Günter Gaus hat in seinem letzten Artikel1 in der 'Süddeutschen' - kurz vor seinem Tod - geschrieben: "Stars, aus dem Fernsehen bekannt und ausgewählt nach dem Gelingen ihrer Auftritte, buhlen von Zeit zu Zeit um die Gunst des Publikums, das einst seinem Anspruch nach der demokratische Souverän gewesen ist. Unter Wahrung der demokratischen Formen ist der Inhalt dieses politischen Systems gegen wechselnde Events ausgetauscht worden. In meinem befreundeten Umfeld verstehen nicht alle, warum die Inbesitznahme der Demokratie durch das Fernsehen mich zum distanzierten Beobachter des politischen Treibens hat werden lassen. Was soll schon dabei sein, wenn das Fernsehen die Politik auflockert? Es gibt schlechtere TV-Shows als Sabine Christiansens Beinüberschlag und ihr Talent, den sachlichen Faden, wenn sie ihn einmal in die Hand bekommen hat, an der falschen Stelle abzureißen. Darf die Demokratie denn nicht lustig sein und Spaß machen? Ganz im Gegenteil: Sie muss es unbedingt. Dies liegt im Interesse der Manipulateure des Souveräns."
Nun hat Walter van Rossum, auch Journalist - wie Gaus, sich dieses Themas auf 185 Seiten angenommen - und dies, um mal nach dem heute vorrangigen Maßstab zu urteilen: mit erhöhtem Fun-Faktor. Doch auch die Analyse bleibt nicht zu kurz. (Logisch, daß diese Überlegungen im Feuilleton als Schmähung abgetan werden.) Den Kern seiner Kritik kann van Rossum (selten geübte journalistische Fähigkeit) noch in einem Satz zusammenfassen: "Sendungen wie 'Sabine Christiansen' sehen ihre Aufgabe darin, politische Vorgaben an die Öffentlichkeit propagandistisch durchzureichen - und nicht etwa die ziemlich trivialen Denkfehler aufzudecken."
Welche Vorgaben meint van Rossum? Er zeigt an einer ganzen Reihe von Beispielen auf, daß es - aus verschieden eingefärbten Perspektiven - um das Grundthema geht, das Publikum auf die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit der "Reformen" einzustimmen (nicht: zu überzeugen). Der Talk bei Christiansen sei eine "weekly soap, die uns mit der Androhung des Untergangs unterhält und zur Belohnung damit winkt, daß es dann eventuell weitergeht, allerdings zu weitaus schlechteren Bedingungen." Und: "Jeder dieser Katastrophen-Talks ist komplett austauschbar."
Die TV-Show 'Sabine Christiansen' dient Walter van Rossum dabei nur als (Muster-) Beispiel für das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Journalismus (in dieser Reihenfolge). Präzise und trotz umfangreicher Zitate äußerst amüsant, analysiert er Auftritte von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt oder Super-Minister Wolfgang Clement, von Angela Merkel und Edmund Stoiber. Erst wenn die Geschwindigkeit des Mediums TV fehlt und die Ablenkung der Aufmerksamkeit durch neu eingeworfene Themen ausgeblendet werden kann, fällt auf, wie häufig Frau Christiansen immer im entscheidenden Moment den Faden abreißt und wie zufällig oder als sei sie unprofessionell, sich die Chance entgehen läßt, selbst die unglaubwürdigsten Behauptungen und eklatant unlogische Bemerkungen aufzugreifen.
Selbst wer die Schlußfolgerung über die Zielgerichtetheit der propagandistischen Arbeit Frau Christiansens als "eine[r] der begabtesten und beflissensten Dienerinnen jener Klasse" nicht nachzuvollziehen bereit ist, kann doch wohl kaum der Courage und Ausdauer, die fast an den gefilmten Selbstversuch 'Super Size Me' von Morgan Spurlock heranreicht, seinen Respekt versagen: Walter van Rossum mutete sich zwölf Monate lang jeden Sonntag abend eine geschlagene Stunde lang die "Orgie von Geschwätz" made by Christiansen zu.
Adriana Ascoli
»Meine Sonntage mit 'Sabine Christiansen' - Wie das Palaver uns regiert«
Walter van Rossum
Kiepenheuer & Witsch
Köln 2004
185 Seiten
8,90 Euro
Anmerkung:
1Siehe auch
'Warum ich kein Demokrat mehr bin' (30.08.03)