Im Grunde sind mit der Frage "Was versteht ihr unter Basisdemokratie?" drei
Fragen aufgeworfen:
1. Was ist Basisdemokratie im Unterschied zur Gesellschaftsform beispielsweise
im heutigen Deutschland, die weithin als Demokratie bezeichnet wird.
2. Wie kann Basisdemokratie in kleinen Gruppen von Menschen, die davon überzeugt
sind, realisiert werden?
3. Wie kann ein Wandel der heutigen deutschen Gesellschaft in demokratische
Richtung bewerkstelligt werden und wie sieht eine Utopie von Basisdemokratie
aus?
Selbstverständlich wollen wir die heutige Gesellschaftsordnung in Deutschland,
den USA und anderen als Demokratien bezeichneten westlichen Industriestaaten
nicht mit Diktatur oder Gewaltherrschaft gleichsetzen. Zumindest in der Linken
jedoch ist unbestritten, daß sich die USA im übergangslosen Kontinuum zwischen
Demokratie und Diktatur in den letzten Jahren beschleunigt in Richtung auf eine
Diktatur verändert hat.
Der Begriff Basisdemokratie ist im Grunde nur eine Notlösung. Wir stehen in
einem Dilemma. Auf der einen Seite können wir die heutige Gesellschaftsform in
Deutschland, die de facto einem Zensuswahlrecht wie vor rund zweihundert Jahren
mehr ähnelt als der vom Grundgesetz ursprünglich vorgegebenen Ordnung, nicht als
wirkliche Demokratie akzeptieren. Auf der anderen Seite halten wir es für sehr
wertvoll, - gerade in Deutschland - an ein gewachsenes Demokratieverständnis
anknüpfen zu können. Die Erörterung der Frage, ob eine "repräsentative
Demokratie" insbesondere unter den Bedingungen des Kapitalismus eine Demokratie
in unserem Sinne sein kann, würde jedoch den hier gegebenen Rahmen sprengen.
Unter Basisdemokratie verstehen wir daher unser "Ideal" eine Demokratie und
zugleich die Ansätze zu deren Realisierung, die es heute bereits gibt.
Eines der ältesten Beispiele, daß Basisdemokratie realisiert werden kann und
funktioniert, ist die freie Schule Summerhill in England. Diese Schule wurde
1921 von Alexander S. Neill gegründet und besteht bis heute. Alles, was mit dem
Leben der SchülerInnen und LehrerInnen zusammenhängt wird, auf einer
wöchentlichen Schulversammlung durch Abstimmung geregelt. Jedes Mitglied des
Lehrerkollegiums und jedes Kind, gleichgültig wie alt es ist, hat eine Stimme.
Hier werden zwei grundlegende Prinzipien deutlich: Es gibt keine Hierarchie und
keine Delegation der Abstimmungsbefugnis. Es gibt auch keinen Guru. Weitere
Beispiele für Gruppen oder Gemeinschaften, die sich basisdemokratisch
organisiert haben, sind die Anti-Atom-Gruppe 'X-tausendmal-quer' und die
'Werkstatt für gewaltfreie Aktion, Baden'.
Die Partei 'Die Grünen' hatte bei ihrer Gründung den Anspruch erhoben,
basisdemokratisch zu sein. Sie war zumindest in den 80er-Jahren näher an diesem
Anspruch als heute. Ein großes Manko bestand jedoch schon bei der Gründung
darin, daß zwar viele, die bereits zuvor politisch aktiv waren (beispielsweise
in der Anti-Atom-Bewegung) sich mit basisdemokratischem Gedankengut vertraut
gemacht hatten, daß jedoch zugleich viele Menschen aus zum Teil äußerst
autoritär organisierten Gruppen in diese Partei strömten. Gerade die durch die
konstitutionellen Vorgaben der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht an
getroffene Entscheidungen der Parteimitglieder gebundenen ParlamentarierInnen,
konnten trotz der vorsichtshalber eingerichteten Hürden innerhalb von elf Jahren
hierarchische Strukturen und Führungspositionen schaffen und diese besetzen. Es
ist kein Zufall, daß das heutige Führungspersonal der "Grünen" durchweg seit
rund 15 Jahren in der Partei an der Macht ist.
Basisdemokratische Strukturen sind dennoch in den letzten 25 Jahren
weiterentwickelt worden. So hat sich beispielsweise zur Vernetzung lokaler
Gruppen das Instrument des SprecherInnenrats als brauchbar erwiesen. Da es nicht
immer möglich oder zweckmäßig ist, Vollversammlungen (beispielsweise landes-
oder bundesweit innerhalb Deutschlands) zu organisieren, werden zu
Koordinierungstreffen von allen beteiligten Gruppen SprecherInnen entsandt.
Diese sind nun keineswegs Delegierte und haben keine Abstimmungsbefugnis. Ihre
Aufgabe besteht darin, beispielsweise die in Abstimmungen oder Konsensverfahren
gewonnene Position der eigenen Gruppe im SprecherInnenrat zu vertreten und zu
erläutern. Andererseits sollen die Positionen aus anderen Gruppen aufgenommen
und in die eigene Gruppe getragen werden. Wie der Name also bereits
signalisiert, handelt es sich um eine rein kommunikative Funktion. Die
Kommunikation zwischen den Gruppen kann selbstverständlich zugleich
kontinuierlich durch die heute zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel wie
u.a. Email und Internet aufrecht erhalten werden. Sie sind aber immer nur ein
zweitrangiger Ersatz für den direkten menschlichen Kontakt.
Als äußerst wichtig hat sich erwiesen, daß nicht allein auf die Strukturen
geachtet wird, sondern daß alle Beteiligten zugleich "bei sich selber anfangen".
Dies bedeutet beispielsweise zu lernen, darauf zu achten und sich aktiv dafür
einzusetzen, daß alle zu Wort kommen. Ein Punkt hierbei ist die Entwicklung von
Konsensfindungsverfahren. Die 'Werkstatt für gewaltfreie Aktion, Baden' hat zu
diesem Thema eine grundlegende Broschüre erarbeitet. Wir sind allerdings der
Auffassung, daß die Frage des Konsens nicht dogmatisiert werden darf wie es in
manchen anarchistischen Gruppen geschieht. Solange mit Mehrheitsentscheidungen
nicht regelmäßig eine Mindeheitsfraktion "untergebügelt" wird, und alle in der
Gruppe gelegentliche Mehrheitsentscheidungen mittragen können, scheint uns dies
tragbar.
Es ist ein eingefleischtes Vorurteil, daß basisdemokratische
Entscheidungsprozesse viel Zeit benötigen würden. Unbestreitbar ist
Befehl-und-Gehorsam die effektivste und schnellste Kommunikation. Wenn
allerdings die Langzeitfolgen und die soziale Zerstörungskraft nicht
ausgeblendet werden, ist Demokratie schlichtweg effizienter als Hierarchie.
Daß es bereits in früheren Zeiten der Menschheitsentwicklung basisdemokratische
Gesellschaftsformen gab, belegt die Matriarchatsforschung (siehe beispielsweise
Heide Göttner-Abendroth). Ein leider auch unter FeministInnen nicht seltenes
Vorurteil besteht in der Gleichsetzung von Matriarchat und Frauenherrschaft.
Gerade das Vernetzungsprinzip der Basisdemokratie weist auf die Verwandtschaft
früherer matriarchaler und basisdemokratischer Strukturen.