von Meinhard Creydt
The American Way of Life - eine Kritik der USA
An eine sich von Ressentiments oder Schönrednereien (der
"eigenen" Nation) unterscheidende Kritik der USA ist
zu erinnern, wenn die Bereitschaft wieder zunimmt, jedwede Kritik an
den USA mit dem Etikett 'Antiamerikanismus' in eine Schmuddelecke
abzuschieben, aus der nur Unappetitliches zu erwarten sei.
Ein erster, bereits ökologisch plausibler Vorbehalt gegen den
American way of life liegt bereits in der Unmöglichkeit, ihn
global zu verallgemeinern, handelt es sich bei ihm doch konstitutiv
um 'empire as a way of life', so der US- amerikanische
Historiker W. A. Williams, oder um "das Ergebnis der Unfähig-
oder Unwilligkeit, im Rahmen seiner eigenen Mittel zu leben"
(Prokla 1989/3). Die Rolle der USA nach außen - in
Vietnam, in Chile, in Nicaragua, gegenüber Kuba usw. usf. -
ist bekannt. Verurteilungen wie die vor dem Haager Internationalen
Gerichtshof (wegen der Finanzierung und Ausbildung von Terroristen
und der Unterstützung terroristischer Anschläge gegen
Nicaragua) hat die USA souverän ignoriert. Die US-Außenpolitik
und die Wucht, die sie durch die ökonomische und militärische
Macht der USA erhält, stellen ein erstes Hindernis für
jedes emanzipatorische Anliegen auf diesem Globus dar. In
Stephen Kings neuem Roman 'Duddits. Dreamcatcher' wird die USA als
ein riesiges Krebsgeschwulst aufgefaßt, das jedes andersartige
Gewebe verdrängt (vgl. plastisch dazu auch Barber 1999).
Solange sich an der Macht bzw. der Politik der USA nichts grundlegend
geändert hat, wird sich in der Welt ökologisch, sozial und
politisch nichts grundlegend zum Guten ändern können. Wir
sprechen hier über eine notwendige, keine hinreichende
Bedingung.
Bereits an dieser Stelle ergibt sich der Einwand, die Bevölkerung
der USA sei nicht mit der politischen Führung gleichzusetzen, es
gäbe doch eine Minderheit für eine andere Politik in den
USA. "Aber die Minderheit ist eben dies, die Minderheit.
... Es ist Sache der Amerikaner, die durch die US-Außenpolitik
gestiftete Wahrscheinlichkeit ihrer Fehlwahrnehmung von außen
durch eine Korrektur dieser Politik zu vermindern" (ebd. 8). Die
antietatistische Einstellung in den USA, die Ablehnung von
Bürokratie und staatlicher Einmischung folgt dem Motto "der
Staat hält sich aus unseren Angelegenheiten heraus, und wir
halten uns aus seinen Angelegenheiten heraus ... . In der
demokratisch angereicherten Privatsphäre werden, so scheint es,
die politischen Energien absorbiert. Das hat dann zur Folge, daß
die sog. höheren Ebenen der Politik, insbesondere die
Außenpolitik, den Politikern überlassen bleiben"
(ebd. 4). Auch deshalb "bleibt die Anempfehlung des
basisdemokratischen way of life für den Export ohne
Überzeugungskraft", solange "Basisdemokratie" zur
"Beschäftigungstherapie" mißrät (ebd. 7).
Die USA ist "eine Gesellschaft, die aus Unsicherheit ein
positives Prinzip der kollektiven Organisation macht. Sie ist, indem
sie für den Individualismus und die 'self help' schwärmt,
die Verkörperung einer neodarwinistischen Vision ... , welche in
allen Belangen der solidarischen Vision entgegensteht, die die
Geschichte der sozialen Bewegungen in die sozialen und kognitiven
Strukturen der Männer und Frauen der europäischen
Gesellschaften eingeschrieben hat", wie dies Bourdieu (1999/28)
die hiesigen Zustände idealisierend bemerkt. Bspw. gibt es
in den USA keine gesetzliche Krankenversicherung (außer der für
Menschen über 65 Jahre). "Eine lange, schwere
Erkrankung mit Krankenhausaufenthalt kann immer noch den Ruin eines
Haushalts zur Folge haben. ... Die Furcht vor Krankheitskosten gehört
zu den bedrückendsten Sorgen der Haushalte in mittleren
Soziallagen" (Scheuch 1992/222f.). Auch die Verlierer in der
Konkurrenz halten an ihr fest und sehen "Tatwillen,
Risikobereitschaft, Leistungsfähigkeit und Mobilität (als)
Grundbedingungen eines rechtverstandenen 'Amerikanismus'" an
(Wasser 2000/46).
Dem OECD-Bericht über Beschäftigungsperspektiven von
Juli 1997 zufolge liegen die durchschnittlichen Arbeitsstunden in den
USA 1996 bei 1.951 (1993: 1.946), in Deutschland bei 1.578 (bzw. 1.607).
Bereits der bezahlte Jahresurlaub dauert in den USA höchstens
zwei Wochen, in Europa vier bis fünf Wochen. "Innerhalb der
OECD gehören die USA zu den Ländern mit dem niedrigsten
gewerkschaftlichen Organisationsgrad ... . (22% in 1980, 16% in 1990, 14,9%
in 1995, 14,5 % in 1996 - d. Verf.). Auch deshalb ist der amerikanische
Arbeitsmarkt einer der unter den ökonomisch fortgeschrittenen
Nationen am wenigsten regulierten. ... Die landesweite Regulierung
von Lohnhöhe und Entlassungen ist minimal; es gibt nur wenige
geregelte Hürden für Entlassungen, also des hire and fire.
Nach OECD-Daten ist die landesweite Gültigkeit von kollektiven
Tarifverträgen in den USA zwischen 1980 und 1990 von 26 auf 18%
gesunken. Im Vergleich betrug sie 95% in Frankreich, 92% in
Deutschland, 82% in Italien ... . Eine stark steigende Anzahl von
amerikanischen Arbeitern ist auf individualisierte, sog.
frei-gestaltete Arbeitsbedingungen angewiesen" (Pallagrosi
1998/13f.).
Die in Europa immer weiter vorangetriebene Privatisierung
öffentlicher Güter ist in den USA bereits erreicht. "Der
Staat hat sich aus allen wirtschaftlichen Aufgaben zurückgezogen,
öffentliche Unternehmen verkauft und öffentliche Güter
wie Gesundheit, Wohnen, Sicherheit, Bildung und Kultur in
Handelsgüter verwandelt und deren Nutzer in Kunden. Er hat die
'öffentlichen Dienste' an den privaten Sektor verpfändet
und sich der Eingriffsmöglichkeiten in die nationale Ökonomie
begeben; er hat sich seiner Macht, gesellschaftliche Chancen
auszugleichen und Ungleichheit zurückzudrängen (die sich
nun in schier unbeschreiblichem Ausmaß verschärft),
beraubt und soziale Funktionen an untergeordnete öffentliche
Stellen delegiert (Stadt, Region etc.). All das im Namen der alten
liberalen Tradition der self help (einer Erbschaft des Calvinismus,
daß Gott denjenigen helfe, die sich helfen) und der
konservativen Begeisterung für die individuelle Verantwortung
(die Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliches Scheitern zuerst den
Individuen anlastet und nicht der sozialen Ordnung). Die Demission
des Staates ist nirgendwo so sichtbar wie auf dem Gebiet der Kultur,
wo sich die Herrschaft des Kommerz ausbreitet, oder auch im Bereich
der Innenpolitik, bei der Polizei und im Strafvollzug" (Bourdieu
1999/27). Bürger machen einander rechtlich per
Schadensersatzforderung für ihr mangelndes Wohlergehen
verantwortlich, wenn die Verursachung von wirklichen oder
vermeintlichen Schäden sich Individuen zuschreiben läßt.
"Zwei Drittel aller Anwälte der ganzen Welt sind
Amerikaner" (Vidal 1998/1161).
Keinem Volk der Erde ist es so selbstverständlich wie den
US-Amerikanern, "daß der Nutzen eines die Freiheit
schützenden Gewaltmonopols in der Unterstützung der in der
Konkurrenz Erfolgreichen besteht" (Marxistische Gruppe 1979/17).
Zugrunde liegt die Gewißheit, daß Opfer sich
für den "Erfolg der Erfolgreichsten" lohnen, weil
allein ihr Erfolg letztendlich auch zum Erfolg Amerikas führt.
Zwischen den Bürgern soll kein anderes Kriterium gelten als "die
Tüchtigkeit in der Konkurrenz" (ebd. 18). Jeder
Verfälschung der Konkurrenz durch Widerstand seitens der
'Untüchtigen' sei entgegenzutreten. "Übertriebener
Gesetzesidealismus" verbietet sich "in den Fällen, da
die Größe des Erfolgs der Rechtswidrigkeit Recht gegeben
hat - es kann schließlich kein Zufall sein, daß die
Mafia außer in Süditalien am genau entgegengesetzten Pol
im Spektrum rechtsstaatlicher Lebensart, in New York, ebenso zu Hause
ist" (ebd. 20). Wo im Bewußtsein der Bürger das
Gemeinwohl derart unmittelbar und ohne schlechtes Gewissen mit dem
Erfolg der Tüchtigen ineinsfällt, wird auch die geringe
Wahlbeteiligung nicht als Problem empfunden. "Richtig
politisiert ist vielmehr, wer im Konkurrieren aufgeht, seine
Bemühungen um einigen Erfolg für sich als die beste Form
staatsbürgerlicher Pflichterfüllung versteht" (ebd.
27). Wo die Förderung der Konkurrenz und der Geschäfte den
Dreh- und Angelpunkt der Staatsaufgaben bildet, dort verbinden die
US-Amerikaner "glühende Vaterlandsliebe mit weitreichendem
Desinteresse an ihrem Staat", und es ist "ihnen überhaupt
kein Widerspruch, ihren Amerikawahn durch deutlichste Demonstration
lokalpatriotischer Borniertheit und Eigenbrötlerei zu
desavouieren", weil sie "in einem Wort -
Nationalisten, aber keine Parteigänger des Staates sind"
(MSZ 1976/7). In aller Selbstverständlichkeit, mit der
US-Amerikanern ihre gesellschaftlichen Verhältnisse als Natur
vorkommen, wird Politik dann vorrangig dort wahrgenommen, wo die den
US-Amerikanern natürlichen Ideale nach außen abgesichert
und durchgesetzt werden können und müssen. "Wenn
hohlköpfige Kritiker das zu unserem privatkapitalistischen
System gehörige Motiv des Profits mies machen, so ignorieren sie
die Tatsache, daß es die wirtschaftliche Grundlage all der
Menschenrechte ist, die wir besitzen, und daß ohne es alle
Rechte bald verschwinden würden" (Dwight D. Eisenhower,
US-Präs. 1953-61).
Die USA steht, wenn man
dies Ideal anlegen will, für eine "Verkümmerung der
hegelianisch-durkheimischen Vision des Staates als eine kollektive
Instanz, die damit betraut ist, kollektives Bewußtsein und
kollektiven Willen zu wecken und durchzusetzen, zur Stärkung der
sozialen Bande beizutragen" (ebd.). Ein in Deutschland immerhin
(noch ?) erhaltenes Recht der Allgemeinheit, privates Land wie bspw.
Wälder zu betreten, existiert in den USA nicht. Die negative
Utopie einer naturwüchsigen Gesellschaft zeigt sich bis ins
Detail auch in der für europäische Verhältnisse laxen
Handhabung des staatlichen Monopols physischer Gewalt. In den USA
verhindert eine starke Lobby, die National Rifle Association,
jede Eindämmung privaten Schusswaffenbesitzes (70 Mio. Stück).
Die Mordrate war in den 80er Jahren sieben- bis zehnmal so hoch wie
in den meisten europäischen Ländern und Japan. In den USA
ist es wahrscheinlicher, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden als
einen Autounfall zu erleiden oder an Krebs zu sterben. "Mitte
der 80er Jahre war die Wahrscheinlichkeit für eine Amerikanerin,
vergewaltigt zu werden, etwa dreimal so hoch wie für eine
Westdeutsche, war die Chance für einen Amerikaner, Opfer eines
Raubüberfalls zu werden, sechsmal so groß wie für
einen Westdeutschen" (Knöbl 1994/51). "Violence
is as American as cherry pie" (Rap Brown).
Auch der den USA positiv
zugeschriebene Multikulturalismus eignet sich nicht zu jenem
positiven Vorzeigemodell, wofür ihn manche seiner hiesigen
Propagandisten ausgeben. Eher zeigt sich in den USA ein Nebeneinander
einander indifferenter bis feindlicher ethnischer Gemeinschaften.
"Die Konzentration der Koreaner auf die Zentren New York (mit
mehr als 100.000 Menschen), San Francisco (mit wenigstens 100.000),
Los Angeles und Südkalifornien (400.000) erlaubt den
Einwanderern eine fast autonome Existenz. In der Metropole am Pazifik
weisen große Schilder von der Stadtautobahn nach
‚Koreatown',
... in dem sich so gut wie jeder Wunsch an das Leben ohne ein Wort
der englischen Sprache erfüllen läßt -
Koreanisch genügt" (FAZ-Magazin v. 7.2.1992). Frank
Boeckelmann schreibt in einem von der Friedrich-Ebert-Stiftung der
SPD zum Sachbuch des Jahres erhobenen Band (1999/432): "Die an
Amerika teilnehmenden Gruppen identifizieren sich als Rassen und
Ethnien - nicht mehr durch das, was sie verbindet, sondern durch
das, was sie trennt" (430, vgl. auch 430f.). "Die
Nordstaaten werden wohl ihr angelsächsisch-protestantisches
Gepräge behalten. Aber die Südweststaaten treiben auf eine
'hispanische' Vorherrschaft und die Südoststaaten auf eine
Majorität der Schwarzen zu. Niemand weiß, ob die ethnische
Dreigliederung der USA eine politische Aufspaltung in drei Nationen
vorbereitet ..." (ebd. 432).
Die kulturalisierende und
ethnisierende Desaggregation ruht auf tief in der US-Lebensweise
eingelagerten Strukturen auf. Vorherrschend ist die negative Utopie
eines Rückzugs der Menschen in Familie, Gemeinschaft und
ethnisch wie sozial homogener Nachbarschaft. Zwischen diesen "Inseln
der Gleichheit und Happiness" (Wagner 1977) existiert die rauhe
Natur, die man schon bei jeder Fahrt zwischen Wohnort und
Arbeitsstelle zu durchqueren hat. Es gilt als völlig normal,
daß
man sozusagen nicht nur faktisch, sondern auch imaginär darauf
achtet, in vielen Gegenden an der Ampel nicht zu lange zu halten bzw.
wenigstens das Auto verriegelt zu halten. "Die
Selbstghettoisierung in der bevorzugten neighborhood schirmt ab"
(Armanski 1981/14). "Die Amerikaner erleben nie Gesellschaft als
ein komplexes, arbeitsteiliges und differenziertes Gebilde aller
Menschen um sich her, mit schwerwiegenden Problemen und dringend zu
lösenden Aufgaben. Sie erleben nur ihre (jeweilige - Verf.)
Insel" (Wagner 1977/108).
Die in den USA nicht nur objektiv
notwendige, sondern auch subjektiv als attraktiv empfundene Mobilität
(die Zahl der Umzüge beläuft sich auf ein Vielfaches im
Vergleich zu europäischen Ländern) verstärkt die
Ortlosigkeit, wenn es tendenziell für immer mehr Menschen nur
zeitweilige Durchgangsstationen gibt, der beständige Ortswechsel
die lokale Verankerung und Assoziation von Menschen untergräbt
und die Gestaltung eines gesellschaftlichen Raums scheinbar unnötig
macht. Exit als solution. "Das Symbol der amerikanischen
Gesellschaft, sagte der Schriftsteller Louis Kronenberger, ist der
Möbelwagen. Besserverdienende Erwerbstätige mittleren
Alters wechseln alle zweieinhalb Jahre die Firma, und oft ist damit
ein Ortswechsel verbunden. Enge Bindungen einzugehen rentiert sich
unter diesen Umständen kaum, und Menschen, die mit ihren
Familien häufig umziehen, lernen gewissermaßen, ihre
Kontakte lose zu gestalten" (Raeithel 1989/435). Die in den USA
dem Touristen zunächst attraktiv erscheinende Umgänglichkeit
und Unkompliziertheit ihrer Bewohner, die Hilfsbereitschaft, der
zwanglose und formlose Umgang sind nur die eine Seite der Medaille.
"Die bei uns übliche Unterscheidung zwischen Fremden und
Bekannten findet ... in den USA kaum statt. Der soeben aufgegabelte
Tourist kann dem Nachbarn ohne weiteres als 'friend' vorgestellt
werden, denn man 'macht' schnell Freunde in Amerika. Der Begriff
'making friends' spricht da für sich" (Grundmann 1997).
Keine kleine Rolle spielt hier der Opportunismus, es sich mit
niemanden verderben zu wollen, man wisse ja nie, wofür er einem
noch nütze sein könnte. Stets anschlußfähig sein
zu müssen und dies auch zu wollen wird zur zweiten Natur. "Keine
engen oder dauerhaften menschlichen Beziehungen einzugehen",
diese "Haltung wird in den USA als Voraussetzung zum sozialen
Aufstieg kulturell toleriert. ... Die Unverbindlichkeit in den
sozialen Beziehungen verschärfte die Armutsproblematik. Die
Mißachtung, die der älteren Generation traditionell
entgegengebracht wurde, hat eine nur sehr lückenhafte
Altersversorgung entstehen lassen" (Raeithel 1989/436f.).
Die USA sind "ein Land, das
sich über Bewegung definiert, also mit der Zeit lebt. Wer
stehenbleibt, lebt verkehrt, zum Leben gehört Unterwegssein, und
Amerika ist der Schauplatz, auf dem die Menschen - auf ganz
verschiedene Weise - unterwegs sind" (Thomä 2000/22).
Subjektiv trägt dies zentrale Motiv des american way of life
auch dazu bei, die Spitzenstellung der USA in der Müllproduktion
(2 Kilogramm Müll pro Person und Tag) zu verstehen. Relevant ist
nicht nur die Möglichkeit, Müllkippen in der Weite des
Raums zu verstecken. "Müllvermeidung ... paßt auch
nicht zum Ideal der Bewegung. ... Wer wegwirft, vollführt
nicht etwa nur eine achtlose Geste, gibt nicht einfach etwas dem
Verfall preis, was vielleicht noch der Reparatur und der weiteren
Nutzung hätte zugeführt werden können. Wer wegwirft,
reinigt sich vom Alten. ... Etwas zu lange zu behalten beleidigt den
Geist der Bewegung" (Thomä 2000/166f.).
Auch in der US-amerikanischen
Ausprägung des Konsums ist eine negative Radikalisierung
anzutreffen. An vielen für die USA typischen Konsumgütern
(nicht zuletzt den Autos) läßt sich zeigen, wie sie Zeit
und Mühe sparen sollen, diese Effekte aber zugleich die
Entwicklung von menschlichen Fähigkeiten und Sinnen in
Mitleidenschaft ziehen. Es kommt zu einer "mangelnden Übung
der Amerikaner in den Konsumfähigkeiten" (Scitovsky
1977/195f.). In keinem anderen Land der Welt sind bspw. derart viele
extrem übergewichtige Personen anzutreffen wie in den USA.
"Die Amerikaner sind einerseits für ihr großes
Interesse an einer richtigen Ernährung und andererseits für
ihr Desinteresse an den Freuden des Essens bekannt. ... Es ist
erwiesen, daß die gute Küche und der Spaß am Essen
keineswegs vom Einkommen oder von der Zugehörigkeit zu den
oberen Schichten abhängt. Ganz im Gegenteil, die enorme Vielfalt
der Zutaten in der europäischen und mexikanischen Küche
beruht v. a. auf der Tatsache, daß die armen Leute alles
überhaupt Essbare verwenden müssen und daß sie diese
Zutaten mit möglichst viel Phantasie genießbar zu machen
versuchen" (ebd. 155). Der US-Amerikaner ist bestrebt, "durch
Gleichgültigkeit gegenüber dem Essen häufig Geld und
oftmals sogar auch Zeit und Energie sparen. Und wenn er bereit ist,
Obst und Gemüse in Dosen oder als Saft zu akzeptieren -
obwohl auch frische Waren verfügbar sind - dann spart er
sogar bei allen drei Faktoren. ... Somit verdankt die
Nahrungsmittelindustrie ihre Existenz dem Wunsch des Konsumenten,
Arbeit zu sparen. ... Die Mehrzahl unserer arbeitssparenden Speisen
und vorgefertigten Lebensmittel bewirkt, daß ein ziemlich
großer Teil des Interesses, der Vielfalt, der Feinheit und des
Essensgenusses verlorengeht, wobei diese nachteiligen Effekte
kumulativ wirken" (ebd. 159). Zwar hat sich beim Essen seit
Scitovskys Buch einiges zum Positiven verändert, zugleich aber
erreichten auch die Fastfoodketten neue Rekordverbreitung (vgl. dazu
Ritzer 1997).
Die Kehrseite der in den USA
selbst im Vergleich zu anderen kapitalistischen Gesellschaften
geringer ausgeprägten institutionellen und subjektiven Präsenz
von Ansätzen für eine gesellschaftliche Gestaltung der
Gesellschaft ist die in den USA ungleich stärker vorzufindende
Moralisierung des Lebens. Bspw. ist es beim Abschluß eines
Mietvertrags nicht unüblich, zwei Social Reference Letters und
zwei Business Reference Letters einzufordern. "Die Miete oder
auch der Kauf einer Wohnung, die in Deutschland als bloße
Rechtsgeschäfte abgewickelt werden, sind in Amerika Bestandteil
der Gemeinschaftsbildung. Während sich der Vermieter in
Deutschland nur formal schützt, indem er eine Kaution verlangt
und eine Hausordnung festlegt, schützt sich das Coop Board in
Amerika zusätzlich dadurch, daß es die Kandidaten einer
charakterlichen Begutachtung unterzieht" (Thomä 2000/51).
Bereits mit diesen Empfehlungsschreiben "hat das Geschäft
mit Wohnungen noch heutzutage teil an jener Besserungsanstalt, als
die sich Benjamin Franklin die amerikanische Gemeinschaft vorstellte"
(ebd. 52).
In den USA steht die
gesellschaftliche Gestaltung der Gesellschaft niedrig im Kurs und
umso mehr bedeutet die moralische Integrität des
Regierungspersonals. "Das Gegenprogramm zum Mißbrauch
formaler Regierung ist der Einfluß des persönlichen
Charakters, das Wachstum des Individuellen" (Ralph Waldo
Emerson, zit. n. Thomä 55). Dem entspricht bspw. ein
öffentliches Geständnis wie das von Clinton (am 1.9.1998):
"Ich brauche Gottes Hilfe, um die Person zu werden, die ich sein
will. ... Ich werde meinen Pfad der Reue weitergehen und geistlichen
Beistand suchen. ... Veränderung ist nicht einfach. Es bedarf
eines Willensakts, um sich zu wandeln. Es bedeutet, mit alten
Verhaltensweisen zu brechen. ... Es bedeutet, das Gesicht zu
verlieren. Es bedeutet, alles von neuem zu beginnen, und das ist
immer schmerzlich. Es bedeutet zu sagen: 'Es tut mir leid'. Es
bedeutet anzuerkennen, daß wir die Fähigkeit haben, uns zu
ändern" (zit. n. Thomä 200/57). Clinton ist mit dieser
öffentlichen Selbstbezichtigung und dem Versprechen der eigenen
tätigen Reue "nicht ein spätes Opfer des
Puritanismus, sondern dessen vorerst letzter Held. ... Wer sich
selbst vervollkommnen will, gesteht seine Unvollkommenheit ein: diese
Logik hat Clinton gerettet. Das Eingeständnis, Fehler gemacht zu
haben, hätte ihm ohne das feste Bekenntnis, sich zu bessern,
freilich nichts genützt" (Thomä 2000/58). Zur
Moralisierung gehört die öffentliche Anprangerung von
Vergehen durch die präzise Mitteilung des Delikts, des vollen
Namen des Missetäters inklusive Wohnadresse in der lokalen
Presse. *
Mit der Moralisierung verbindet
sich ein Diskurs, in dem die Selbstverantwortung und das
Selbstvertrauen zentrale Größen darstellen, die durch
staatliche Hilfe untergraben würden. "Was in den
Lebensgeschichten der Individuen ohne eigenes Zutun schon
vorentschieden ist, wird einfach aus ihnen herausgekürzt. Es
gehört schon eine ziemlich rücksichtslose Leugnung von
Realitäten dazu, wenn man nicht wahrhaben will, daß durch
Lebensumstände ... Vorentscheidungen gefällt werden.
... Zu jener Ideologie (der radikalen Verantwortung - Verf.)
gehört auch die in den meisten Staaten der USA bestehende
Möglichkeit, Kinder wie Erwachsene zu verurteilen" (Thomä
2000/63). Die Kehrseite der Moralisierung und der Attraktivität
all dessen, "was sich individualisieren läßt"
(Thomä 2000/110), ist die private Wohltätigkeit. 175 Mrd.
Dollar Spenden im Jahr 1998 stehen ebenso dafür wie freiwillige
gemeinnützige Arbeiten, die einer Arbeitsleistung von 200 Mrd.
Dollar entsprechen (ebd. 107). Die Grenze dieser zum Recht
komplementären moralischen Mildtätigkeit markiert schon
Hegel (Rechtsphilosophie § 242). Sein Argument leitet nicht
notwendig über zur Identifizierung von gesellschaftlicher
Gestaltung von Gesellschaft mit Etatismus (vgl. dazu Creydt 1999,
2000). "Weil aber diese Hilfe für sich und in ihren
Wirkungen von der Zufälligkeit abhängt, so geht das Streben
der Gesellschaft dahin, in der Notdurft und ihrer Abhilfe das
Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten und jene Hilfe
entbehrlich zu machen. ... Es ist eine falsche Ansicht, wenn sie (die
Mildtätigkeit - d. Verf.) der Besonderheit des Gemüts und der
Zufälligkeit ihrer Gesinnung und Kenntnis diese Abhilfe der Not
allein vorbehalten wissen will und sich durch die verpflichtenden
allgemeinen Anordnungen und Gesetze verletzt und gekränkt
fühlt."
Im westlichen Land mit der
höchsten religiösen Organisationszugehörigkeit fehlen
Kirchensteuer und staatliche Zuschüsse für religiöse
Projekte und es herrrscht ein Sich-Nichteinmischen des Staates in
religiöse Angelegenheiten. "Die Auflösung ihres
politischen Daseins, ... durch die Aufhebung der Staatskirche, eben
dieser Proklamation ihres staatsbürgerlichen Todes entspricht
ihr gewaltigstes Leben, das nun ungestört seinen eignen Gesetzen
gehorcht und die ganze Breite seiner Existenz auseinanderlegt"
(MEW 2/124). Wie in der Ökonomie die hemmungslose Konkurrenz, so
werden auch auf dem religiösen Markt die "Diversifizierung
und die Innovation" gefördert, weil sie den Markt fördern.
"Mit seiner zunehmend mobilen und heterogenen Gesellschaft ist
das religiöse Amerika zu einem göttlichen Supermarkt
geworden, wo sich für nahezu jeden erdenklichen Geschmack eine
Kirche finden oder erschaffen läßt" (Ruthven
1991/315f.). Ohne die Fesseln der Großkirchen kann "in den
Händen von selbsternannten, im Selbststudium ausgebildeten,
halbgebildeten oder total ungebildeten Predigern ein so
reichhaltiger, mannigfaltiger Text wie die Bibel praktisch jede
erdenkliche politische oder soziale Einstellung rechtfertigen"
(ebd. 316). Auch religiös ist in den USA die Tendenz hegemonial,
"die persönliche Erlösung dem Gemeinwohl vorzuziehen"
(ebd. 318). " Regionale, soziale und ideologische Gegensätze,
von denen die Nation zerrissen werden könnte ..., finden in
gewöhnlichen Zeiten ihr Ventil in der Religion, im Retten von
Seelen" (ebd. 320). "Die kleinen Utopien, die hinter
Kirchenmauern florieren mögen, neutralisieren einander nicht
nur, sie entziehen auch der weltlichen Politik so manche Hitze, sie
zähmen die Leidenschaften, begrenzen Konflikte, erhalten den
Bürgerfrieden: Nur wenn die denominationalen (die
Religionsgruppen betreffenden - Verf.) Grenzen aufbrechen und
große moralische Kreuzzüge entfachen ... wird der
politische Status quo durch sie ernsthaft bedroht" (ebd. 315).
Böse Zungen sagen den USA nach, sie seien "nur deshalb kein
Kirchenstaat geworden, weil es zu viele Religionen gab, die ihren
eigenen Kirchenstaat gründen wollten" (Haslinger 1992/84).
Eine Gesellschaft, die die
Freisetzung der Konkurrenz und des individuellen Durchkommens
radikalisiert, sie als Volkssport und als pursuit of happiness
idealisiert und dafür nahezu alles zur Verfügungsmasse
erklärt, muß sich über die Rekorde an Kriminalität,
Drogensucht und Pornographie nicht wundern. Die vielen religiösen
Gruppen in den USA helfen dabei, die Konsequenz sozialer Verhältnisse
als individuelle Verirrung zu thematisieren und zu traktieren. Zudem
stellen die Kirchen den wirksamsten Gegenpol zur extremen
Mobilität dar und bilden "bis heute die wichtigsten
Begegnungs- und Versammlungsorte der amerikanischen Gesellschaft"
(Haslinger 1992/84).
Auch die für den kapitalistischen Konsum
unumgängliche Umwertung vieler Werte führt zu einer
Verwirrung und Verunsicherung, die wiederum Nachfragemotive nach
religiösem Halt schaffen. Es handelt sich weniger um (auch
reichlich vorhandene) Doppelmoral als um die letzten, eben: religiös
gefaßten imaginären Fundamente einer
deterritorialisierten und durch und durch fragmentierten
Gesellschaft. Verbindendes finden US-Amerikaner vorrangig in der Idee
ihrer Nation. In ihr verkörpern sich jene
Rahmenbedingungen, die die individuelle Interessenverfolgung der
'self made men' und des 'pursuit of happiness' fördern. "Die
zentralen Ideen dieser Doktrin abzulehnen, heißt
'unamerikanisch' sein. Es gibt kein britisches oder französisches,
kein deutsches oder japanisches 'Glaubensbekenntnis'; die Académie
Francaise macht sich Sorgen um die Reinheit der französischen
Sprache, nicht über die Reinheit der politischen Ideen
Frankreichs. Was wäre denn auch eine 'unfranzösische'
politische Idee? Aber die Beschäftigung mit 'unamerikanischen'
politischen Ideen oder Verhaltensweisen ist ein stets wiederkehrendes
Thema im amerikanischen Leben geblieben. 'Es ist unser Schicksal als
Nation gewesen', hat Richard Hofstadter bündig bemerkt, 'keine
Ideologie zu haben, sondern eine zu sein'. Diese Identifikation der
Nationalität mit dem politischen Glaubensbekenntnis oder Werten
verleiht den USA im Grunde ihren einzigartigen Charakter"
(Huntington 1982/25).
Dementsprechend massiv ist dann auch die
Verbreitung des Fahneneids, der USamerikanischen Flagge selbst,
patriotischer T-Shirts (bspw. während des Golfkriegs, vgl. zu
dieser Zeit in den USA Haslingers beklemmenden Erfahrungsbericht
1992/99ff.). In keinem anderen modernen Land ist die Vorstellung,
beispielgebendes Vorbild für die Welt zu sein, der Glaube an die
eigene Auserwähltheit und ein Sendungsbewußtsein so
ausgeprägt und seit Jahrhunderten immer wieder manifestiert
worden wie in den USA (vgl. für vielfältige Beispiele
Williams 1984, Winter 1989/42ff.). Auch der Terroranschlag vom
11.9.2001 gibt dann nur Anlaß zum "Kampf des Guten gegen
das Böse" (George W. Bush). Zugleich zeigt er, wie eine
Nation sich in kollektiven Gefühlsäußerungen zu einer
Gemeinschaft zusammenfindet, die sich allein negativ, durch
äußere
Bedrohung gestiftet versteht. Kollektiv präsent ist die
Gesellschaft sich selbst vorrangig als "Erregungs-Gemeinschaft.
... Hochgradig aufgeheizte, hysteroide und paniknahe
Kommunikationsverhältnisse" machen derart aus einem
"vielfältig differenzierten Volkskörper ein in
gemeinsamen Themen und Sorgen vibrierendes Schein-Ganzes"
(Sloterdijk 1998/29). Wie bei der Siegesparade der 'Golfhelden' am
8.6.1991 in Washington, wird es auch demnächst wieder heißen:
"Die Feinde des Friedens, diese brutalen Aggressoren, konnten
den gemeinsamen Gebeten von 250 Millionen Amerikanern nicht
standhalten" (George Bush, zit. n. Haslinger 1992/87). Von den
USA ist also noch viel zu erwarten.
Literatur:
Armanski, Gerhard 1981: Mankind's
Second Chance. Vorrede zu einer Analyse der US-Kultur. In: Dollars
und Träume H. 3. Hamburg
Barber, Benjamin R. 1999:
Demokratie im Würgegriff. Kapitalismus und Fundamentalismus -
eine unheilige Allianz. Frankf. M.
Boeckelmann, Frank 1999: Die
Gelben, die Schwarzen, die Weißen. Frankf. M.
Bourdieu, Pierre 1999: Die
Durchsetzung des amerikanischen Modells und seine Effekte. In:
Sozialismus H. 12, Hamburg
Creydt, Meinhard 1999: Anhang zu:
Probleme nichtsubalterner Basispolitik. In: Grün-Links-Alternatives
Netzwerk Ruhrgebiet (Hg.):'Grün-links-alternative
Perspektiven für NRW ?!' Dortmund
Creydt, Meinhard 2000: Theorie
gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.
Grundmann, Hans R. 1997: USA
Canada. Das Handbuch für individuelles Reisen. 9. Aufl.
Hohenthann
Haslinger, Josef 1992: Das Elend Amerikas. Frankf. M.
Huntington, Samuel P. 1982:
American Politics. The Promise of Disharmony. Cambridge. Mass.,
London
Knöbl, Wolfgang 1994: Sind
die USA eine besonders gewalttätige Gesellschaft ? In:
Joas, Hans; Knöbl, Wolfgang (Hg.): Gewalt in den USA. Frankf. M.
Marxistische Gruppe 1979: USA -
Die Weltmacht Nr. 1. In: Dies.: Resultate H. 5. München
MEW: Marx-Engels-Werke. Berlin-DDR
MSZ: Marxistische
Studentenzeitung. München
Pallagrosi, Luciano 1998: Die
vielen Gesichter des US-amerikanischen Arbeitsmarktes. In:
Supplement der Zeitschrift 'Sozialismus' H. 9/98
Prokla 1989: Aufgeklärte
Blindheit. Plädoyer für einen linken Antiamerikanismus.
Redaktionelles Editorial zu Heft 74, Berlin
Raeithel, Gert 1989: Geschichte
der nordamerikanischen Kultur. Bd. 3. Weinheim
Ritzer, George 1997: Die
McDonaldisierung der Gesellschaft. Frankf. M.
Ruthven, Malise 1991: Der
göttliche Supermarkt. Auf der Suche nach der Seele Amerikas.
Frankf. M.
Scheuch, Erwin K. und Ute 1992:
USA - ein maroder Gigant? Freiburg
Scitovsky, Tibor 1977: Psychologie
des Wohlstandes. Frankf. M.
Sloterdijk, Peter 1998: Der starke
Grund zusammen zu sein. Erinnerung an die Erfindung des Volks.
Frankf. M.
Thomä, Dieter 2000: Unter
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Vidal, Gore 1998: Warum Clinton
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Wasser, Hartmut 2000: Die Rolle
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Williams, William Appleman 1984:
Der Welt Gesetz und Freiheit geben. Amerikas Sendungsglaube und
imperiale Politik. Hamburg
Winter, Rolf 1989: Ami go home.
Hamburg
Anmerkungen
* So heißt es
bspw.
im Burlington Courier vom 14.2. 1998: "1:54 a.m. Friday,
Howard
Stacy Wells, 34, 525 1/2 Church Str., was charged with public
intoxication. 12:08 a.m. Friday, Travis John Courtney, 21, 11650
Rabbit Run, No. 152, was charged with providing alcohol to a
minor. 6:04 p.m., Friday, Wendy Bonnett, 20, of 612 D. Ave. W., was
charged with driving with a suspended livence." So geht es
dann spaltenlang weiter.