Am 12. September 1986 wurde bei einem Brand auf dem Gelände der GKSS in Geesthacht Radioaktivität freigesetzt
Eine seit 1990 extrem erhöhte Leukämie-Rate in der Nähe des AKW Krümmel und der benachbarten GKSS Geesthacht ist nicht mehr wegzuleugnen. 1992 setzten die Landesregierungen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein Kommissionen mit international anerkannten WissenschaftlerInnen ein, um - so die offizielle Begründung - die Ursachen zu erforschen und um - wie so oft - damit das Problem auf die lange Bank zu schieben. Zugleich wurden die WissenschaftlerInnen bei ihren Untersuchungen von Anfang an systematisch behindert.
"Systematische Behinderung" war denn schließlich auch die Begründung, warum sechs der acht Mitglieder der schleswig- holsteinischen Kommission "Leukämie" am 1. November 2004 unter Protest ihre Arbeit aufkündigten.1 Es kam zu einem unübersehbaren Eklat, der sicherlich dazu betrug, daß Ministerpräsidentin Heide Simonis bei der wenige Monate darauf folgenden Landtagswahl kläglich scheiterte. Simonis hatte geglaubt, die Sache aussitzen zu können und hatte als Reaktion auf den Skandal die Akten schließen lassen.
Dennoch kamen nach und nach immer mehr Fakten ans Tageslicht. Eines der stärksten Indizien sind inzwischen Bodenproben, die Ende des Jahres 2004 im Bereich des AKW Krümmel und der GKSS entnommen und an der Minsker Sacharow-Universität von einem international renommierten Experten der Plutoniumverortung analysiert wurden. Prof. Mironov kommt zum Ergebnis, daß die gefundenen erhöhten Plutonium- und Thoriumkonzentrationen so in der Natur nicht vorkommen, sondern künstlich hergestellt sind.
In den Jahren zuvor waren immer wieder Bodenproben mit überhöhter Radioaktivität, die an die Behörden zur Überprüfung eingereicht worden waren, an einschlägig bekannte Institute weitergeleitet und als harmlos qualifiziert worden: "Wurmkot" war unter anderem deren Analysebefund. Die neuerliche Untersuchung ist insbesondere dem Engagement der 'Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch' und der Internationalen Ärzteorganisation gegen den Atomkrieg IPPNW zu verdanken, die sich von der Blockadepolitik der Landesregierungen nicht hatten entmutigen lassen und die die nötigen finanziellen Mittel aufbrachten.
Nach den neuen Untersuchungsergebnissen wird der Fall nun selbst in Mainstream-Medien wie dem 'Saar Echo' und der 'Frankfurter Rundschau' als "schockierend" und als "Skandal, der in Deutschland seinesgleichen sucht" bezeichnet. In der 'Frankfurter Rundschau' heißt es zudem: "Der Befund scheint eindeutig. Hier liegt ein Unfall vor, der nicht sein kann, weil er nicht sein darf. Und also nach Kräften und von vielen Beteiligten vertuscht wurde. Dabei taten auch Politiker aus als atomkraft-kritisch geltenden Parteien wie SPD und - ja! - Grünen mit. Dergleichen lässt die Skepsis von Menschen verständlich erscheinen, die aus einem Gefühl von Ohnmacht nicht mehr zur Wahl gehen."
In den Jahren seit 1992 hatte die Kommission bereits andere mögliche Ursachen für die Leukämie untersucht. Düngemittel, Pestizide, chemische oder andere Umweltgifte waren wegen der besonderen Umstände nach und nach als mögliche Ursachen ausgeschlossen worden. Die Funde kleiner Kügelchen, sogenannter Mikrosphären, waren weitere Indizien, daß das AKW Krümmel allenfalls als Mitverursacher in Frage kam. Ins Zentrum der Untersuchungen der Kommission rückte daher der Brand auf dem Gelände der GKSS Geesthacht in unmittelbarer Nähe des AKW Krümmel, der sich am Freitag, 12. September 1986, ereignet hatte. Auskünfte über diesen Brand, nur 30 Kilometer von der Metropole Hamburg entfernt, ist bis heute von der Feuerwehr Geesthacht nicht zu erhalten: Alle Einsatzprotokolle von September 1986 seien bei einem Brand ausgerechnet "im Aktenschrank der Feuerwache" vernichtet worden.
Der ehemalige Vorsitzende der Kommission, Prof. Wassermann und seine KollegInnen äußern den Verdacht, daß die Mikrosphären und die in den Bodenproben enthaltenen Spalt- und Aktivierungsprodukte, Transurane (Plutonium und Americium) und weitere Kernbrennstoffe (angereichertes Uran und Thoriumderivate) von einem Unfall bei illegalen Versuchen herrühren. Art und Aufbau der Mikrosphären deuten demnach darauf hin, daß sie aus einer Hybridanlage stammen, bei der Kernreaktionen zur Energiefreisetzung genutzt werden sollten. Dies alles deutet darauf hin, daß mit der völkerrechtswidrigen Herstellung von Mini-Atombomben experimentiert worden war. Der Zeitpunkt des Brandes im September 1986 paßt zudem exakt zu den vier Jahre später gehäuft auftretenden Leukämiefällen. Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der 'Gesellschaft für Strahlenschutz' (GfS), konnte jedoch bisher lediglich auf anonyme Augenzeugenberichte vom Herbst 1986 verweisen, nach denen es auf dem "Hochufer", wo sich die Kernforschungsanlage GKSS befindet, einen großen Brand gegeben hat.
In einem am gestrigen Sonntag um 23.30 Uhr vom ZDF ausgestrahlten Dokumentarfilm von Angelika Fell und Barbara Diekmann äußern sich nun doch erstmals Augenzeugen öffentlich, die das "seltsame blau-grüne Feuer" bei der GKSS gesehen haben. Unbestreitbar ist zudem ein Alarm im AKW Krümmel am 12. September 1986, der durch die Messung erhöhter Radioaktivität ausgelöst worden war. Der Leiter der Anlage meldete allerdings routinemäßig, es bestehe "kein Grund zur Unruhe". Als Ursache für die erhöhte Radioaktivität im Umfeld des AKW Krümmel wurde von den Behörden zunächst behauptet, diese sei durch einen "Aufstau natürlichen Radons" entstanden. Diese Erklärung wurde von der Kommission als "absurd" zurück gewiesen.
Bei ihren Recherchen stießen auch die Autorinnen des Dokumentarfilms zunächst auf eine Mauer des Schweigens und der Ablehnung. Bestimmte Meßergebnisse sind bis heute "top secret" und Zeugen wollten unerkannt bleiben. Doch mit dem öffentlich-rechtlichen ZDF im Rücken konnten sie Statements hervorlocken, die bislang allenfalls hinter vorgehaltener Hand zu hören waren. So gelang es ihnen auch, weitere WissenschaftlerInnen zu finden, die unabhängig von der Atom-Mafia und unabhängig voneinander zum Schluß kamen: Die in der Nähe der Atomanlagen massenhaft gefundenen Mikrosphären können tödliche Wirkung haben - sie enthalten unter anderem Uran aus Wiederaufarbeitungsanlagen.
Daß sich ein "Kartell des Schweigens" (Frankfurter Rundschau) rund um den Unfall im September 1986 gebildet hatte, ist im übrigen nicht allein auf den heiklen Zusammenhang mit der Atombombe zurückzuführen. Nur ein halbes Jahr zuvor, am 26. April 1986, hatte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl europaweit zu einem Anwachsen der Anti-Atom-Bewegung geführt. In Italien beispielsweise kam es umgehend zum Atomausstieg und in Schweden entschied sich nach einem Volksentscheid, bei dem sich eine Mehrheit für den Atomausstieg ausgesprochen hatte, 1991 auch der schwedische Reichstag dafür. Dennoch sind bis heute in Schweden erst zwei von insgesamt 12 Reaktoren stillgelegt worden. Prozentual ist dieses Ergebnis immerhin "konsequenter" als der deutsche "Atomausstieg". Unbestreitbar ist jedoch, daß in Deutschland der Druck auf die Bundesregierung, die Atomkraftwerke stillzulegen, erheblich gestiegen wäre, wenn der Unfall vom 12. September 1986 nicht hätte vertuscht werden können. "Das Geständnis eines Unfalls (...) hätte den Atomenergie-Konzernen das Geschäft vermutlich auf Dauer verdorben", so die 'Frankfurter Rundschau'.
Dies gilt um so mehr, wenn es bei dem vertuschten Unfall im September 1986 tatsächlich um Experimente zur Entwicklung von Mini-Atombomben gegangen ist. Dieser Verdacht ist keineswegs so abwegig, wie es vor dem Hintergrund der aktuellen Empörung westlicher Regierungen um die kaum wegzuleugnenden Atombombenpläne der iranischen Regierung erscheinen mag. Die Ärzteorganisation IPPNW wies erst kürzlich in einer Studie nach, daß alle Staaten, die ein Programm zur sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie starteten, ohne Ausnahme auch zugleich Pläne zum Bau der Atombombe verfolgten.
Es sei daran erinnert, daß der frühere Unions-Kanzlerkandidat und Atomminister unter Adenauer, Franz Joseph Strauß, in seiner Autobiographie unumwunden offen legte: Bereits 1958 hatten der deutsche, der französische und der britische Außenminister bei einem Geheimtreffen ein Abkommen zur geheimen Produktion von Atomwaffen unterzeichnet. Ebenso ist bekannt, daß in dem während der "rot-grünen" Regierungszeit in Betrieb genommenen Reaktor Garching 2 mit atomwaffenfähigem Uran hantiert wird. Die IAEO hatte - noch unter ihrem früheren Vorsitzenden Hans Blix gefordert, daß auf den Einsatz hochangereicherten Urans in Garching 2 verzichtet wird. Dieser Forderung schloß sich der heutige Vorsitzende der IAEO, Mohammed al-Baradei, vor wenigen Jahren an. Doch selbst der Protest der USA an die deutsche Bundesregierung, in dem klar von einem Bruch des Non-Proliferations-Abkommens die Rede ist, blieb wirkungslos.
Klaus Schramm
Anmerkungen
1 Siehe auch unseren Artikel
Rücktritte wegen skrupelloser
Pro-Atom-Politik von Simonis (1.11.04)