Betroffene fordern Rehabilitierung
und warnen vor neuerlichem Demokratieabbau
Vor 30 Jahren, am 28. Januar 1972, beschloss die
Ministerpräsidenten- konferenz unter
Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den sogenannten
"Radikalenerlass": Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten "Personen,
die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische
Grundordnung einzutreten", aus dem Öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden.
Mithilfe der "Regelanfrage" wurden etwa 3,5 Millionen Bewerber und Anwärter vom
Verfassungsschutz auf ihre politische Zuverlässigkeit durchleuchtet. In der Folge
kam es zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren,
1.250 Ablehnungen von Bewerbern und 265 Entlassungen. Formell richtete sich der Erlass
gegen "Links- und Rechtsextremisten"; in der Praxis traf er vor allem
Linke: Mitglieder der nicht verbotenen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und
anderer linker Gruppierungen, von Friedens- organisationen bis hin zu
SPD-nahen Studentenorganisationen. Mit dem verfassungsfremden
Kampfbegriff der Verfassungsfeindlichkeit wurden missliebige und
systemkritische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gerückt, wurde die
Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit bedroht und
bestraft.
Der Radikalenerlass führte zum Berufsverbot für
Tausende von Lehrern, Lehramtsbewerbern, Sozialarbeitern, Briefträgern,
Lokführern und Juristen. Bis weit in die 80er Jahre vergiftete die staatlich betriebene Jagd
auf vermeintliche "Radikale" das politische Klima. Der Radikalenerlass führte zur
Einschüchterung nicht nur der aktiven Linken. Die existentielle Bedrohung durch die
Verweigerung des erlernten oder bereits ausgeübten Berufes diente der Unterdrückung und
Einschüchterung von außerparlamentarischen Bewegungen insgesamt. Statt
Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert.
Erst Ende der 80er Jahre zogen sozialdemokratisch geführte Landesregierungen die
Konsequenz aus dem von Willy Brandt selbst eingeräumten "Irrtum" und schafften die
entsprechenden Erlasse in ihren Ländern ab. Einige der früher abgewiesenen oder
entlassenen Anwärter oder Beamten wurde - meist als Angestellte - übernommen. Viele
mussten sich, nach zermürbenden und jahrelangen Prozessen, beruflich anderweitig
orientieren. Ein öffentliches Eingeständnis, dass der Radikalenerlass Tausenden von
Menschen die berufliche Perspektive genommen und sie in
schwerwiegende Existenzprobleme gestürzt hatte, unterblieb. Eine
materielle, moralische und politische Rehabilitierung der Betroffenen fand nicht statt.
Eine politische Auseinandersetzung über die schwerwiegende Beschädigung der
demokratischen Kultur durch die Berufsverbots- politik steht bis heute aus. Sie wäre
heute dringlicher denn je. Die derzeit geschnürten "Sicherheitspakete" beinhalten die
Gefahr, dass erneut unter einem Vorwand - dieses Mal der Bekämpfung des
Terrorismus - wesentliche demokratische Rechte eingeschränkt werden. Erneut können
kritische Personen und Bewegungen ausgegrenzt und an den Rand der Legalität
gedrängt werden.
Der Radikalenerlass und die ihn stützende Rechtsprechung bleiben juristisches,
politisches und menschliches Unrecht. Wir, Betroffene des Radikalenerlasses der 70er
und 80er Jahre, fordern von den Verantwortlichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und
Ländern unsere vollständige Rehabilitierung. Wir fordern die Herausgabe und
Vernichtung der Verfassungsschutzakten, wir verlangen die Aufhebung der
diskriminierenden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen.
Anmerkung:
Siehe auch www.berufsverbote.de