15.04.2004

Jura-Professor
kritisiert US-Regierung
wegen Guantánamo

Der renommierte US-amerikanische Jura-Professor David Cole1 kritisiert in einem in der heutigen 'Zeit' veröffentlichten Essay die Inhaftierung mutmaßlicher islamistischer TerroristInnen auf dem Militärstützpunkt Guantánamo.

Am 20. April wird der Oberste Gerichtshof der USA über die Frage entscheiden, ob sich die über 600 auf Guantánamo internierten "illegalen Kombattanten" tatsächlich außerhalb der Reichweite jedes Gesetzes befinden. Auf der Grundlage der Annahme eines solchen rechtsfreien Raums verweigert die US-Regierung bisher grundlegende Gefangenenrechte.

David Cole vertritt der Standpunkt, der Fall Guantánamo müsse als Warnung verstanden werden und die Weltöffentlichkeit aufrütteln. Es resümiert, daß den Gefangenen eine Anklageerhebung, Strafverfahren oder Prozeß und Zugang zu VerteidigerInnen verweigert wird. Die US-Regierung behält sich nach eigener Auskunft vor, den Häftlingen auf Guantánamo und jeden des Terrorismus bezichtigten Verdächtigen vor einem Militärtribunal den Prozeß zu machen. Hierbei wäre das Militär zugleich Ankläger, Richter, Geschworener und Vollstrecker. Eine Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht wäre darüber hinaus ausgeschlossen. Selbst wenn ein Häftling freigesprochen würde, hätte er kein Recht auf Freilassung, sondern könne so lange festgehalten werden, bis die USA den "Krieg gegen den Terror" für beendet erklären.

Die Argumentation der US-Regierung vor dem Obersten Gerichtshof ist denkbar einfach: Ausländische StaatsbürgerInnen, die außerhalb des Territoriums der USA festgehalten werden, haben keine verfassungsmäßigen Rechte. (Wäre der Oberste Gerichtshof der USA tatsächlich unabhängig, wäre es ihm ein leichtes, diese absurde Konstruktion exterritorialer Zonen zu beseitigen und sämtlich als unter die Hoheit der US-Gerichtsbarkeit zu stellen, der Sätzer) Was das Völkerrecht oder andere international vereinbarten Rechtsnormen betrifft, seien diese - so die Ansicht der US-Regierung - vor US-Gerichten nicht einklagbar.

David Cole stellt besorgt die Frage, ob die US-Regierung "damit durchkommt" und weist darauf hin, daß diese "extreme" Argumentation bisher mit einer einzigen Ausnahme von allen untergeordneten US-Bundesgerichten akzeptiert wurde. Selbst diese Ausnahme, eine Entscheidung des kalifornischen Bundesgerichts, stellte - so Cole - das Argument, nicht in Frage, daß ausländische Staatsbürger außerhalb der USA keinerlei einklagbare Rechte hätten. Das Gericht betrachtet Guantánamo vor allem aus praktischen Fragen als US-amerikanisches Territorium, mit der Folge, daß die Häftlinge zumindest eingeschränkten Zugang zu Bundesgerichten haben sollten.

Die US-Regierung stützt ihre Argumentation hauptsächlich auf einen Fall nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Johnson gegen Eisentrager. Damals waren deutsche Staatsbürger angeklagt und verurteilt worden, weil sie auch nach der Kapitulation Deutschlands noch weitergekämpft hatten. Die Angeklagten, die in einem amerikanischen Militärgefängnis in Deutschland festgehalten wurden, beantragten eine Haftprüfung nach der Habeas-Corpus-Akte (einem international als grundlegend anerkannten Rechtsgrundsatz). Sie wandten sich an den Obersten Gerichtshof der USA mit der Begründung, das Verfahren verstoße gegen ihre Rechte - niedergelegt in der amerikanischen Verfassung und in den Genfer Konventionen. Die Habeas-Corpus-Akte, die ihren Ursprung im England des 17. Jahrhunderts hat, garantiert eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit im Falle einer Inhaftierung.

Im Fall von Johnson gegen Eisentrager entschied der Oberste Gerichtshof, den Deutschen stünde keine gerichtliche Überprüfung zu. Die Begründung: Als "feindliche Ausländer" (enemy aliens), die außerhalb der USA wegen Kriegsverbrechen noch während eines erklärten Krieges angeklagt und verurteilt worden seien, hätten sie kein Recht auf Zugang zu US-amerikanischen Gerichten. Die Richter verwiesen auf die langjährige Praxis, feindlichen Ausländern das "Recht auf einen Prozeß" vor Bundesgerichten zu verweigern. Darüber hinaus befürchteten sie, die Militärs könnten durch die Aussicht, auf dem Schlachtfeld getroffene Entscheidungen vor Gericht rechtfertigen zu müssen, von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt werden. Zur gleichen Zeit überprüfte der Oberste Gerichtshof gemäß der Habeas-Corpus-Akte die Rechtmäßigkeit von Verurteilungen deutscher SaboteurInnen, die in den USA gefaßt worden waren, und den Fall eines japanischen Generals, der auf den Philippinen, damals amerikanisches Territorium, angeklagt und verurteilt worden war. (Diese Fälle zeigen, daß auch gerichtliche Überprüfungen keine Patentlösungen sind: In beiden Fällen wurden die Urteile vom Gericht ohne großes Federlesen durchgewunken.)

Die US-Regierung bezieht sich aktuell wieder auf den Johnson-Eisentrager-Fall, indem sie behauptet, daß auch den Gefangenen von Guantánamo kein Verfahren vor einem US-amerikanischen Gericht zustehe, da sie im Ausland gefangen genommen wurden und auf Kuba festgehalten werden. Diese Argumentation weise jedoch - so Cole - drei Schwachstellen auf.

  • Die Gefangenen von Guantánamo passen nicht in die traditionelle Kategorie der "feindlichen Ausländer". Der Begriff "feindlicher Ausländer" ist ein Kunstwort aus dem Kriegsvölkerrecht und dem amerikanischen Recht. Er bezeichnet Staatsangehörige des Landes, mit dem man sich im Krieg befindet. Die Häftlinge von Guantánamo sind Staatsangehörige aus 42 verschiedenen Ländern. Mit Ausnahme des Iraks (und dies erst nach dem Afghanistan-Krieg) setzen sich die USA mit keinem einzigen dieser Länder kriegerisch auseinander.
    Die USA bezeichnen sich als "im Krieg" mit Al Qaida. Al Qaida ist kein Staat und hat keine Staatsangehörigen. Und selbst wenn man die Analogie aufstellen wollte, die Kämpfer von Al Qaida seien die "feindlichen Ausländer" der Moderne, so bestreiten doch viele der Gefangenen von Guantánamo, einschließlich der Kläger vor dem Obersten Gerichtshof, je für Al Qaida gekämpft zu haben. Sie behaupten, sie seien Zivilisten und irrtümlich von den US-Streitkräften gefangen genommen worden - manchmal mithilfe von Streitkräften der Nördlichen Allianz, die auf eine Belohnung für die Übergabe der "Feinde" hofften. Im Gegensatz dazu hatten die Deutschen im Fall Johnson gegen Eisentrager nie bestritten, "feindliche Ausländer" zu sein. Wenn der Fall Johnson gegen Eisentrager also auf dem ursprünglichen Ansatz beruhte, daß "feindliche Ausländer" nicht unter die Habeas-Corpus-Akte fallen und dieser Ansatz fortgilt, so müßten die Bundesgerichte jetzt zumindest prüfen, ob die Häftlinge von Guantánamo auch tatsächlich für den Feind gekämpft haben.

  • Der zweite Unterschied zum Fall Johnson gegen Eisentrager liegt in dem Status von Guantánamo selbst. Im Johnson-Eisentrager-Fall befanden sich die in Deutschland festgehaltenen Kläger eindeutig außerhalb der USA. Das Oberste Gericht der USA vertritt generell die Auffassung, Ausländer außerhalb der USA stünden nicht unter dem Schutz der amerikanischen Verfassung. Die Häftlinge von Guantánamo dagegen argumentieren, und ein Bundesgericht ist ihnen in dieser Argumentation gefolgt, Guantánamo müsse als Teil des US-amerikanischen Territoriums behandelt werden. Nach dem Pachtvertrag mit Kuba, der ohne die Zustimmung der USA nicht beendet werden kann, üben die Vereinigten Staaten volle rechtliche und politische Kontrolle über Guantánamo aus. Daher sollten die dort festgehaltenen Männer so behandelt werden, als befänden sie sich auf dem Territorium der USA. Das heißt: Sie müssen Zugang zu den Bundesgerichten erhalten.

  • Drittens und letztens ist der "Krieg gegen den Terrorismus" nicht der Zweite Weltkrieg. Sich das Recht zu nehmen, in einem formalen Krieg gegen einen oder mehrere Staaten Feinde ohne gerichtliche Überprüfung einzusperren, ist eine Sache. Sich dieses Recht ohne einen Krieg zu nehmen, aber eine andere. Amerika spricht zwar von einem "Krieg gegen den Terrorismus", aber den USA steht in diesem Kampf kein feindlicher Staat gegenüber. Nach der Definition der US-Regierung ist dieser Krieg weder geographisch noch zeitlich begrenzt. Es gilt die strenge Regel: Die "Sonderbefugnisse im Kriegsfall" sind eine zeitlich begrenzte Ausnahme von der Norm. Doch die US-Regierung versucht, diese Ausnahme zur Norm zu machen.

Sicherlich ist das Verfassungsrecht nicht die einzige Hürde für die US-Regierung. Laut den Genfer Konventionen dürfen Staaten, die sich im Krieg befinden, feindliche Kämpfer für die Dauer eines Konflikts festhalten. Die Konventionen besagen jedoch auch, daß, wann immer Zweifel über den Status der Gefangenen bestehen, der Staat, der sie festhält, diese als Kriegsgefangene behandeln muß, bis ein zuständiges Gericht über ihren Status entschieden hat. Die chaotischen Zustände, die während und nach dem Afghanistan-Krieg herrschten, lassen sicherlich Zweifel über den Status der meisten Häftlinge zu. Die Tatsache, daß das Militär bisher mehr als hundert Internierte in ihre Heimatländer zurückgeschickt hat, legt die Vermutung nahe, daß selbst das US-Militär vielfachen Zweifel an der eigenen Auswahl überkam. Die US-Regierung hat sich jedoch vom ersten Tag an geweigert, auf irgend eine Weise zu prüfen, ob es sich bei den Gefangenen tatsächlich um Al-Qaida-Kämpfer handelt oder um unschuldige Zivilisten.

Trotz der offensichtlichen Schwäche dieser Argumentation, meint der US-amerikanische Rechtsprofessor, sollte niemand darauf wetten, daß die Häftlinge vor dem Obersten Gerichtshof Erfolg haben werden. Das Gericht sei äußerst konservativ, und in Krisenzeiten haben sich US-amerikanische Gerichte stets den Wünschen der Exekutive gebeugt (, um viel später ihre Fehler einzugestehen). Weiter vertritt David Cole die Auffassung, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen sei, auch wenn der Oberste Gerichtshof die Internierung auf Guantánamo für rechtmäßig erklären sollte.

Die Verhältnisse in Guantánamo stehen unter intensiver internationaler Beobachtung und Kritik2. Letzten Endes sollte sich die Welt nicht von einem US-amerikanischen Gericht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen der US-Regierung belehren lassen, so Cole. Sollte das Urteil der Weltöffentlichkeit negativ ausfallen, würden die USA ihren Preis dafür zahlen müssen: weniger Zusammenarbeit im "Krieg gegen den Terrorismus" und mehr Zulauf für ihre Feinde. Hier unterliegt Cole jedoch dem Irrtum, den "Krieg gegen den Terrorismus" für bare Münze zu nehmen, statt diesen Propagandabegriff als fadenscheinigen Vorwand zu erkennen, sich gigantischer Erdöl-Vorkommen zu bemächtigen. Der einzige Weg - so Cole weiter in seinem Essay - zu echter Sicherheit liege in der Achtung des bestehenden Rechts - aber das sei eine Lektion, die diese Regierung noch nicht begriffen habe.

Hierbei übersieht David Cole jedoch, daß das Recht in der Realität - sowohl auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene - immer nur solange bindende Wirkung hat, als es sich um ein Abkommen zu beiderseitigem Vorteil unter annähernd gleich mächtigen Vertragspartnern handelt. Diese Geschäftsgrundlage hat sich jedoch längst verflüchtigt, seit sich einerseits durch den einseitigen Machtzuwachs der USA die Gewichte international merklich verschoben haben und andererseits in einer Welt versiegender Rohstoffquellen der skrupellose Kampf aller gegen alle beginnt. Die hat die US-Regierung vielleicht begriffen oder auch nicht - sicherlich jedoch die Konzerne, denen sie verpflichtet ist. Der Appell an die Vernunft der US-Regierung geht also ins Leere.

Dennoch besteht Hoffnung in anderer Hinsicht: Denn während auf der einen Seite ein grandioser Machtzuwachs bei gleichzeitig zunehmender Mißachtung jeglicher Gerechtigkeit steht, ist die Kehrseite der Medaille unverkennbar eine sich zuspitzende Krise. Nicht nur weltweit nimmt Armut und Elend zu - auch innerhalb der USA kann die beschleunigte Konzentration von Reichtum und Macht nur um den Preis einer bereits in den 90er Jahren neu einsetzenden Massenverelendung wie zu Zeiten der beginnenden Industrialisierung erkauft werden. Und diese systemimmanente Dynamik wird unweigerlich - ob in gelenkten Bahnen oder zerstörerisch - zur Auflösung der wirtschaftlichen Basis der US-amerikanischen Gesellschaft und ihrer weltweiten Hegemonie führen. Darin liegt zumindest die Chance, daß die Menschen wirkliche Demokratie entwickeln können.

 

Harry Weber

 

Anmerkungen:
1 David Cole lehrt an der Georgetown University in Washington.
    2003 erschien sein Buch "Enemy Aliens", das sich mit
    verfassungsrechtlichen Fragen des Kampfes gegen den Terror
    beschäftigt (New Press, 23,11 Euro)

2 Siehe auch unseren Artikel
    'Britischer Lordrichter kritisiert US-Regierung wegen Guantánamo'
    v. 28.11.03

 

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