Der Atommüll-Transport von den WAA La Hague zum Zwischenlager bei Gorleben im Wendland fand dieses Jahr unter größeren Protesten als noch in den Vorjahren statt. Der Zug mit zwei Dieselloks vorne, zwei Personalwagen, zwölf CASTOR-Behältern, einem Personalwagen und einer Diesellok hinten, setze sich am Samstag, 6. November, um rund eine halbe Stunde verspätet gegen 21:05 Uhr in Valognes in Bewegung. Ein solcher Zug hat eine Länge von rund 600 Meter und ein Gewicht von 2.300 Tonnen.
Besonders seit dem Aufbau der Dachorganisation französischer Anti-Atom-Gruppen, dem 'Réseau Sortir du nucléaire' (Netzwerk Atomausstieg), erleben die Proteste und gewaltfreien Aktionen entlang der CASTOR-Strecke in Frankreich einen enormen Aufwind. Die immer noch als "links-alternativ" geltende 'taz' meldete dagegen bereits am Donnerstag, 4. November, daß bei den Protesten im Wendland in diesem Jahr mit weniger DemonstrantInnen gerechnet werde. Als besonders witzig erachtete das Blatt, den Artikel mit der Überschrift zu ergänzen: "Dafür sind mehr Seelsorger vor Ort".
Noch am Nachmittag des 6. November hob das Oberverwaltungsgereicht Lüneburg einen drei Tage alten Beschluß des Verwaltungsgerichts Lüneburg wieder auf, mit dem die "Allgemeinverfügung" der Bezirksregierung über Versammlungsverbote entlang der CASTOR-Transportstrecke von Lüneburg nach Gorleben teilweise aufgehoben worden war. Damit dürfen Demonstrationen der Transportstrecke - legal - nicht näher als 50 Meter kommen. Bereits am Samstag nahmen rund 6.000 Menschen in Dannenberg an der Auftakt-Kundgebung teil. Zugleich wurde bekannt, daß die Frachtpapiere des CASTOR-Zuges vermutlich aus Schlamperei teilweise falsch ausgefüllt worden waren. (Fotos der Frachtpapiere wurden auf Internet-Seiten der Anti-AKW-Bewegung dokumentiert.) Bei jedem anderen Gefahrgut-Transport würde dies sofort zu einem Abbruch des Unternehmens führen...
Bereits in der Nacht von Samstag auf Sonntag melden französische AtomkraftgegnerInnen, daß der CASTOR-Transport streckenweise völlig ungeschützt durch Frankreich rollt. "Wir hätten sogar aufsteigen können," so einer der Aktivisten. "Unter diesen Umständen wäre ein terroristischer Anschlag ein Leichtes gewesen - mit unabsehbaren Folgen."
Am Sonntag, 7. November, befand sich der CASTOR-Transport gegen 10.30 Uhr südlich von Metz. Mit der Verspätung, die bei der Abfahrt entstanden ist, wird die Ankunft in Nancy um 11.15 Uhr erwartet (rund 45 Minuten später als geplant). Doch bereits kurz nach 11 Uhr wird der Zug durch eine Blockade-Aktion bei Laneuveville gestoppt. Es kommt zu keinen gewalttätigen Übergriffen der Polizei gegen die Gruppe von 16 AKW-GegnerInnen. Auch am Bahnhof Nancy findet eine Demonstration gegen den Todeszug statt.
Erst gegen 13.21 Uhr kann sich der Zug wieder in Bewegung setzten. Entsprechend der üblichen Transportgeschwindigkeit wäre mit dem Zug nun gegen 14.17 Uhr bei Igney Avricourt zu rechnen. Gegen 15 Uhr wird über Mailing-Listen gemeldet: "CASTOR steht bei Avricourt - - Grund noch nicht bekannt"
Erst eine Stunde darauf dringen Meldungen durch, daß ein Mensch im Zusammenhang mit einer Blockade-Aktion schwer verletzt wurde. Wie erst viele Tage später klar wird, hatte der CASTOR-Transport zum Zeitpunkt des Vorfalls eine Geschwindigkeit von 98 km/h. Die Gruppe der BlockiererInnen konnten sich beim Herannahen des Zug zwar noch von den Gleisen entfernen, Sébastien wurde jedoch vom Fahrtwind erfaßt und unter die Räder geschleudert. Er wurde schwer verletzt und war ohne Bewußtsein. Sanitäter versuchten ihn zu reanimieren; er starb jedoch auf der Fahrt ins Krankenhaus.
Von Anfang an wurde immer wieder eine falsche Behauptung kolportiert, nach der ein "Demonstrant, der sich an die Gleise gekettet hatte, vom Zug überrollt" worden sei. Die 'taz' tat sich ganz besonders hervor, und meinte bereits am 10. November, melden zu müssen: "Dilettantismus war schuld am tödlichen Unfall". Die Europa-Abgeordnete der "Grünen" Rebecca Harms, die zwar aus dem Wendland stammt, sich dort aber bereits vor Jahren ins Abseits manövriert hat, gab der Anti-Atom-Bewegung ungefragt über die Medien den Ratschlag, die Proteste im Wendland abzubrechen.
Erst nach und nach werden am Tag nach dem Unglück Details bekannt. Es wird auch bekannt, daß der Hubschrauber, der üblicherweise dem Zug vorausfliegt, zum Zeitpunkt des Vorfalls in Avricourt angeblich einen Tank-Stop eingelegt hatte. Cécile Lecomte, eine Teilnehmerin an der ersten Blockade in Laneuveville, erklärte, die TeilnehmerInnen der Blockade-Aktion bei Avricourt seien erfahrene Leute gewesen.
Eine französische Atomkraft-Gegnerin, die einen Sohn im Alter Sébastiens hat, schreibt am 8. November: "Die SNCF (französische Eisenbahngesellschaft) und die Cogema (der französische Konzern, der für den Transport verantwortlich ist) wußten, daß Demonstranten bei jedem Transport auf den Schienen sind. Sie haben die Mittel, um die Schienen zu überwachen, aber sie haben entschieden, sich nicht von irgendwelchen Oppositionellen aufhalten zu lassen. Die Polizei war ebenfalls im Bilde, der Staat wußte es, der per Dekret die Atommüll-Transporte genehmigte."
Ebenfalls am 8. November traf eine Nachricht der Anti-Atom-Bewegung in Süditalien ein:
"Die Anti-Atom-Bewegung aus Matera, Süditalien, die letztes Jahr gegen den Bau eines atomaren Endlagers in Scanzano (Region Basilicata) kämpfte, drückt ihre Solidarität aus mit den weitergehenden Demonstrationen und der Wut wegen dem Tod des Aktivisten, der einen Kampf kämpfte, der überall auf der Welt derselbe ist."
Jean-Yvon Landrac, Sprecher des französischen 'Réseau Sortir du nucléaire' (Netzwerk Atomausstieg), erklärte am 8.11., es habe sich um eine "erfahrene Gruppe" gehandelt. "Es muß einiges schief gelaufen sein", sagte Landrac schockiert. Aber es sei unglaublich, daß der Zug mit einer so gefährlichen Fracht mit 100 Stundenkilometern durch eine Kurve fährt. Dabei war er erst kurz zuvor bei Nancy von Atomkraftgegnern fast drei Stunden blockiert worden. Er fuhr so schnell, obwohl der Hubschrauber für die vorrausschauende Luftüberwachung gerade tanken geflogen war. Auch Versuche eines Motorradfahrers, den Zugführer vor den Personen auf den Schienen zu warnen, schlugen offenbar fehl. Ob die Blockierer noch mit Leuchtraketen auf sich aufmerksam gemacht hatten, konnte Landrac nicht sagen. Normalerweise werden in Frankreich so die Zugführer gewarnt.
In der deutschen Medienlandschaft herrscht ein Einerlei staatstragender Warnungen, den jungen Toten nicht zum Märtyrer werden zu lassen. Allein die sonst nicht als besonders kritisch geltende 'Berliner Zeitung' hebt sich davon ab: "Unterstellen wir, der Lokführer hat den jungen Mann nicht gesehen. Dann haben ihn auch alle diejenigen nicht gesehen, deren Aufgabe es ist, die Zugstrecke zu sichern: Polizei, Hubschrauber, Vorauszüge et cetera. Oder gibt es das in Frankreich nicht? Rechnen die Franzosen so wenig mit Protest, daß ein Atommülltransport dort herumfahren kann wie ein Vorortzug? Was wäre gewesen, wenn nicht ein Mensch, sondern etwas auf den Gleisen gelegen hätte, das den Zug mit seinem todbringenden Müll hätte entgleisen lassen? Es ist ein schrecklicher Anlaß, der denjenigen Recht gibt, die vor den Gefahren dieser Transporte warnen."
Bereits am 7. November um 19.30 Uhr hatte Atom-Minister Trittin in einer Pressemitteilung verkündet:
"Kein Ziel rechtfertigt es, das eigene Leben oder die Gesundheit anderer zu gefährden."
Ich bin dagegen der Ansicht:
Kein niederer Beweggrund - wie etwa eine hohe Profitrate oder ein Ministertitel - rechtfertigt es, das Leben von hunderten von Millionen Menschen zu gefährden und unseren Planeten für Äonen zu verseuchen.
Klaus Schramm