen feierte der Junge seinen elften Geburtstag – wenn er noch am Leben ist.

Dies ist die Geschichte eines alten Kampfes. Einer verbitterten Fehde um Macht und Einfluss, die seit Jahrhunderten in Tibet unter dem Deckmantel der Religion ausgetragen wird. Es ist ein Spiel mit lebenden Buddhas und kleinen Jungen als Schachfiguren in einer Partie, bei der schon Chinas Kaiser, mongolische Kriegsherren und europäische Kolonialmächte das stolze Himalajaland unter ihre Kontrolle bringen wollten. Heute sind es Pekings Kommunisten, die den alten Wettstreit um die Vorherrschaft in den Bergen weiterführen. Die Spielregeln sind die gleichen wie früher: Wer Tibet regieren will, muss die Religion und die Lamas kontrollieren. Deshalb musste Chökyi Nyima verschwinden. Deshalb sitzen die Mönche, die bei der Auswahl des Jungen beteiligt waren, bis heute in chinesischen Arbeitslagern.

Shigatse in Westtibet. Die Luft ist schwer vom Weihrauch. Monoton drehen sich die Gebetsmühlen vor dem Portal des mächtigen Tashilhunpo-Klosters, Pilger und Nomaden in zerlumpten Kleidern werfen sich zum Gebet auf den staubigen Boden. Shigatse, 3900 Meter hoch im Himalaja gelegen, ist seit drei Jahrhunderten der Amts- und Wohnsitz des Panchen Lama, des zweithöchsten religiösen Führers der Tibetaner. Wie der Dalai Lama gehört der „Große Gelehrte“, so die Übersetzung des Titels Panchen Lama, zur Gelugpa-Schule des Buddhismus, die bis zum Einmarsch der Chinesen 1949 die politischen und religiösen Geschäfte in Tibet führte.

Auch wenn für viele Westeuropäer der tibetische Buddhismus heute für Frieden und das Streben nach geistlicher Erfüllung steht: Im alten Tibet pflegten die lebenden Buddhas durchaus weltliche Gelüste nach Macht und Reichtum. Oft bestimmten Rivalitäten, Allianzen und tödliche Intrigen den Umgang zwischen den Klöstern. Viele Dalai Lamas wurde nicht älter als 21.

Shigatse ist noch immer der Sitz des Panchen Lama. Das behaupten zumindest Pekings Kommunisten. Im November 1995, wenige Monate nach der Entführung von Chökyi Nyima, ließ China ein anderes „Gott-Kind“ mit dem Namen Gyaincain Norbu, den Sohn eines Mitglieds der Kommunistischen Partei, als neuen Panchen Lama einsetzen.

Um ausländische Beobachter und die tibetische Bevölkerung zu verwirren, wurde der junge Lama äußerlich nach den alten Gebräuchen ernannt. Allerdings erweiterte Peking, das die Prozedur genau kontrollierte, die Rituale um einen Punkt: Nach der Weihezeremonie im Jokhang-Kloster in Lhasa musste der Junge zu einer Audienz mit Staats- und Parteichef Jiang Zemin nach Peking reisen. „Ich danke dem Zentralkomitee der Partei und Präsident Jiang“, ließen Pekings Propagandisten den damals sechsjährigen Knaben aufsagen: „Ich bin entschlossen, gewissenhaft zu lernen und zu einem lebenden Buddha zu werden, der Vaterland und Buddhismus liebt.“

Jiang Zemin lächelte zufrieden. Chinas Führer glaubten, gewonnen zu haben. Mit der Kontrolle des Panchen Lama, den Peking seitdem von ausgewählten „patriotischen Mönchen“ aufziehen lässt, soll der Einfluss des Dalai Lama endgültig gebrochen werden.

Dessen sterbliche Hülle, Tenzin Gyatso, wird diesen Sommer 65 Jahre alt und irgendwann für immer entschlafen. Traditionell übernimmt dann der Panchen Lama die religiöse Führung der Tibetaner. Bei der Suche nach der Wiedergeburt des Dalai Lama kann er ein Mitspracherecht einfordern.

Für die tibetische Kultur, fürchten viele, wäre dies das Ende: Mit dem Panchen Lama als Marionette könnte Peking die Klöster und die sechs Millionen gläubigen Tibetaner beliebig manipulieren. „Sie könnten die Institution des Dalai Lama auch völlig abschaffen“, warnte der Dalai Lama vor kurzem in einem Interview. Ein Schiismus droht, die Zersplitterung des Glaubens und damit der tibetischen Kultur.

Der Schwachpunkt im politischen System Tibets war schon immer die Reinkarnation der Führer. In den Phasen nach dem Tod eines Dalai Lama bis zum Heranwachsen seiner kindlichen Wiedergeburt herrschte regelmäßig ein Machtvakuum an der Spitze des kleinen Landes, in dem sich oft blutige Rivalitäten um Privilegien und Einfluss entwickelten. Vor allem der große Nachbar China nutzte diese Schwächeperioden aus, um seinen Einfluss zu stärken. Anfang des 20. Jahrhunderts war es den Chinesen gelungen, eine Kluft zwischen dem neunten Panchen Lama und dem dreizehnten Dalai Lama zu schaffen. Auch der 1989 verstorbene zehnte Panchen Lama wurde erst von den Nationalchinesen indoktriniert, später versuchten die Kommunisten, ihn für ihre Zwecke zu manipulieren. Im Alter von elf Jahren zwangen ihn die Chinesen, am Gründungstag der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 ein Telegramm an Mao Tse-tung zu schicken und darin um die „Befreiung“ Tibets zu bitten.

Der zehnte Panchen Lama wurde zu einer tragischen Figur. Im Gegensatz zum Dalai Lama, der 1959 nach Indien ins Exil geflüchtet war, hoffte er, dass eine Zusammenarbeit mit den chinesischen Besetzern möglich war. Trotz der Zwangskollektivierung, die Mitte der 60er Jahre zu einer nie gekannten Hungersnot in Tibet führte, trotz brutaler Umerziehungskampagnen, bei der Zehntausende Tibeter in Arbeitslager verschickt oder umgebracht wurden, versuchte der Panchen Lama vergeblich, mit Peking zusammenzuarbeiten. Als er 1962 in dem „Siebzigtausend Zeichen Aufsatz“ das Leiden seines Volkes unter Chinas Herrschaft offen kritisierte, fiel er bei Mao in Ungnade. Mehr als zehn Jahre verbüßte er im Gefängnis, wurde gefoltert und gedemütigt. Bei seinem plötzlichen Tod 1989, chinesischen Berichten zufolge durch einen Herzinfarkt, glaubten viele, dass er vergiftet wurde.

Wird Pekings Schachzug diesmal gelingen? Der Karmapa Lama, nach dem Dalai Lama und dem Panchen Lama der dritthöchste lebende Buddha, ist Anfang Januar aus der Umarmung der Chinesen nach Indien ins Exil geflüchtet. Obwohl Peking die Klöster mit Spitzeln unterwandert hat und den Druck auf das Volk verstärkt, weigern sich die meisten Tibeter bis heute, den chinesischen Panchen Lama als rechtmäßige Wiedergeburt anzuerkennen. Heimlich beten sie in ihren Zelten und Hütten zu Fotos des verschwundenen Chökyi Nyima. In vielen Klöstern boykottieren die Mönche den Pekinger Knaben, indem sie die Fotos des alten, des zehnten, Panchen Lama aufhängen. „Unser religiöser Führer ist der Dalai Lama“, sagt ein Mönch in Lhasa. „Der Peking-Junge ist für uns nur eine Puppe der Chinesen.“

Was ist aus Chökyi Nyima geworden? 1996 räumte die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua ein, dass die Regierung den Jungen angeblich zum Schutz vor „tibetischen Separatisten“ in Gewahrsam genommen habe. Seit fünf Jahren gibt es von dem heute Elfjährigen, den manche als jüngsten politischen Gefangenen der Erde bezeichnen, kein Lebenszeichen mehr. Pekings Religionsbeamte versichern zwar regelmäßig, dass der Junge „bei bester Gesundheit“ sei und ein normales Leben führe. Anfragen von den Vereinten Nationen und Kinderhilfsorganisationen, die den Jungen sehen wollten, wurden jedoch stets abgelehnt. Im vergangenen Sommer tauchten Gerüchte auf, dass der Junge in einem Gefängnis der Provinz Gansu gestorben sein soll. Peking dementierte.

Der Kampf und die Intrigen um die Macht in Tibet gehen weiter, und den Preis zahlen die „Gott-Kinder“. Auch Pekings Lamajunge Gyaincain Norbu. Weil er von den Mönchen und Menschen in Tibet abgelehnt wird, lebt der Junge die meiste Zeit abgeschieden in Peking. Angeblich sollen seine Eltern gebeten haben, die Ernennung zum Panchen Lama rückgängig zu machen. Doch davon wollen Chinas Führer nichts hören: Im März musste der Junge der Pekinger Zentralregierung eine silberne Gedenktafel überreichen: „Warme Glückwünsche zum 50. Gründungstag der Volksrepublik China“ stand darauf geschrieben. Fünf Jahrzehnte waren da vergangen, seit der zehnte Panchen Lama per Telegramm um die „Befreiung“ Tibets bitten musste. Und wenn der Lhamo-Latso-See an diesem Tag ein Zeichen gegeben hat, dann war das heilige Wasser wahrscheinlich tiefschwarz.

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