20.03.2005

70.000 in Brüssel
gegen europaweiten Sozialabbau

Aufbruch und Lähmung

Drei Tage vor einem "EU-Gipfel" demonstrierten am Samstag in Brüssel 70.000 Menschen gegen den europaweit unter Regierungen verschiedenster Couleur betriebenen Sozialabbau und gegen die Bolkestein-Richtlinie.

Die OrganisatorInnen vom Europäischen Gewerkschaftsbund und aus den sozialen Bewegungen brachten mehr Menschen auf die Straßen der belgischen Hauptstadt als von KritikerInnen solcher vornehmlich an die Regierungenen adressierten Massen-Demos erwartet wurde. Über Stunden hin füllte die Demo-Kolonne die Brüsseler Innenstadt vom Gare du Midi bis zum Gare du Nord, wo die Abschlußkundgebung stattfand.

Zu Beginn gab es getrennte Auftakt-Kundgebungen des Gewerkschafts-/attac-Spektrums einerseits und der sozialen Bewegungen andererseits. Die Mainstream-Medien meldeten immerhin 60.000 Demo-TeilnehmerInnen, die "für ein soziales Europa" demonstriert hätten. Einmal mehr wurde darüber spekuliert, daß die gewerkschaftlich organisierten VeranstalterInnen die Beteiligung gebremst und nicht mit einer solch großen Resonsonanz gerechnet hätten. Ähnlich wie bei gewerkschaftlich organisierten Demos vor rund einem Jahr gab es absonderliche "Pannen" bei der Organisation der Busse. So mußten Mitglieder des DGB aus Frankfurt nach einer halben Stunde Teilnahme an der Demo bereits zu ihrem abfahrbereiten Bus zurück. Aus Deutschland waren nur rund 10.000 TeilnehmerInnen angereist - davon 7.000 in gewerkschaftlich gecharterten Bussen. Auffällig war die hohe Beteiligung von Jugendlichen aus allen europäischen Ländern.

Auch die Demo-Transparente spiegelten ein breites Spektrum wieder: "Gegen Bolkestein - für eine europäische Sozialcharta" in Druckbuchstaben auf den einen, "Nein zu Sozialabbau, Rassismus und Krieg" von Hand geschrieben, war auf anderen zu lesen. Doch die Stimmung trübte dies nicht. Französische TeilnehmerInnen mischten sich unter den Solidarnosc-Zug und PortugiesInnen marschierten Hand in Hand mit GewerkschafterInnen vom deutschen DGB.

"Wir wollen eine starke Botschaft an die Staatschefs senden, die sich hier in der kommenden Woche versammeln," verkündete erwartungsgemäß der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes John Monks. Illusionär forderte er, der EU-Gipfel solle "wirklich die Arbeitslosigkeit angehen." Aufhänger für die Demo war die angekündigte Verabschiedung der "Bolkestein-Richtlinie", korrekt: EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen. Das deutsche Gewerkschafts-/attac-Spektrum hatte zeitweilig bereits den Eindruck vermittelt, der Kampf gegen Hartz IV sei Schnee von gestern und nunmehr zähle allein die Abwehr dieses neuen Angriffs.

Geprägt wurde die Demo in Brüssel allerdings durch die französische, kommunistische Gewerkschaft CGT, die mit Abstand die meisten Menschen mobilisiert hatte. Sie rückte ihr "Nein" zur EU-Verfassung mit dem darin auf Verfassungsrang erhobenen Neoliberalismus und dem in Zukunft für alle EU-Staaten verbindlichen Aufrüstungs-Imperativ in den Mittelpunkt. Belgische GewerkschafterInnen und viele attac-Mitglieder schlossen sich dem deutlichen Protest gegen die geplante EU-Verfassung an. Im kilometerlangen Demonstartionszug mit TeilnehmerInnen aus ganz Europa hatten auch antirassistische Initiativen ihren Platz. Doch auf der großen Abschlußkundgebung kamen in den gesetzten Reden weder der Irak-Krieg noch die Militarisierung Europas vor. Lediglich einzelne RednerInnen aus den sozialen Bewegungen forderten ein Ende der US-Besatzung.

Philipp Hersel vom attac-Koordinierungskreis interpretierte die Demo als "deutliches Zeichen für die Forderung nach einem Politikwechsel in Europa" und eine "klare Absage an ihre Regierungschefs". Die Menschen seien "nicht gewillt, Europa den Konzernen zu überlassen". Die Frage, wie die Macht der Konzerne gebrochen werden könnte, wurde allerdings nicht einmal gestellt. In den meisten Redebeiträgen der Abschlußkundgebung wurde eher von dieser Frage abgelenkt, indem Marionetten wie dem britische Premier Antony Blair, dem EU-Kommissions-Chef Manuel Barroso oder dem ehemaligen Binnenmarkt-Kommissar Frits Bolkestein vorgeworfen wurde, das "soziale Erbe Europas zu zerstören".

Der Chef des deutschen DGB, Michael Sommer, nahm ebenfalls an der Demo in Brüssel teil und entblödete sich nicht, seinen Duzfreund Gerhard Schröder dazu aufzufordern, "sich auf dem anstehenden Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs für die Wahrung der europäischen Sozialstandards einzusetzen." Vermutlich ist bereits abgesprochen, daß einige Schönheits-Korrekturen auf dem EU-Gipfel am Dienstag verkündet werden, um mit diesen dann den europaweiten Sozialabbau und die deutschen Hartz-Gesetz vergessen zu machen. Und zur EU-Verfassung ist vom DGB nichts zu vernehmen. Nach wie vor sind die deutschen Gwerkschaften bis in die mittleren Funktionärsebene fest an der Kandare von "Rot-Grün".

Dennoch scheint mit der Demo in Brüssel die Chance gewachsen zu sein, daß die Mitglieder an der Basis der europäischen Gewerkschaften begreifen, daß sie sich direkt miteinander verständigen und kooperieren müssen, um den Versuchen, sie gegeneinander auszuspielen, etwas entgegen setzen zu können. So stark einerseits der Volksfest-Charakter und das Zusammengehörigkeitsgefühl waren, so deutlich war auch die Ablehnung zu spüren, die der Vereinnahmung durch die anpaßlerische Gewerkschaftsführung aller europäischen Ländern entgegen schlug. Die Reden der Abschlußkundgebung fanden kein großes Interesse und die Mehrheit der Demo-TeilnehmerInnen nutze die Zeit für lebhafte Diskussionen.

Deutlich wurde die Orientierungslosigkeit sichtbar, die in den Diskussionen auf der Demo und an Ständen immer wieder beklagt wurde. Den meisten TeilnehmerInnen ist zwar klar, daß es weder ein Zurück zum Sozialstaat geben kann noch ein Zurück in die scheinsozialistischen Diktaturen des Ostblocks geben darf. Eine fehlende Perspektive für einen demokratischen Kampf um die Entmachtung der großen Konzerne lähmt jedoch nach wie vor den Widerstand gegen den sich weiter beschleunigenden Sozialabbau in Europa.

 

Klaus Schramm

 

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