Eine Schande für das alte Europa
Vorwort zum Artikel von Antoine Lerougetel
Wenn das "alte Europa" das Europa ist, das heute der Barbarei entgegensteht, das
Europa, das sich auf die Tradition der Aufklärung, des Humanismus und der unteilbaren
Menschenrechte und eine gemeinsame Kulturgeschichte, die nicht nur Musik und bildende
Künste umfaßt, beruft, ist es eine Schande für dieses Europa wie mit dem Nachlaß eines
bedeutenden Künstlers wie André Breton umgegangen wird. Unter Vermeidung öffentlichen
Aufsehens soll dessen Nachlaß versteigert und damit in alle Winde zerstreut werden.
NETZWERK REGENBOGEN schließt sich dem Protest gegen diese Versteigerung an.
Wir schließen uns diesem Protest an und betonen gleichzeitig unsere große Distanz
zur trotzkistischen "Vierten Internationale", auf deren web site der Artikel von
Antoine Lerougetel veröffentlicht wurde. Mit Leo Trotzki, der beispielsweise für
die blutige Niederschlagung des Kronstadter Volksaufstandes verantwortlich war,
verbindet uns nichts. Allerdings wäre es ebensolches kulturelles Banausentum, einen
Picasso wegen dessen zeitweiliger Unterstützung der Stalinisten wie einen Breton
wegen dessen Verbindungen zu Trotzkisten in der Versenkung des Vergessens
verschwinden lassen zu wollen.
Klaus Schramm
für
NETZWERK REGENBOGEN
Die Kunstbestände des führenden
Surrealisten André Breton sollen
versteigert werden
8. Februar 2003
aus dem Englischen (11. Januar 2003)
Am 6. November letzten Jahres kündigte ein kurzer Artikel in der
französischen Tageszeitung Libération an, dass die gesamten
Kunstbestände von André Breton in seiner Wohnung in der Rue Fontaine
42 in der Nähe des Place Pigalle, wo er von 1922 bis zu seinem Tod
gelebt hatte, zwischen dem 1. und 18. April versteigert werden sollen.
Breton (1896-1966) war der führende Kopf der revolutionären
künstlerischen Bewegung des Surrealismus, die 1924 in Paris begründet
wurde und viele Bereiche künstlerischer Aktivität in der ganzen Welt
beeinflusst hat. Als Dichter, Theoretiker des künstlerischen Schaffens,
Kunstkritiker und Sozialist war er in vielen fortschrittlichen sozialen und
künstlerischen Bewegungen seiner Zeit engagiert.
Wie kommt es, dass trotzdem dieses unbezahlbare Vermächtnis der
Kultur des 20. Jahrhunderts verloren gehen und in alle Himmelsrichtungen
verstreut werden kann, ohne dass sich in den intellektuellen Kreisen
Frankreichs Stimmen des Protests dagegen erheben?
Libération berichtet: "Seine Erben - seine Frau Elisa, später seine
Tochter Aube - haben die Sammlung von Bildern, Büchern, Fotografien
und anderen Gegenständen aus Bretons Eigentum: das philosophische
Durcheinander des Sammlers genialer Kunstwerke dort, in ihrer
ursprünglichen Umgebung, 36 Jahre lang bewahrt, trotz des vermutlich
starken Drängens von Interessenten."
Im Versteigerungskatalog von CamelsCohen, dem Auktionshaus, das die
Versteigerung im Hotel Drouot-Richelieu durchführen wird, findet man
Werke des Zöllners Rousseau, von René Magritte, Francis Picabia,
Toyen, Joan Miro, Hans Arp, Yves Tanguy, André Masson, Max Ernst
- insgesamt mehr als 400 Gemälde. Außerdem 1.500 Fotografien, viele
Originalfotografien von Man Ray, Félix Nadar, Denise Ballon, Hans
Bellmer, Jacques-André Boiffard und Claude Cahun; für Breton
handsignierte Bücher von Leo Trotzki, Sigmund Freud, Guillaume
Apollinaire und vielen anderen; kulturelle Artefakte von Ureinwohnern
Amerikas und Ozeaniens sowie die Manuskripte vieler von Breton selbst
verfasster Schriften. Man erwartet einen Erlös von 30 bis 40 Millionen
Dollar.
Der einzige für die Öffentlichkeit bestimmte bedeutende
Ausstellungsgegenstand des Surrealistenführers ist "Bretons Wand", die
Wand hinter seinem Schreibtisch in der Rue Fontaine 42, mit Regalen,
die gefüllt sind mit seinen objets trouvés, Bildern, Fotografien, gestiftet
von seiner Frau Elisa Breton Elléouet. "Die Wand" soll im Kunstmuseum
des Centre Pompidou anstelle der Entrichtung von Erbschaftssteuern
aufgestellt werden. "Als Geschenk an das Museums soll diese Installation
ihren Platz bei der ständigen Ausstellung einnehmen, als Erbschaftssteuer
für das Anwesen Elisa Bretons." (Le Monde vom 21. Dezember 2002).
Der im Internet veröffentliche Versteigerungskatalog beschreibt die
vergebliche Suche nach einem geeigneten Domizil für die Sammlung so:
"Die von Jean Schuster im Mai 1982 ins Leben gerufene Vereinigung
ACTUAL verfolgte vor allem das Ziel, eine vollständige
Bestandsaufnahme der surrealistischen Archive weltweit anzufertigen und
in Paris ein Dokumentationszentrum des Surrealismus zu errichten,
beziehungsweise nach den Vorstellungen von José Pierre, den
Vollkommenen Palast des Surrealismus, der möglichst vollständig der
Allgemeinheit zugänglich sein sollte. Dieses Projekt wurde in weiten
Kreisen für unrealistisch gehalten. Die ablehnende Haltung der
wichtigsten kulturellen Einrichtungen, die Streichung von Subventionen
und die sarkastischen Kommentare von Beobachtern veranlassten
ACTUAL im Dezember 1993 dazu, aufzugeben. Dennoch ist es dieser
Vereinigung zu verdanken, dass in den von Gallimard veröffentlichten
Archiven der Surrealisten, dank der Bemühungen von Marguerite Bonnet
und Paule Thévenin, Dokumente erschienen, die für die interne
Geschichte der 'Bewegung' wesentlich sind.
Weil sie, aufgrund der gescheiterten Versuche, eine surrealistische
Stiftung in Paris zu gründen, nicht mehr in der Lage sind, dieses Erbe als
Ganzes zu bewahren... sind Aube Breton und ihre Tochter Oona zu dem
Entschluss gekommen, die Sammlung in einer öffentlichen Versteigerung
zu verkaufen."
Dass die französischen Medien dieses Ereignis beinahe völlig ignorieren
und die französischen Intellektuellen keinerlei Interesse daran bekunden,
ist Ausdruck ihrer Degeneration und Selbstzufriedenheit, und ihrer tiefen
Feindschaft gegenüber Bretons bohrendem und unablässigem
Hinterfragen von Konformismus und Autorität in Kunst, Gesellschaft und
Politik, gegenüber seiner Weigerung, das Bestehende zu akzeptieren.
Der Autor dieses Artikels konnte auf der Webseite von Le Monde erst
am 21. Dezember den ersten Hinweis auf die Versteigerung entdecken.
In einem Artikel auf Seite 20 äußerte sich Michèle Champenois
verwundert darüber, dass "die Ankündigung, dass die Schätze aus der
Rue Fontaine versteigert werden, bisher keine Diskussion ausgelöst hat".
Eine unaufrichtige Bemerkung, zumal der Herausgeber von Le Monde,
Edwy Plenel, für sich in Anspruch nimmt, aus seiner Zeit in der
pablistischen Ligue Communiste Révolutionnaire in den siebziger Jahren
einen Rest an "trotzkistischer Kultur" bewahrt zu haben.
Diese Schicht der Gesellschaft stellte sich vor der zweiten Runde der
Präsidentschaftswahlen im April 2002 beinahe geschlossen hinter die
Pro-Chirac-Kampagne.
Maurice Nadeau, nach dem Zweiten Weltkrieg neben Breton zeitweise
ein aktives Mitglied der surrealistischen Bewegung und gegenwärtig
Herausgeber des Literaturzeitschrift La Quinzaine littéraire, nahm erst
in der Ausgabe vom 16. Dezember Stellung. Seine Ausführungen sind in
wenigen Zeilen seines Tagebuchs auf Seite 27 versteckt und weder durch
eine Überschrift noch eine Zwischenüberschrift hervorgehoben.
Nadeau steht in Kontakt mit dem Parti des Travailleurs (PT) von Pierre
Lambert, bei deren Versammlungen und in deren Zeitungen Breton sich
bis in die sechziger Jahre hinein zu Wort gemeldet hatte, als die
Vorgängerorganisation des PT, die Organisation Communiste
Internationaliste (OCI) noch ein Mitglied des Internationalen Komitees
der Vierten Internationale (IKVI) war. Breton verteidigte Trotzki gegen
die stalinistischen, reformistischen und bürgerlichen Verleumder bis zu
seinem Tod.
Als das WSWS Nadeau kontaktierte, sagte er, er habe den Worten in
seiner Zeitschrift nichts hinzuzufügen. Diese sind ganz und gar resignativ
und enthalten nichts mehr von der kämpferischen Haltung des früheren
Mitstreiters der Surrealisten. Sie lassen die Atmosphäre spüren, die heute
in diesem Milieu herrscht:
"Ein öffentlicher Verkauf, eine Versteigerung also, wo praktisch alles an
den Höchstbietenden geht, all das, was André Breton zusammengetragen
hat während seines ganzen Lebens, in seiner Wohnung in der Rue
Fontaine 42.
Ich erhielt die Information wie meine Kollegen auch. Meines Wissens
reagierte keiner darauf. André Breton? Wer ist das? Surrealismus? Ach
so, ja nun, Schnee von gestern.
Aber die Vorstellung, dass alles, was Breton ausgesucht hat, um sein
Leben in der Rue Fontaine 42 zu verschönern, die Vorstellung, dass all
das, was auch unsere Phantasie beflügelte, unter den Hammer des
Auktionators kommt, lässt einen das wirklich kalt?"
Nadeau schlägt keine Kampagne vor, keinen Protest.
Jean-Jacques Marie, führender Historiker des Parti des Travailleurs, der
soeben ein Buch mit dem Titel Le trotskysme et les trotskystes (Der
Trotzkismus und die Trotzkisten) veröffentlicht hat und auch für La
Quinzaine littéraire schreibt, hat sich in dieser Angelegenheit noch nicht
geäußert.
Es verdient gewiss nähere Betrachtung, warum es nicht gelungen ist, für
dieses historische Vermächtnis, das Forschern und der Allgemeinheit
zugänglich sein sollte, eine geeignete Stätte zu finden. Wir beabsichtigen,
weitere Nachforschungen anzustellen und zu berichten.
In einer Zeit, wo in jedem entwickelten Land unter dem Vorwand des
"Kriegs gegen den Terrorismus" und ökonomischer Zwänge Bürger- und
demokratische Rechte fortwährenden Angriffen ausgesetzt sind, ist
Trotzkis und Bretons Betonung der organischen Beziehung zwischen
künstlerischer Freiheit und der Emanzipation der Menschheit so aktuell
wie damals im Jahre 1938, als beide in Mexiko das Manifest Für eine
unabhängige revolutionäre Kunst verfassten:
"Das Bedürfnis des Geistes nach Emanzipation braucht nur seiner
natürlichen Bahn zu folgen, um schließlich mit dieser ursprünglichen
Notwendigkeit zu verschmelzen und aus ihr neue Kräfte zu ziehen: dem
Bedürfnis des Menschen nach Emanzipation." (Leo Trotzki und André
Breton: Für eine unabhängige revolutionäre Kunst. In: Leo Trotzki:
Literatur und Revolution, Essen 1994, S. 506)
Antoine Lerougetel