1.05.2004

Erklärung

Zum 1. Mai
Europaweite Solidarität

Vor einem Jahr hatten wir zur Selbstorganisation aufgerufen angesichts des entschiedenen "Jein" der Gewerkschafts- führung (deren letztjähriges Motto zum 1. Mai war: "Reformen Ja! Sozialabbau Nein Danke!"). Unser Appell richtete sich an Gewerkschaftsbasis, Arbeitslosenorganisationen, Anti- Globalisierungs-, Friedens- und Anti-AKW-Bewegung. Und, ganz klar: Ein Kampf gegen Sozialabbau würde ein Kampf gegen "Rot-Grün" bedeuten.

Am 1. November gelang es dann, ohne gewerkschaftliche Unterstützung über 100.000 Menschen gegen den "rot-grünen" Sozialabbau auf die Beine zu bringen. Eine gemeinsame Perspektive war zwar noch nicht erkennbar, aber immerhin machten die DemonstrantInnen klar, daß sie nicht länger bereit waren, sich mit "Agenda 2010" und "Reformen" zum Narren halten zu lassen. Seit dem 1. November durchschauen immer mehr Menschen die Politik von "Rot-Grün" als Politik des Sozialabbaus. Sie lassen sich den Abbau nicht länger als "Umbau des Sozialstaats" verkaufen.

Auch der Nimbus von Superminister Hans Eichel verflüchtigte sich angesichts immer höherer Schuldenberge. Mehr als zehn Jahre lang hatte sich das untere Drittel der Gesellschaft mit dem Versprechen wirtschaftlicher und finanzpolitischer Stabilität und mit der Hilfe der Gewerkschaften zum Stillhalten überreden lassen. Trotz stetig wachsender Verteilungsmasse blieb für die Arbeitnehmer ihr Stück vom Kuchen gleichbleibend klein. Die Arbeitslosigkeit stieg entgegen den Versprechungen weiter an. Desillusionierung macht sich breit. Und das ist ein Hoffnungsschimmer: "Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf." (Karl Marx)

Der Ablösungsprozeß der Gewerkschaftsbasis von der SPD beschleunigte sich, immer mehr einfache SPD-Mitglieder gaben ihr Parteibuch zurück. Und Schröder wußte sich Anfang Februar nur noch mit einem weiteren PR-Trick zu helfen: Müntefering mit dem roten Schal wurde sein Nachfolger als SPD-Vorsitzender. Das sollte glauben machen, in der SPD habe Soziales noch irgendein Gewicht. Doch allzu schnell mußte auch Müntefering Farbe bekennen. Auch er mußte ein öffentliches Bekenntnis zum Festhalten an der "Agenda 2010" ablegen. Denn diejenigen, die die Macht haben, halten "Rot-Grün" nur aus einem Grund an der Regierung: Sozialabbau scheint ihnen so leichter zu "kommunizieren". Unter einer schwarzen Regierung wäre der Widerstand allemal größer.

Als die Mobilisierung auf den europäischen Tag gegen Sozialabbau, den 3. April, durch Anti-Globalisierungs- Bewegung, attac und Teile der Friedensbewegung immer mehr Schwung bekam, konnte auch der DGB und die Gewerkschaftsführung nicht länger tatenlos - und vor allem sprachlos - beiseite stehen. In gewohnter Manier versuchten sich Gewerkschaftsbonzen wie der "grüne" Bsirske an die Spitze der Bewegung zu setzen. Während sie in den Vorbereitungen die vordersten Positionen auf den Redelisten okkupierten, traten sie zugleich bei der Mobilisierung auf die Bremse. Bei der Organisation der drei Kundgebungen in Berlin, Köln und Stuttgart leisteten sie sich unglaubliche "Fehler", so daß ein Großteil der DemonstrantInnen nicht oder nicht rechtzeitig an den Kundgebungen teilnehmen konnten. Wolfgang Pohrt erinnerte in einem gestern veröffentlichten Interview zu Recht daran, daß "deren oberstes Ziel es stets war und ist, jeden entschlossenen Protest im Keim zu ersticken".

Weiterhin sehen Gewerkschaftsbonzen ihre Aufgabe vornehmlich darin, den Protest auf die schwarze Opposition abzulenken. Doch diese Taktik verfängt nicht mehr. Was der SPD-Delegierte Klaus Schüler aus Eisenach seinem neuen Parteivorsitzenden Müntefering vorhielt, macht die Runde in SPD- und Gewerkschafts-Kreisen: "Wir können nicht argumentieren: Ihr könnt die CDU nicht wählen, die amputiert Euch zwei Beine. Wählt die SPD, die amputiert euch nur eins."

Klarheit über die Rolle der Gewerkschaftsbonzen darf jedoch nicht zu Feindschaft gegen die Gewerkschaften führen. Menschen aus den sozialen Bewegungen und aus den Resten der Linken müssen ihre Verantwortung erkennen und gemeinsam zupacken. Wir dürfen die Gewerkschaftsbasis nicht ausgegrenzen, im Gegenteil: Wir müssen die Zusammenarbeit verstärken. Dazu bieten die dezentralen Demonstrationen am 1. Mai einen idealen Anknüpfungspunkt.

Ebenso wenig wie eine illusionslose Sicht auf die oberen Ränge der Gewerkschaftsbürokratie zu einem Bruch mit den Gewerkschaften führen darf, hilft die derzeit losgetretene Diskussion um die Gründung einer neuen linken Partei. Gleichgültig welche Erfolgsaussicht einem solchen Projekt angesichts einer SPD eingeräumt wird, die sich bereits an Möllemanns "Projekt 18" orientieren muß, jede Stunde Engagement für eine neue Partei wäre eine Stunde Fehlinvestition. Das linke Lager jenseits der von Schröder nach dem Vorbild von "New Labour" neoliberal gewendeten SPD ist nach wie vor stark zersplittert. Angesichts einer sozialdemokratisch-keynesianistischen und einer antikapitalistischen Grundstömung, die einen unvermittel- baren Widerspruch repräsentieren, ließe sich eine Partei nur um den Preis einer Beschränkung auf eine dieser beiden Richtungen oder auf der Grundlage fauler Formel- kompromisse gründen. Nur der weitere gemeinsame Kampf gegen Sozialabbau kann die Positionen klären und zu einer tragfähigen gemeinsamen Grundlage für die Zukunft führen.

Die Entscheidung zwischen sozialdemokratischer oder antikapitalistischer Ausrichtung kann sich einerseits in einer neu auflebenden offenen Streitkultur bei einer Klärung der theoretischen Ansätze herauskristallisieren. Zugleich kann die Entscheidung jedoch auch in der Praxis dadurch fallen, daß weiterer Sozialabbau entweder durch die Rückkehr zur sozialstaatlich geprägten kapitalistischen Wirtschaft nach dem Idealbild einer "sozialen Marktwirtschaft" oder durch eine (historisch bisher noch nie verwirklichte) Vergesellschaftung der Produktionsmittel gestoppt wird. Sollte weder das eine noch das andere gelingen, führt der Weg eines immer weniger durch Gesetze oder Verträge gezügelten Kapitalismus in die Barbarei.

Wohin führt die Ost-Erweiterung der EU?

Auch wenn wir eine anti-nationalistische Position vertreten, das Zusammenwachsen Europas und den Abbau von Grenzen begrüßen, müssen wir uns nüchtern fragen, wem die jetzige Art und Weise der EU-Erweiterung vorrangig nützt. Die sozialen Standards in allen zehn neuen EU-Staaten sind erheblich niedriger als der Durchschnitt der bisherigen 15 EU-Staaten. Im Gegensatz zu allen bisherigen EU-Erweit- erungen sind diesmal keine nennenswerten Ausgleichs- maßnahmen vorgesehen. Die extrem niedrigen Löhne in den Beitritt-Staaten können mehr noch als zuvor benutzt werden, um die Menschen gegeneinander auszuspielen und die Löhne in ganz Europa zu drücken.

Die neue EU-Verfassung ist zwar nur ein Stück Papier und am Beispiel der historischen Entwicklung des deutschen Grundgesetzes läßt sich ablesen, wie die Normen je nach Lage der Fakten zurechtgebogen und umgeschrieben werden können. Um so erschreckender ist, wie ungeschminkt in diesem Papier die Richtung angezeigt wird, in die es gehen soll: Das Wirtschaftssystem soll als unveränderlich und jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen festgeschrieben werden und die Steigerung der militärischen Ausgaben erhält Verfassungsrang.

Ob die Rechnung der großen Konzerne aufgehen wird, die sich von der EU-Erweiterung in erster Linie zusätzliche Absatzmärke versprechen, ist äußerst fraglich. Auch die "Ost-Erweiterung" Deutschlands erfüllte nicht die darin gesetzten wirtschaftlichen Hoffnungen, sondern erwies sich als Faß ohne Boden. Um eine Überproduktions-Krise durch zusätzliche Absatzmärkte kurieren zu können, bedarf es nicht allein der Märkte, sondern auch der entsprechenden Nachfrage. Nachfrage kann jedoch nur wachsen, wenn die Menschen in den neuen EU-Ländern entsprechend mehr verdienen. Wenn nicht pro Kopf, dann auf die gesamten zehn Staaten gerechnet. Soll die Produktion allerdings nicht noch mehr gesteigert, sondern nur innerhalb der nunmehr 25 EU-Staaten verlagert werden, verteilt sich die vorhandene Kaufkraft nur anders, wächst aber nicht. Im Gegenteil: Werden EU-weit die Löhne gedrückt, sinkt insgesamt die Kaufkraft und die Überproduktionskrise verschärft sich weiter.

Möglicherweise ist die Rede von den zusätzlichen Absatzmärkten jedoch bloße Propaganda und die Mächtigen spekulieren ausschließlich auf zwei recht kurzfristige Effekte: Erstens, daß die Produktionskosten durch Lohndumping gesenkt werden können. Zweitens, daß die EU mit der Förderung der Beitritt-Staaten in Höhe von jeweils 20 Milliarden Euro in den kommenden zwei Jahren einen künstlichen Absatz schaffen wird. Letzters ist jedoch wiederum lediglich eine Umverteilung. Zum Vergleich: Seit 1991 pumpte der deutsche Staat jährlich rund 50 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer, ohne daß sich die einstmals versprochenen "blühenden Landschaften" realisieren ließen. Dabei handelt es sich bei der Ost-Erweiterung Deutschlands um 17 Millionen, bei der Ost-Erweiterung der EU jedoch um rund 75 Millionen EinwohnerInnen.

Damit es in Europa nicht zu einer Entwicklung kommt wie der nach der Ost-Erweiterung Deutschlands, dürfen sich die Menschen nicht gegeneinander ausspielen lassen. Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Verhältnisse ist Solidarität - und dabei zentral: eine verstärkte gewerkschaftliche Zusammenarbeit und europäische Tarifpolitik. Wenn es möglich war, europaweit gemeinsam gegen den Irak-Krieg zu demonstrieren - warum soll es nicht möglich sein, europaweit gegen Sozialabbau zu streiken? Warum soll es nicht möglich sein, europaweit für höhere Löhne, für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse zu streiken?

Das wär doch wohl nicht so dumm, fragen wir in aller Bescheidenheit.

 

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