19.08.2003

Interview

US-Angriff auf Zentralafrika

Mit dem Völkermord der sogenannten Hutu-Faschis- ten 1994 wird heute die Notwendigkeit westlicher Intervention in Zentralafrika gerechtfertigt. Es war aber alles ganz anders, behauptet Christopher Black in diesem Interview mit dem Journalisten und Buchautor Jürgen Elsässer.

Vorbemerkung von Jürgen Elsässer:
Christopher Black (52) ist ein kanadischer Anwalt, der zum juristischen Beraterteam Slobodan Milosevics gehört. Seine Hauptbetätigungsfeld ist aber nicht in Den Haag, sondern in Arusha: Am dortigen UN-Tribunal zur Untersuchung der Kriegsverbrechen 1994 in Ruanda amtiert er als Verteidiger eines Hutu-Angeklagten. (Aus dieser parteilichen Sicht sind auch seine folgenden Äußerungen zu verstehen, deren Faktizität ich nicht in jedem Fall beurteilen kann. Ich empfehlen deshalb den LeserInnen nicht, sie einfach zu konsumieren - sondern als Gegengift gegen die gängige westliche Propaganda von den Hutu-Völkermördern einzunehmen. "Eine konzentrierte Persönlichkeit mit einem mächtigen Intellekt", urteilte der "Toronto Star" über Black, der übrigens bekennendes Mitglied der Kommunistischen Partei ist.)

J. E.: Als durchschnittlicher Europäer weiß man über Afrika gar nichts. Man glaubt zu wissen, daß sich dort wilde Stämme gegenseitig massakrieren und daß deshalb wir, die Weißen, Truppen schicken müssen, um sie davon abzuhalten.

C. B.: Dieser Glaube an White Man's Burden, also "unsere" zivilisatorische Mission im Schwarzen Kontinent, stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Wieder aufgefrischt wurde er insbesondere durch die Geschehnisse in Ruanda 1994 oder vielmehr die Rezeption dieser Geschehnisse im Westen. Demnach wurden damals innerhalb weniger Wochen 800.000 Angehörige der Tutsi-Minderheit von Angehörigen der Hutu-Mehrheit massakriert. Die UNO, heißt es weiter, habe bei diesem Völkermord versagt, von Frankreich sei er sogar unterstützt werden. Dies dürfe niemals wieder passieren, und deswegen müßten die westlichen Großmächte künftig frühzeitig, sogar präventiv eingreifen.

Das ganze Argumentationsmuster mit Ruanda 1994 erinnert an Srebrenica 1995. Auch dieses Ereignis wurde als planmäßiger Völkermord im Nazi-Stil dargestellt, auch hier wurde ein Versagen der UNO konstatiert und daraus die Forderung nach einem harten militärischen Zuschlagen abgeleitet - NATO statt UNO.

Es gibt viele Parallelen zwischen der westlichen Politik auf dem Balkan und in Zentralafrika. So wie im einen Fall die westliche Propaganda die Serben dämonisiert, so im anderen die Hutu. In beiden Fällen hat der UN-Sicherheitsrat unter Überschreitung seiner Kompetenzen Strafgerichtshöfe eingerichtet, um die angeblichen Völkermörder zu bestrafen. Das eine dieser beiden Tribunale ist in Den Haag, dort sind vor allem Serben angeklagt. Das andere Tribunal befindet sich in Arusha in Tanzania, die Angeklagten dort sind ausschließlich Hutu. Chefanklägerin ist in beiden Fällen übrigens Carla del Ponte. Im Vergleich zu Arusha laufen die Prozesse in Den Haag aber geradezu fair und juristisch korrekt ab.

Das klingt so, als wollten Sie das Abschlachten von Hunderttausenden von Tutsi 1994 verharmlosen oder leugnen.

Es gab schreckliche Greuel und Massaker, das steht fest. Aber was keineswegs geklärt ist, ist die Frage nach den Tätern und den Opfern. Um die blutige Eskalation 1994 zu verstehen, ist jedenfalls ein Blick auf die Genese des Konflikts unabdingbar. Die Hutu sind einer von vielen hundert verschiedenen Stämmen, die man unter dem Oberbegriff der Bantu zusammenfaßt. Es sind Bauernvölker, die schon seit einigen tausend Jahren im Herzen Afrikas siedeln. Vor etwa 700 Jahren wanderten die Tutsi aus dem Norden in die Mitte des Kontinents, ein kriegerischer Stamm aus umherziehenden Viehtreibern. Bald hatten sie die Hutu unterjocht, ihr Königreich bestand aus einer Tutsi-Aristokratie und einer Bantu-Unterschicht. Die Hutu waren dabei immer in der erdrückenden Mehrheit. Das gilt auch für die Gegenwart - Anfang der neunziger Jahre kamen etwa 90 Prozent der acht Millionen Ruander aus der Hutu-Ethnie. Die Tutsi verachten die Hutu seit altersher, eine ausgeprägte Form des Rassismus. Zwei Beispiele: Sie zwangen ihnen eine entwürdigende Kleidung auf, noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert mußten die Hutu unter Androhung von Strafen Röckchen aus Bananenblättern tragen, während die Tutsi sich an den Festtagen mit vornehmen Togen schmückten. Und am Palast des Tutsi-Königs waren, ebenfalls bis zum Untergang der Dynastie 1959, die Hoden der unterworfenen Hutu-Fürsten angenagelt.

Sie datieren den Untergang der Tutsi-Dynastie auf 1959. Aber schon Ende des 19. Jahrhunderts war doch das Land kolonisiert worden.

1899 wurde Ruanda deutsche Kolonie, nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg übernahmen die Belgier die Herrschaft. Aber das Tutsi-Königreich bestand auch unter der Fremdherrschaft fort. Die Kolonisatoren nutzten die Tutsi-Oberschicht zur Verwaltung des Landes. Zu diesem Zweck führten die Belgier 1930 eigens ein Paßsystem ein, das die jeweilige Person entweder den Hutu oder den Tutsi zuordnete. So wurde in einer Zeit, als die Vermischung der Volksgruppen schon begonnen hatte, der ethnische Graben durch die Kolonialmacht neu gezogen.

Wie kam es zum Ende des Tutsi-Königreiches?

Nach dem zweiten Weltkrieg beginnt die Dekolonisierung auf der ganzen Welt. 1959 machen die Hutu einen Aufstand und stürzen die Tutsi-Dynastie, obwohl diese von belgischen Soldaten verteidigt wird. Dann ziehen die Belgier ab. Der Umsturz durch die Bevölkerungsmehrheit war relativ unblutig, das Land wird nach einem Referendum zur Republik erklärt. Das Einparteiensystem funktioniert ähnlich wie in Kuba, das heißt es gibt einen regionalen und lokalen Untersatz an funktionierender Basisdemokratie. Aber die entmachtete Oberschicht akzeptiert den Machtwechsel nicht: 120.000 Tutsi (von insgesamt 800.000) fliehen Anfang der sechziger Jahre nach Uganda und in andere Nachbarländer. Von dort aus starten sie bis 1973 immer wieder Einfälle in die Republik Ruanda. Dann beruhigt sich die Lage. Ruanda weist bis Ende der achtziger Jahre das höchste Wirtschaftswachstum ganz Afrikas auf, ein Teil der geflüchteten Tutsi kehrt auf individueller Basis ins Land zurück. Diese positive Entwicklung wäre noch weiter gegangen, hätten sich die USA nicht zum Eingreifen entschlossen.

Was war ihr Motiv? In Ruanda ist doch nichts zu holen?

Es ging auch gar nicht um Ruanda, sondern um das Nachbarland Kongo, einen Koloß mit riesigen Rohstoff- vorkommen. Der dortige Präsident Joseph Mobutu war lange ein zuverlässiger Statthalter des Westens gewesen, entwickelte aber Ende der achtziger Jahre eine unabhängigere Politik. Zum Beispiel räumte er ausgerechnet der Volksrepublik China Rohstoffkonzessionen ein. Deswegen wollte Washington Mobutu loswerden und bat die ruandische Regierung diskret um Hilfe. Doch die damalige Hutu- Administration lehnte ab, weil sie sich ethnisch mit den Kongolesen verbunden fühlte - deren Mehrheit sind ebenfalls Bantus. Darum setzte Washington auf ein neues Pferd und begann, die Tutsi-Exilanten in Uganda hochzurüsten. Die hatten dort ohnedies eine starke Position, seitdem sie sich in den inner-ugandischen Kämpfen auf die Seite von Yoweri Museveni stellten. Da dieser nur mit ihrer Hilfe 1986 die Macht ergreifen und Präsident werden konnte, versprach er ihnen im Gegenzug seine Unterstützung bei der Rückeroberung Ruandas.

Die Tutsi-Exilanten hatten also Anfang der neunziger Jahre die Rückendeckung der USA und Ugandas?

Exakt. 1990 intervenieren 20.000 Tutsi von Uganda aus in Ruanda. Es sind Soldaten der ugandischen Armee, Tutsi stellen dort 50 Prozent des Offizierskorps - aber Museveni gibt sich naiv und sagt, er könne nichts dafür, seine Tutsi-Soldaten hätten gemeutert und seien auf eigene Faust in Ruanda einmarschiert. Frankreich hilft der ruandischen Regierung, die Aggression zurückzuschlagen. Als die Tutsi wieder zurück in Uganda sind, werden sie natürlich nicht belangt. Sie ziehen einfach die Uniformen der ugandischen Armee, die sie bisher getragen haben, aus und gründen in Uganda ihre eine eigene Armee, die Ruanda Patriotic Front (RPF). Sie zweigt mit US-Unterstützung IWF-Hilfsgelder, die für Uganda gedacht sind, ab und kauft damit Waffen.

Dann beginnt die RPF einen Guerillakrieg gegen die ruandische Regierung. Flankiert wird die militärische Offensive durch politischen Druck: Museveni fordert Ruanda auf, die über 100.000 Tutsi-Flüchtlinge in Uganda zurückreisen zu lassen. Als Ruanda mit Verweis auf die schwierige ökonomische Lage um Geduld bittet, droht Museveni, die Rückkehr militärisch zu erzwingen. Gleichzeitig verhindern Großbritannien und die USA den Verkauf von Ruandas wichtigsten Exportgütern Kaffee und Tee über die Börsen in London und New York. Das verschlechtert die wirtschaftliche Lag weiter. Zur selben Zeit lanciert Human Rights Watch (HRW) - eine angebliche Nichtregierungsorganisation, die aber auch im Kosovo eng mit dem State Department zusammen gearbeitet hat - erste Berichte in der westlichen Presse über die angebliche Unterdrückung der Tutsi in Ruanda, spricht vom sogenannten Hutu-Rassismus, vereinzelte Morde an Tutsi werden Hutu angelastet. Unter anderem wird, als Beispiel für die militaristischen Tendenzen Ruandas, in diesen Berichten die Umschichtung aus dem Sozialbudget in den Militäretat des Landes kritisiert. Doch diese Umschichtung war ja nur deswegen notwendig geworden, weil die Tutsi-Armee von Uganda aus ihren Guerillakrieg eröffnet hat. Eine weitere Kritik galt Hutu-Radiostationen, die angeblich rassistische Hetze verbreiten. Dabei wird verschwiegen, daß die ersten Radiostation, die Hate Speech sendete, ein Tutsi-Sender in Ruanda war, der mit britischem Geld finanziert worden ist. Was die Programme der Hutu-Radios anging, so richteten sie sich nicht gegen die Tutsi allgemein, sondern - ich habe Transkripte gelesen - gegen den Extremismus der RPF.

Könnte man sagen, die RPF spielte in Zentralafrika dieselbe Rolle wie die UCK auf dem Balkan?

In der Tat. Der Separatismus wird vom Westen hochgerüstet, und wenn der bedrohte Staat sich dagegen wehrt, schreit man Rassismus und fordert Menschenrechte.

Im Sommer 1993 kommt es zu einer Beruhigung der Situation im Rahmen der Arusha-Vereinbarungen.

Beruhigung? Wie man's nimmt. Auf Druck des Westens hatte Ruanda jedenfalls schon ab 1991 ein Mehrparteiensystem und damit auch Tutsi-Parteien zugelassen. In Arusha kam man nun überein, für die nächsten neun Monate eine Übergangsregierung zu formieren, in der die Tutsi 40 Prozent der Posten bekamen. Ruandische Armee und RPF sollten fusionieren, die RPF bekam 50 Prozent des neuen Offizierskorps. 3000 UN-Blauhelme sollten die Vereinbarung absichern - die ruandische Regierung hatte sogar 5000 beantragt.

Gleichzeitig intensiviert die RPF aber ihren Guerillakrieg. Im Februar 1993 startet sie eine Großoffensive in Nordruanda, eine Million Menschen fliehen in die Hauptstadt Kigali. Geführt wird der Militärschlag von Paul Kagame, dem heutigen Vize-Präsidenten des Landes, der in den USA ausgebildet und von dort eingeflogen war - da war er nicht der einzige unter den Tutsi-Kommandeuren. Auch im Nachbarland Burundi kommt es 1993 zu einer Tutsi-Offensive, angeblich werden dabei 300.000 Hutu getötet. Darunter ist auch der Präsident, der erste Hutu in diesem Amt. Hunderttausende fliehen nach Ruanda.

Die Krise spitzt sich zu Beginn des Jahres 1994 zu.

3000 bis 4000 RPF-Söldner sickern zu Jahresanfang in die Hauptstadt Kigali ein. Die UN-Truppen wissen davon, tun aber nichts dagegen. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich mit einem großen Massaker in einem Dorf, dem 700 Menschen zum Opfer gefallen sind - angeblich von Hutu verübt. Erst jetzt, neun Jahre später, sind Dokumente aufgetaucht, wonach Tutsi die Täter waren. In dieser Situation zunehmender ethnischer und politischer Spannungen ist auch die Übergangsregierung nicht mehr stabil, da die sie tragenden Parteien in unterschiedliche Flügel zerbrechen.

Den Beginn des großen Schlachtens markiert der 6. April 1994, das Attentat auf den Präsidenten von Ruanda - angeblich begangen von Hutu, die mit dem gemäßigten Präsidenten auch die Arusha-Vereinbarung und die Verpflichtung zur innerethnischen Zusammenarbeit loswerden wollten?

Das ist nicht logisch. Denn die Arusha-Vereinbarungen sahen ja vor, daß nach neun Monaten Übergangsregierung allgemeine Wahlen stattfinden - und diese Wahlen hätten die Hutu angesichts einer demographischen Mehrheit von 90 Prozent mit Sicherheit gewonnen. Nur die Tutsi konnten ein Interesse daran haben, diese Wahlen zu verhindern.

Aber schauen wir uns dieses Attentat etwas genauer an. Museveni hatte zuvor zu einem Ruanda-Gipfel nach Dar-es-Salaam eingeladen. Gekommen waren Mobutu, damals immer noch Präsident von Kongo/Zaire, Präsident Juvenal Habyarimana aus Ruanda, Präsident Cyprian Ntaryamira aus Burundi, ebenfalls ein Hutu, und Präsident Arap Moi aus Kenia. Die Konferenz war ein Witz, Museveni hatte nichts vorbereitet, keinen Lösungsvorschlag für die Krise, es gab noch nicht einmal eine Tagesordnung. Nach stundenlangem Warten und stundenlangem ergebnislosen Geplaudere will der Präsident von Burundi abfliegen - aber man teilt ihm mit, sein Flugzeug habe eine Panne, er möge im Flugzeug des ruandischen Präsidenten mitfliegen. So geschieht es. In diesem Flugzeug befinden sich also zwei Hutu-Präsidenten samt ihren Beratern und fast der gesamten ruandischen Armeeführung - als es schließlich beim Anflug auf Kigali mit SAM-7-Raketen abgeschossen wird und alle Insassen sterben. Welches Motiv sollten die Hutu haben, ihre eigene politisch-militärische Spitze zu liquidieren?

Vielleicht nicht "die" Hutu, aber extremistische Fraktionen, denen die damalige Führung zu gemäßigt war?

Diese Version wurde sofort von der RPF und von den USA verbreitet. Mittlerweile gibt es einen sicheren Beweis, daß sie nicht stimmt. BBC News Online berichtete am 29. März 2000: "Die UN hat bestätigt, daß sie ein internes Memorandum in ihren Akten hat, das davon ausgeht, daß Ruandas Interim-Präsident Paul Kagame" - der damalige Oberbefehlshaber der RPF-Guerilla - " in die Ermordung des früheren Präsidenten Juvenal Habyarimana verwickelt war."

Das Eingeständnis der UN erfolgte, nachdem Teile dieses internen Berichtes am 1. März 2000 in der angesehenen kanadischen Tageszeitung 'The National Post' veröffentlicht worden waren. Demnach hatten sich drei Mitglieder einer geheimen Spezialeinheit der RPF gegenüber den UN-Ermittlern geäußert, ihre Einheit habe das Attentat "mit Hilfe einer ausländischen Regierung" und "unter dem Oberbefehl von Paul Kagame" ausgeführt. Der UN-Bericht merkt an, daß die abgefeuerten SAM-Raketen wahrscheinlich "im Irak (1991) von den US-Streitkräften konfisziert worden waren. Weiter heißt es, daß "die Ermittlungen niedergeschlagen wurden, bevor die Identität der ausländischen Regierung enthüllt werden konnte".

Das muß doch für das UN-Tribunal in Arusha, das den Völkermord in Ruanda untersucht, wichtiges Beweismaterial sein.

Eigentlich ja. Aber diese Beweise wurden unterdrückt. Der erwähnte UN-Bericht datiert vom 1. August 1997, aber die damalige Chefanklägerin Louise Arbour wollte die Sache nicht behandeln. Obwohl die drei Attentäter, die sich gegenüber den UN-Ermittlern geäußert hatten, sogar bereit waren, vor dem Tribuna auszusagen, wenn ihre Identität geschützt würde.

Mit welchem Argument hat die Chefanklägerin das abgelehnt?

Sie sagte, die Ermordung der zwei Präsidenten falle nicht in den Aufgabenbereich des Ruanda-Tribunals. Obwohl dieser sich laut Statut um alle Verbrechen im Zeitraum des Jahres 1994 kümmern muß. Das ist in etwa so, als würde das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag eine Befassung mit dem sogenannten Racak-Massaker ablehnen.

Naja, in Den Haag wurde zwar in der Causa Milosevic über Racak verhandelt - aber ohne die Gerichtsmedizinerin, die die Leichen autopsiert hat, die Finnin Helen Ranta, vorzuladen.

Natürlich, Den Haag ist selektiv und parteiisch. Aber in Arusha wird die bloße Befassung mit diesem entscheidenen Terroranschlag abgelehnt, das ist noch ungeheuerlicher. Und man hat versucht, den UN-Bericht zu unterdrücken, und nachdem die 'National Post' ihn nach fast drei Jahren veröffentlicht hat, seine Bedeutung herunterzuspielen. Der 6. April 1994 ist nach wie vor kein Verhandlungspunkt in Arusha.

Nach der Ermordung der beiden Präsidenten ist es zu Massenabschlachtungen gekommen. Von welcher Seite und mit welcher Intention?

Es war Ausdruck von Panik in beiden Volksgruppen, von jahrhundertealtem Mißtrauen, das in einer Situation des völligen Zerfalls der öffentlichen Ordnung wieder virulent wurde. Das bestätigte mir auch General Luc Marchal, damals Kommandeur des belgischen Blauhelmkontingents in Kigali. Die Reste der Übergangsregierung forderten vom Sicherheitsrat zusätzlich 5000 UN-Soldaten, um die Sicherheitslage zu verbessern, und einen Stop der von Uganda unterstützten RPF-Offensive.

Die Regierung selbst forderte neue UN-Truppen an, also eine internationale Intervention? Das tut man ja nicht, wenn man ungestört einen Völkermord durchführen will.

Eben. Doch der Sicherheitsrat unternahm nichts - außer ein Waffenembargo zu verhängen. Das bewirkte, daß die ruandischen Armee keine Waffen mehr bekam - selbst die schon bezahlten Lieferungen blieben aus-, während sich die Tutsi-Rebellen weiter über Uganda versorgen konnten. Die USA stellten sich ganz offen auf deren Seite: Am 10. Mai 1994 rief Prudence Bushnell, damals im US-Außenministerium zuständig für Afrika, aus der US-Botschaft in Nairobi im Hauptquartier der ruandischen Armee an und forderte die bedingungslose Kapitulation - "Ansonsten kämpft ihr nicht nur gegen die RPF, sondern auch gegen die USA". Ende Juni / Anfang Juli floh die Regierung aus Kigali, französische Einheiten deckten ihren Rückzug und konnten sich dabei auf ein UN-Mandat stützen. Daraus wurde später gemacht, sie hätten die Völkermörder geschützt.

Zurück zur Frage: Wer ermordete wen?

Es gibt keine umfassenden Untersuchung darüber. Die Angaben der verschiedenen Seiten gehen weit auseinander. Die niedrigste Schätzung liegt bei 70.000 Toten, die gängige Zahl bei 800.000.

Die derzeitige Tutsi-Regierung spricht von 1,2 Millionen Opfern, davon 800.000 Tutsi und 400.000 Hutu. Daß sie den Hutu ein Drittel der Ermordeten zubilligen, ist immerhin bemerkenswert. Aber es kann nicht stimmen, daß 800.000 Tutsi ermordet wurden - das war nämlich die Gesamtzahl ihrer Population, dann dürfte jetzt niemand mehr übrig sein.

Umgekehrt gehen Repräsentanten der Hutu davon aus, in jenem Jahr seien zwei Millionen ihrer Leute von der RPF ermordet worden. Der Chef des UN-Flüchtlingswerks UNHCR, ein gewisser Robert Gersony, kam nach einer Untersuchung vor Ort zum Schluß, daß die RPF bei ihrem Vormarsch auf Kigali zwischen 25.000 und 45.000 Hutu umgebracht hat. Auch Gersonys Bericht wurde von der UN unter Verschluß gehalten, weil sie nach der Machtergreifung durch die RPF "die neue Regierung nicht in Schwierigkeiten bringen wollte" - so ein hoher UN-Beamter gegenüber 'The National Post'.

Wie ist die Situation heute?

Ruanda ist ein Land ohne Demokratie. Die RPF ist nicht bereit, Wahlen abzuhalten, weil das Volk "noch nicht reif" sei. 100.000 Gefangene warten seit fast zehn Jahren auf ihren Prozeß, angeblich allesamt Völkermörder, natürlich alles Hutu. Tutsi-Truppen stehen tief im benachbarten Kongo. So wie die großalbanische Politik auf dem Balkan, so sichert die Expansion der Tutsi in Zentralafrika das Terrain für die USA.

Danke für das Gespräch.

 

Interview: Jürgen Elsässer
Nachveröffentl. aus: 'junge welt', 21. 07. 2003

 

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