1.02.2001

Dokumentation
eines Briefs von Bundesumweltminister Trittin
an die niedersächsischen Kreisverbände der "Grünen"
mit dem Aufruf, sich nicht an CASTOR-Blockaden zu beteiligen

28. Januar 2001

 

CASTOR-Transporte nach Gorleben

Liebe Freundinnen und Freunde,

In der Öffentlichkeit entsteht verstärkt der Eindruck, Grüne stünden erneut vor einer Zerreißprobe. Anlass sind die für die 13. und 14. Woche vorgesehenen Rücktransporte deutschen Atommülls aus Frankreich nach Gorleben. Dem Beschluss des Parteirates hierzu haben alle Mitglieder bis auf zwei zugestimmt, darunter auch die, die den Atomkonsens in Karlsruhe und/oder Münster abgelehnt haben.

Von interessierten Seiten - pikanterweise sowohl von der CDU wie von der BI Lüchow-Dannenberg - ist dieser Beschluss zum Anlass genommen worden, die Grünen zu ihrem Verhältnis zu bestimmten Protestformen zu vernehmen, insbesondere zu der Frage, wie sie zu Sitzblockaden stehen. Während die politische Rechte hier schon die Grenze zu Gewalt überschritten sieht, malt der Sprecher der BI den Abschied der Grünen von ihren radikaldemokratischen Traditionen an die Wand und bläst zum Aufstand gegen die "Regierungsgrünen".

Keine Gewalt ...

Diese Debatte ist absurd, denn über die Protestformen sagt der Beschluss überhaupt nichts. Diese Debatte ist auch erhellend, beleuchtet sie doch - bei aller politischen Gegensätzlichkeit - das gemeinsame Interesse des CDU-Abgeordneten Grill und Wolfgang Ehmke. Beide wollen lieber über Formen von Demonstrationen streiten, statt über die Inhalte. Indem sie von gegensätzlichen Standpunkten aus die sogenannte Gewaltfrage thematisieren, glauben sie sich einer konkreten Stellungnahme zu dem Transport entziehen zu können.

Selbstverständlich haben Grüne (und auch die BI Lüchow-Dannenberg) auch in der Vergangenheit immer nur zu friedlichem, zu gewaltfreiem Widerstand aufgerufen. Selbstverständlich sind Sitzblockaden eine - vom Bundesverfassungsgericht - anerkannte Form friedlichen Protests, für deren Anerkennung Grüne lange gestritten haben. Und wir tun gut daran, angesichts der Angriffe von rechts, die Legitimität und Legalität dieser Form des zivilen Ungehorsams nachdrücklich zu verteidigen.

Aus der Verteidigung einer solchen Form zivilen Ungehorsams kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass jede Sitzblockade von Grünen unterstützt werden muss. Nur weil jemand seinen Hintern auf die Strasse setzt, finden wir das noch nicht richtig. Ein Beispiel mag das verdeutlichen:

Die gleiche CDU, die Sitzblockaden so gerne als Gewaltakte denunziert, hat überhaupt keine Hemmungen, Blockaden von Straßen mit schwerem Gerät gegen die Ökosteuer gut zu heißen. Nun ist hierbei der friedliche Charakter - anders als bei Sitzblockaden - durchaus zweifelhaft. Aber wenn die gleichen Kräfte nun mit dem Gesäß statt mit Trecker oder Truck die Straße blockieren, um gegen die "KO-Steuer" zu protestieren, unterstützen wir sie dann? Selbstverständlich nicht - weil wir ihr politisches Anliegen ablehnen.

...-debatte

Genauso verhält es sich mit Aktionen gegen die notwendige Rücknahme von Atommüll aus Frankreich. Hiergegen zu demonstrieren hält der Parteirat - unabhängig von der Form des Protestes, ob durch Sitzen, Gehen oder Singen - für politisch falsch. Nicht, weil wir etwas gegen Sitzblockaden, Latschdemos oder Singen haben, sondern weil wir das Anliegen weshalb gesessen, gegangen oder gesungen wird, ablehnen.

Dass uns dies gerade in Niedersachsen und noch mehr im Wendland in einen Konflikt mit Menschen bringt, mit denen wir gemeinsam für einen Ausstieg streiten, die aber trotz dieses gemeinsamen Ziels, die mit einem Ausstieg notwendig verbundenen Transporte ablehnen, macht die Situation für unseren Landesverband schwierig. Dieser Schwierigkeit kann man aber nicht entgehen, in dem man sich mit den Protestformen von Teilen der Anti-AKW-Bewegung auseinandersetzt, zu den Inhalten aber schweigt.

Beim Beschluss des Landesvorstandes fällt auf, dass er den Beschluss der BDK von Münster verkürzt zitiert. Wörtlich hieß es im Münsteraner Beschluss: "Als Partei werden wir uns weiterhin für unsere Ziele auch außerparlamentarisch einsetzen und uns an den Protesten der Anti-AKW-Bewegung in Ahaus, Gorleben und anderswo einsetzen." Zu "unseren Zielen" gehört selbstverständlich der durch diesen Beschluss mit riesiger Mehrheit bejahte Ausstieg auf der Basis des Atomkonsenses vom 14. Juni 2000. Und selbstverständlich kann sich niemand auf das Votum der BDK in Münster berufen, wenn er sich an Protesten gegen den dort akzeptierten Konsens beteiligt - in Ahaus nicht, in Gorleben nicht und auch nicht anderswo.

Der Verantwortung gerecht werden

Im entscheidenden Punkt aber ist der Landesvorstand klar und unmissverständlich: "Wir stehen zur Verantwortung der Bundesrepublik für die Entsorgung des deutschen Atommülls eine nationale Lösung zu finden."

Will man dieser - einstimmig geäußerten - Verantwortung gerecht werden, kommt man nicht umhin festzustellen, dass der Rücktransport der Glaskokillen nicht nur unvermeidlich und notwendig ist, sondern dass auch die Voraussetzungen erfüllt wurden, die vor Beginn der Verhandlungen von Grünen in Niedersachsen und auch in Lüchow-Dannenberg formuliert wurden. Die Transporte finden erst statt, nachdem die Laufzeiten in der Konsensvereinbarung beschränkt wurden, nachdem die Auflagen zur Sicherheit der Transporte umgesetzt waren und nachdem der Bau des Endlagers im vergangen Oktober endlich unterbrochen wurde. Erfüllt wurden die Forderungen des Länderrats vom Januar 99, der verlangt hatte, keine Transporte, bevor die Verhandlungen nicht zu Ende gebracht wurden, wie die Forderung der BI Lüchow-Dannenberg, dass erst nach Vorlage der Transportstudie transportiert werden sollte. Diese liegt seit Sommer letzten Jahres vor.

Dass die Voraussetzungen für die Rücktransporte rechtlich wie politisch gegeben sind, wissen auch die Freundinnen und Freunde, die heute zu Aktionen dagegen aufrufen - wie sie wissen, dass die weitere Lagerung deutschen Atommülls in Frankreich rechtlich unzulässig und politisch unakzeptabel ist. Weil sie das wissen, forcieren sie eine Debatte über zivilen Ungehorsam, zur Freude der CDU, die diese dann als Gewaltdebatte führt, um von ihrer Verantwortung für das jahrelange Verschieben von Atommüll ins Ausland abzulenken.

Wir Grünen sollten beiden, der BI wie der CDU, diesen Gefallen nicht tun. Weder eilfertige Distanzierungen vom, noch ostentative Bekenntnisse zum zivilen Ungehorsam können eine konkrete Haltung zu dem konkreten Transport ersetzen.

Jene aber, die meinen, wegen zu langer Fristen bei der Wiederaufarbeitung, die aktuellen Transporte blockieren zu wollen, seien auf Folgendes hingewiesen: Ein sofortiger Stopp der Wiederaufarbeitung würde nicht zwei, sondern mehr als zwanzig Transporte in diesem Jahr zur Folge haben, weil Frankreich uns dann allen Müll auf einmal und nicht in einem Zehn-Jahres-Zyklus zurückschicken würde. Dass die hauseigene atompolitische Opposition in einem solchen Fall die Rücktransporte akzeptieren würde und nicht dagegen demonstrierte, daran zu glauben, dürfte nicht nur mir schwer fallen.

Dies gilt auch für den von einigen Grünen bemühten Verweis auf das nicht vorhandene Endlager. Der von dieser Regierung eingeleitete Prozess der Entwicklung von Standortkriterien sieht eine breite Beteiligung von kritischen Wissenschaftlern und Bürgern vor. Er ist, gerade weil die Fehler der Standortbestimmung in Gorleben nicht wiederholt werden sollen, auf Jahre angelegt. Man wird den Franzosen nicht zumuten können, den deutschen Müll etwa bis zur Inbetriebnahme des deutschen Endlagers im Jahre 2030 zu lagern.

Wollen wir glaubhaft bleiben, müssen wir zu den Konsequenzen unserer Politik stehen. Der Atomkonsens ist ein Kompromiss, der noch eine Weile Transporte erlaubt. Unabhängig vom Konsens müssen wir den Atommüll aus Frankreich und England zurücknehmen. Die Voraussetzungen für die Durchführung der Transporte sind gegeben. Und deshalb gibt es für Grüne keinen Grund, gegen diese Transporte zu demonstrieren.

Oder wie es der Landesvorstand ausdrückt: Wir stehen zur Verantwortung der Bundesrepublik für die Entsorgung des deutschen Atommülls eine nationale Lösung zu finden. Dieses wird in den nächsten Wochen unter Beweis zu stellen sein.

 

Mit freundlichem Gruß

Euer

Jürgen Trittin

 

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