30.04.2003

Leben und körperliche Unversehrtheit
haben keine Priorität
gegenüber ökonomischen Interessen

Argentiniens ludditische* Herrscher

1812 überfielen in England ganze Banden von Webern u. Strickern die Textilfabriken. Mit Hämmern zerstörten sie die industriell produzierenden Maschinen. Die Ludditen* glaubten, die neuen mechanischen Webstühle hätten schon tausende Jobs gekostet u. die Communities zerstört. Daher gehörten diese Maschinen vernichtet. Die britische Regierung war anderer Meinung. Sie holte sich 14.000 Soldaten - zur brutalen Niederschlagung der Arbeiterrevolte bzw. zum Schutz der Maschinen.

Zwei Jahrhunderte später in einer Textilfabrik in Buenos Aires - der Brukman-Fabrik, wo man seit 50 Jahren Männeranzüge produziert. Hier ist die Situation exakt umgekehrt: Antiaufruhr-Polizisten zerstören Nähmaschinen und gehen auf 58 Arbeiterinnen los, die ihr Leben riskieren, um ihre Maschinen zu retten. Am Montag, 22.04., war die Brukmann-Fabrik Schauplatz der schlimmsten Repression, die Buenos Aires seit fast einem Jahr gesehen hat. Mitten in der Nacht werfen Polizeieinheiten alle Arbeiterinnen aus ihrer Fabrik. Der ganze Block wird in eine einzige Militärzone verwandelt, die mittels scharfer Hunde u. Maschinengewehr verteidigt wird. Die Arbeiterinnen können nicht zurück in ihre Fabrik, um einen Auftrag von über 3000 Hosen zu erledigen. Also bringen sie Massen von Unterstützern auf die Beine und verkünden: Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Am nächsten Tag gegen 17 Uhr nähern sich 50 Näherinnen mittleren Alters mit konservativem Haarschnitt, blauer Schürze u. robustem Schuhwerk dem Zaun, den die Polizei aufgestellt haben. Jemand schubst, der Zaun kippt, und die Brukman-Arbeiterinnen - Arm in Arm und unbewaffnet - gehen langsam hindurch. Schon nach wenigen Schritten feuert die Polizei: Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse - dann scharfe Munition. Selbst die 'Mütter der Plaza de Mayo', mit ihren weißen Kopftüchern, auf denen die Namen ihrer "verschwundenen" Kinder eingestickt sind, werden angegriffen. Unter den Demonstranten kommt es zu dutzenden Verletzten.

Eine kurze Momentaufnahme aus Argentinien - weniger als eine Woche vor der Präsidentschaftswahl. Jeder der fünf Hauptkandidaten verspricht, das krisengeschüttelte Land wieder in Lohn und Brot zu bringen. Die Brukman-Arbeiterinnen aber behandelt man, als sei das Nähen eines grauen Anzugs ein Kapitalverbrechen. Woher dieser Staats-Luddismus, diese Maschinenstürmerei? Brukman ist nicht irgendeine Fabrik. Es ist eine 'fabrica ocupada' - eine von fast 200 Fabriken Argentiniens, die in den vergangenen 18 Monaten von Arbeitern übernommen wurden und nun durch diese betrieben werden. Mittlerweile sehen viele in diesen Fabriken (die landesweit schon 10 000 Menschen beschäftigen u. alles produzieren, angefangen von Traktoren bis hin zur Eiscreme) nicht allein mehr eine ökonomische Alternative, vielmehr auch eine politische. "Sie haben Angst vor uns. Wir haben gezeigt, wenn man eine Fabrik managen kann, kann man auch ein Land managen", so Montagnacht Brukman-Arbeiterin Celia Martinez. "Deshalb hat die Regierung sich entschlossen, uns niederzumachen". Auf den ersten Blick ist Brukman eine Kleiderfabrik wie jede andere auf dieser Welt: eine Fabrik voller Frauen, die gebeugt und mit angestrengten Augen über ihren Nähmaschinen sitzen und die flinken Finger über Faden und Stoff laufen lassen - so sieht es überall aus, ob nun in einer der hypermodernen mexikanischen 'maquiladoras' oder in einer jener verfallenden Mantelfabriken Torontos. Der Unterschied besteht in der Geräuschkulisse. Neben dem typischen Lärm der Maschinen u. zischendem Dampf hört man hier bolivianische Volksmusik - aus einem kleinen Kassettenrecorder, der im hinteren Teil des Raumes steht. Die Stimmen klingen weich, wenn erfahrene Arbeiterinnen jungen Arbeiterinnen die neuen Stiche erklären. "So etwas haben sie uns früher nie erlaubt", sagt Ms. Martinez. "Wir hätten nicht einfach von unserem Arbeitsplatz aufstehen dürfen oder Musik hören. Aber warum soll man nicht Musik hören? Das hebt die Stimmung doch ein bißchen".

In Buenos Aires wird jede Woche eine neue Besetzung bekannt: ein Vier-Sterne-Hotel, das von seinem Reinigungspersonal übernommen wird, ein von seinen Angestellten übernommener Supermarkt, oder eine regionale Fluglinie, die von ihren Piloten und Flugbegleitern in eine Kooperative umgewandelt wird. Schon werden überall in der Welt in kleinen trotzkistischen Zeitungen die besetzten argentinischen Fabriken - wo Arbeiter sich die Produktionsmittel aneignen - leichtfertig als Morgendämmerung der sozialistischen Utopie bejubelt. Die großen Business-Magazine indes - 'The Economist' zum Beispiel - sprechen ominös von einer Bedrohung des geheiligten Prinzips 'Privateigentum'. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Nehmen wir zum Beispiel Brukman. Hier hat man sich keineswegs der Produktionsmittel bemächtigt. Vielmehr hat man diese einfach übernommen, nachdem die legalen Besitzer sie im Stich ließen. Seit Jahren war es mit der Fabrik bergab gegangen. Die Schulden bei den Stadtwerken hatten sich angehäuft. Die Näherinnen mussten mitansehen, wie ihr Wochenlohn von 100 Pesos auf lächerliche 2 Pesos schrumpfte (was nicht mal mehr für den Bus reichte). Am 18. Dezember (2001) hatten die Arbeiter beschlossen, eine Fahrkostenerstattung zu verlangen. Aber die Besitzer sagten, sie hätten kein Geld, seien arm. Dann sagten sie, die Arbeiter sollten vor der Fabrik warten, man werde das Geld beschaffen. "Wir warteten, bis es nacht wurde", so Ms. Martinez, "aber niemand kam". Schließlich holten sich Ms. Martinez u. die andern beim Pförtner den Schlüssel und übernachteten in der Fabrik. Seither leiten sie die Fabrik. Die offenen Rechnungen wurden beglichen, man hat neue Kunden geworben u. kann sich mittlerweile regulären Lohn bezahlen - schließlich leistet man sich keine kostspielige Geschäftsführung mehr und braucht sich auch keine allzugroßen Sorgen über die Profite zu machen. Alle Entscheidungen wurden in offener Versammlung mittels Abstimmung getroffen. "Ich weiß nicht, weshalb die früheren Besitzer sich so schwer getan haben", so Ms. Martinez. "Ich verstehe zwar nicht viel von Buchführung, aber es ist doch ganz einfach: addieren und subtrahieren".

Inzwischen ist Brukman in Argentinien zum Symbol für eine neue Art von Arbeiterbewegung geworden. Deren Stärke beruht nicht auf der Macht zur Arbeitsverweigerung (traditionelle Gewerkschaftstaktik) vielmehr auf dem Prinzip des Weiterarbeitens auf Teufel komm raus. Hier geht's nicht um Dogmatismus sondern um reinen Realismus. In einem Land, in dem 58 Prozent der Bevölkerung arm sind, ist den Arbeitern klar - wenn ein Monatslohn ausfällt, muß man betteln geh'n oder Müll sammeln, um nicht zu verhungern. Das Gespenst, das in Argentiniens besetzten Fabriken umgeht, ist nicht das des Kommunismus, vielmehr das der Armut. Aber ist es nicht trotzdem Diebstahl? Ich meine, schließlich haben nicht die Arbeiter sondern die Fabrikbesitzer die Maschinen gekauft. Folglich haben die Besitzer auch das Recht, über die Maschinen zu verfügen - sie zu verkaufen oder ins Ausland zu transferieren. Wie hat es der (argentinische) Bundesrichter in seinem Räumungsbefehl für Brukman doch ausgedrückt: "Leben und körperliche Unversehrtheit haben keine Priorität gegenüber ökonomischen Interessen". Wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein, hat dieser Richter die nackte Logik der deregulierten Globalisierung auf einen Nenner gebracht: Das Kapital muß immer die Freiheit haben, sich die miesesten Löhne und die besten Bedingungen auszusuchen - ganz gleich, was das für die Menschen bedeutet. Die Arbeiter in den besetzten Fabriken Argentiniens sehen das ganz anders. Ihre Anwälte argumentieren, die früheren Fabrikbesitzer hätten gegen fundamentale Marktprinzipien verstoßen, indem sie weder ihre Arbeiter noch ihre Gläubiger bezahlten - und nebenbei auch noch fette Staatssubventionen kassierten. Folglich wäre es eigentlich Aufgabe des Staats, darauf zu beharren, daß, was von den verschuldeten Fabriken noch übrig ist, der Öffentlichkeit zugute kommt und dauerhafte Jobs produziert. Dutzenden Arbeiter-Kooperativen (in Argentinien) ist es bereits gelungen, ihre Fabriken gerichtlich enteignen zu lassen. Bei Brukman ist der Kampf noch nicht entschieden.

Eigentlich, wenn man darüber nachdenkt, argumentierten die Ludditen im Jahr 1812 ganz ähnlich. Die neuen Textilfabriken hatten damals wenigen Leuten hohe Profite eingebracht und der Allgemeinheit geschadet. Die damaligen Textilarbeiter kämpften gegen diese destruktive Logik, indem sie die Maschinen zerstörten. Der Plan der Brukman-Arbeiterinnen allerdings ist besser: Sie schützen die Maschinen u. zerstören die Logik.

 

Naomi Klein

Naomi Klein ist Autorin von 'No logo' und 'Fences and Windows' (deutscher Titel: 'Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront')

Anmerkung der Übersetzerin:
* Ned Ludd war Anführer der sogenannten 'Maschinenstürmer' (Luddisten), die sich im England des frühen 19. Jahrhunderts gegen die Anfänge der 'Industriellen Revolution' wehrten.

 

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