Nicht Giftstoffe beseitigen, sondern Umweltschützer mit ungewöhnlichen
Maßnahmen bekämpfen
Ob in Fischen, Polarbären, in der Muttermilch, im Hausstaub oder in
alltäglichen Produkten - giftige Stoffe aus industrieller Produktion
sind überall nachweisbar. Zahlreiche Krankheiten werden mit der ständig
steigenden Chemiefracht in Verbindung gebracht. Schätzungen zufolge
könnte allein im deutschen Gesundheitswesen ein zweistelliger
Milliardenbetrag eingespart werden, sollten die Belastungen durch
Chemikalien signifikant zurückgehen. Trotzdem sind in Amerika wie auch
in Europa Zehntausende Stoffe auf dem Markt, die nie auf ihre Gefahren
hin untersucht wurden. Staatliche Stellen werden erst aktiv, wenn es zu
gravierenden Umwelteinwirkungen kommt. Umweltschützer fordern daher
nicht nur, Chemikalien zu verbieten, die sich in Mensch und Umwelt
anreichern, sondern auch die Veröffentlichung sämtlicher toxikologischen
Daten sowie genaue Informationen darüber, welche Stoffe in Konsumgütern
enthalten sind.
Zwar würde die Allgemeinheit von solchen Schritten profitieren - sowohl
finanziell als auch durch einen Rückgang chemikalien-induzierter
Erkrankungen. Doch für die Industrie geht es um Milliardenbeträge. Würde
man das Vorsorgeprinzip konsequent anwenden, müssten Tausende
gefährlicher Chemikalien vom Markt genommen werden, die Zulassung neuer
Stoffe würde erheblich erschwert - Grund genug, das Vorsorgeprinzip mit
harten Bandagen zu bekämpfen. Bestrebungen der Europäischen Union, die
Gefahren durch Chemikalien zu verringern, wurden deshalb von der
Industrie als "wettbewerbsfeindlich" und "Programm zur Vernichtung von
Millionen Arbeitsplätzen" denunziert. Die intensive Lobby der
Chemieunternehmen blieb nicht ohne Wirkung: In dem kürzlich
vorgestellten EU-Gesetzesentwurf wird die Beweislast für die
Produktsicherheit nicht auf die Produzenten übertragen, sondern bleibt
bei Behörden und Umweltverbänden. Auch das ursprüngliche Vorhaben,
risikoreiche Chemikalien nur dann zuzulassen, wenn keine sicheren
Alternativen existieren, ließ die EU fallen. Eifrige Unterstützer fand
die Chemie-Industrie besonders in Bundeskanzler Schröder und
Wirtschaftsminister Clement, die mehrmals in Brüssel intervenierten, um
der Reform die Zähne zu ziehen.
In den USA geht die Chemie-Industrie nun einen Schritt weiter. Der
American Chemistry Council (ACC), dem neben Dow Chemical, DuPont,
Monsanto und ExxonMobil auch die deutschen Konzerne BASF, Bayer und
Degussa angehören, ließ von der Werbeagentur Nichols- Dezenhall ein
Strategiepapier und eine Kampagne entwerfen, um Forderungen
kalifornischer Umweltverbände schon im Vorfeld entgegenzutreten.
Nichols-Dezenhall mit Sitz in Washington ist besonders für
Schmutzkampagnen bekannt. Die Firma beschäftigt eine Vielzahl ehemaliger
FBI- und CIA-Agenten zur Ausspionierung von Umweltaktivisten und anderen
Kritikern. Nick Nichols, Teilhaber der Firma, rechtfertigt solche
Maßnahmen mit der "Gefährlichkeit radikaler Umweltschützer", die er mit
der von Terroristen vergleicht. Mitarbeiter der Agentur schreckten in
der Vergangenheit nicht davor zurück, heimlich den Abfall von
Umweltschützern zu untersuchen, um ihnen ökologisch nicht korrektes
Verhalten nachweisen zu können.
Die Kampagne, die vor allem in Kalifornien durchgeführt werden soll,
beinhaltet denn auch eine Reihe "ungewöhnlicher Maßnahmen". Man will die
persönlichen Daten von Umweltschützern sammeln und "unkonventionelle
Bündnispartner" anwerben. Vertreter von Minderheiten wie Schwarze oder
Latinos, Verbraucherschützer und wissenschaftliche Institute sollen das
Anliegen der Unternehmen in der Öffentlichkeit unterstützen. Ein
"unabhängiges" Institut ist geplant, das die negativen Auswirkungen auf
die Wirtschaft "wissenschaftlich" belegt. Möglichst dann, wenn
Diskussionen oder Abstimmungen über relevante Gesetze anstehen, sollen
industriefinanzierte "Bürgerinitiativen" mit Demonstrationen,
Radiospots, Rundbriefen, Vorträgen und Pressekonferenzen auf die
negativen Folgen vorsorgender Umweltschutzmaßnahmen hinweisen.
Konservative Journalisten und Talkshow-Moderatoren will man in
Hintergrundgesprächen mit Material versorgen. Sie sollen die Debatte
lenken, damit jeder begreift: Das Vorsorgeprinzip führt "zurück in die
Steinzeit".
Kalifornien, stets Vorreiter in der Umweltgesetzgebung der USA, hatte in
den vergangenen Jahren für einige besonders risikoreiche Anwendungen
(wie Flammschutzmittel) vorsorgende Untersuchungen vorgeschrieben. In
dem Strategiepapier wird der Bundesstaat als "Leithammel" bezeichnet,
dessen Entwicklung anderen Teilen der USA als Vorbild dient - weswegen
eine verschärfte Umweltgesetzgebung dort "besonders aggressiv" bekämpft
werden müsse. Das eigentlich geheime Papier wurde der Environmental
Working Group zugespielt - der Umweltverband erhielt das Konzept von
einer der "unabhängigen Gruppen", die vom American Chemistry Council als
Bündnispartner gewonnen werden sollte. In einem Brief an den ACC fordert
Bill Walker, Vize-Präsident der Environmental Working Group, alle
Personen und Organisationen offen zu legen, die im Rahmen der Kampagne
engagiert beziehungsweise gegründet wurden. "Ich gehöre zu den
kalifornischen Umweltaktivisten, deren Müll Sie offenbar durchsuchen. Es
ist für mich eine Farce, wenn sich der ACC in der Öffentlichkeit als
ehrbarer Teil der Gesellschaft darstellt, der nichts zu verbergen hat",
schreibt Walker.
Erst kürzlich hatte der Chemieverband seinen Mitgliedern empfohlen, in
den nächsten zehn Jahren 250 Millionen Dollar für Werbemaßnahmen
auszugeben, um das öffentliche Interesse von Sicherheitsfragen
abzulenken. Ted Schettler, Direktor des Science and Environmental Health
Network: "Die Mitglieder des ACC hatten, mit wenigen Ausnahmen, in den
letzten 50 Jahren einen Freifahrtschein. Sie haben daher keinerlei
Neigung, Informationen über die Risiken ihrer Produkte zu veröffentlichen."
Auch Jürgen Rochlitz, Chemieprofessor und Mitglied der von der
Bundesregierung eingesetzten Störfallkommission, ist empört:
"Dieses Strategiepapier bietet einen seltenen Einblick in die
doppelzüngige Vorgehensweise der Chemieindustrie. In Werbekampagnen ist
von intensiven Anstrengungen für den Umweltschutz die Rede -
gleichzeitig werden Kritiker bespitzelt und selbst elementarste
Sicherheitsvorkehrungen mit allen Mitteln bekämpft. Der Schutz von
Umwelt und Verbrauchern ist für die Industrievertreter offenbar
vollkommen nebensächlich." Professor Rochlitz fordert Bayer, BASF und
Degussa auf, den ACC zu verlassen und sich deutlich von der Kampagne zu
distanzieren. "Man muss sich nur den Aufschrei vorstellen, wenn
Umweltschützer in solcher Weise Vertreter der Industrie ausspionieren
oder unter falschem Namen auftreten würden. Man würde dies als kriminell
und terroristisch bezeichnen und juristisch dagegen vorgehen."
Gerade der Bayer-Konzern hat eine lange Tradition unethischer
Firmenpolitik. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vermarktete das
Unternehmen aggressiv das "Hustenmittel" Heroin, obwohl die Suchtgefahr
von Heroin bekannt war. Im ersten Weltkrieg erfand die Firma chemische
Kampstoffe und setzte sich vehement für deren Verwendung ein. Im Rahmen
der IG Farben war Bayer tief in das Dritte Reich verstrickt und für
Menschenversuche, den Tod Tausender Zwangsarbeiter und die Plünderung
eroberter Gebiete mitverantwortlich. In den achtziger Jahren wurden
Tausende Bluter durch Bayer-Produkte mit HIV infiziert - der Konzern
hatte trotz Kenntnis des Ansteckungsrisikos auf Testverfahren verzichtet
und noch Jahre nach Auftreten der ersten Infektionen alte Chargen
verkauft. Zu den aktuellen Skandalen des Unternehmens gehören die
jahrelang bekannten Nebenwirkungen von Lipobay, denen mindestens 100
Patienten zum Opfer fielen, Preisabsprachen mit Konkurrenten und
Falsch-Deklaration von Pharmazeutika, die den amerikanischen
Steuerzahler dreistellige Millionenbeträge kostete.
Kritikern begegnet der Konzern mit Einschüchterungsversuchen - mehrfach
wurden Umweltaktivisten mit Prozessen überzogen. Arroganz auch gegenüber
Vertretern von Politik und Justiz, wie Staatsanwalt Erich Schöndorf
während einer Hausdurchsuchung bei Bayer erlebte: "Es drängte sich der
Verdacht auf, dass man Teile des Konzerns für rechtsfreie Räume hält, in
denen Staatsanwälte nichts zu suchen haben - selbst wenn sie mit einem
richterlichen Durchsuchungsbeschluss kommen."
Philipp Mimkes
Nachveröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors aus 'freitag'4/2004
Philipp Mimkes ist Mitarbeiter der
'Coordination gegen BAYER-Gefahren' (CBG)
www.cbgnetwork.org
Anmerkungen: