WDR-Film über den Kosovo-Krieg „Es begann mit einer Lüge“ erhitzt nach wie vor die Gemüter
Seit die ARD am 8. Februar die Dokumentation „Es begann mit einer Lüge“ von Jo Angerer und Mathias Werth gesendet hat, wird den Monitor-Autoren unter
Berufung auf die Aussagen eines albanischen Journalisten „parteiische und unseriöse Recherche“ und in mehreren Punkten eine vorsätzliche
Verfälschung von Tatsachen vorgeworfen. Die Kritiker finden sich vor allem in der Süddeutschen Zeitung, der FAZ und der Welt – bei letzterer „in teils
hanebüchener Manier“, so wiederum die Frankfurter Rundschau. Dazu unser Balkan-Korrespondent und der gescholtene WDR selbst.
Nicht über die Rechtfertigung oder über die politischen Folgen der Nato-Intervention im Kosovo debattiert die deutsche Öffentlichkeit in diesen Tagen so hingebungsvoll.
Sie widmet sich lieber der weitaus leichteren Frage, ob Rudolf Scharping während des Krieges immer die Wahrheit gesagt hat. Hat er wahrscheinlich nicht, wie die
Sendung „Es begann mit einer Lüge“ nahelegt. Scharping hat offenbar übertrieben. Er hätte es wohl gern noch schlimmer, noch dämonischer gehabt, wäre gern, wie
Churchill von der Last der moralischen Verantwortung gedrückt, in einen unvermeidlichen Krieg gezogen.
Das mag alles so sein. Man darf aber bezweifeln, dass die Deutschen ihrem Verteidigungsminister die Pose geglaubt haben. Eine Regierung, die Albaner ins serbisch
besetzte Kosovo abschiebt, kann gar nicht so plötzlich an moralischer Panik erkranken. Dass einen Minister beim Morgengebet das Gewissen ruft oder dass einem
versammelten Nato-Rat angesichts des Elends in der Welt plötzlich die Tränen in die Augen schießen, lässt kein einigermaßen informierter Mensch sich vormachen. Es
ist die Version für Bild, Bunte oder irgendein RTL-Magazin – für Leser und Zuschauer also, die sicher auch dann nicht gegen das Nato-Bombardement aufgetreten wären,
wenn niemand ihre Tränendrüsen bearbeitet hätte. Nein, die informierte deutsche Öffentlichkeit brauchte keine Übertreibungen; sie hat diesen Krieg mehrheitlich aus
seriöseren Gründen unterstützt. Sie war schon seit Bosnien davon überzeugt, dass es mit dem damaligen serbischen Regime keinen Frieden auf dem Balkan geben
könne und dass man ihm sichtbar, auch militärisch, Einhalt gebieten müsse. Hatten Luftschläge nicht auch Saddam Hussein zum Einlenken gezwungen?
Man mag bezweifeln, dass es stichhaltige Gründe waren, aber so dumm sind die Westeuropäer nicht, dass sie einem Minister mit roten Ohren in jeden beliebigen Krieg
folgen würden. Scharping mag mit seinen aufgeregten Pressekonferenzen auf den unpolitischen Teil seiner Wählerklientel geschielt haben, vielleicht hat er auch eine
juristisch haltbare Begründung gesucht, dass das Bombardement zur Abwehr eines unmittelbar bevorstehenden Menschheitsverbrechens unvermeidlich war, oder er hat,
was noch das Beun- ruhigendste wäre, an seine Pose selber geglaubt. In Wirklichkeit hat die Nato weder wegen Racak noch wegen des Hufeisenplans interveniert. Das ist
keine Enthüllung; man kann es in den Zeitungen Anfang 1999 minuziös nachlesen.
„Dieser Film zeigt, warum Bomben auf Belgrad fielen“, sagen seine Autoren. Das ist gewaltig übertrieben. Er zeigt nicht einmal, warum die Europäer es geschehen
ließen. Der Film präsentiert uns vielmehr eine andere, nicht weniger unglaubwürdige Pose. Leute, die ihr Weltbild bisher gewiss nicht aus Bild, der Bunten oder einem
RTL-Magazin bezogen haben, tun auf einmal sehr verwundert: Hat man uns belogen? Waren vielleicht gar nicht die Serben, sondern die Albaner die Bösen?
Kinderfragen sind das, aus dem Mund von Erwachsenen klingen sie obszön. Waren die Amis gar nicht auf dem Mond – alles nur Kulisse? Sind die mehr als 100.000
Albaner, die aus Prishtina vertrieben wurden, vorher auf dem Bahnhof oder doch im Stadion festgehalten worden? Kann nicht doch ein Pole unter den Soldaten gewesen
sein, die den Sender Gleiwitz überfallen haben?
Es sind alles falsche Fragen, alle Antworten führen in die Irre. Es geht dabei nicht um den Sinn des Kosovo-Krieges. Das Nato- Bombardement war ein gefährliches
Abenteuer; es ist vergleichsweise glücklich ausgegangen. Belgrad hat völlig anders reagiert als erwartet, und die Nato war schnell mit ihrem Latein am Ende. Aus
Verlegenheit beschoss sie immer mehr zivile Ziele und setzte sich zunehmend ins Unrecht. Als knapp 900'000 Albaner vertrieben waren, konnte man nicht einfach
aufhören mit dem Bombardieren. Warum Belgrad schließlich doch einlenkte, ist eine noch ungeklärte Frage. Mit dem glücklich eroberten Kosovo wusste die westliche
Staatengemeinschaft dann nicht umzugehen, nun wurden Serben vertrieben oder ermordet – alles andere als eine strahlende Bilanz des Krieges.
Welche Alternativen gab es? Hätte man den zu erwartenden großen Kleinkrieg mit Hunderttausenden Vertriebenen wie im Sommer 1998 tolerieren sollen? Hätte man
besser Jugoslawien aus seiner fatalen Paria-Rolle befreit und auf langsame Besserung gehofft? Das sind ziemlich schwierige Fragen. Aber dafür lohnen die Antworten.
Es begann mit einer Lüge, heißt der Film. Begann denn alles mit einer Pressekonferenz von Rudolf Scharping? Oder waren schon die Familien, die im Herbst 1998 in
den Wäldern lebten und starben, eigentlich zum Picknick unterwegs – und die Albaner, die sich von serbischen Polizisten grundlos malträtieren lassen mussten,
gedungene Schauspieler? Es begann, je nach Blickwinkel, vielleicht mit der Rede von Slobodan Milosevic auf dem Amselfeld am 28. Juni 1989, mit den ersten
Anschlägen der UCK 1996, der militärischen Eroberung des Hofes der Familie Jashari Ende Februar 1998 – aber sicher nicht mit einer irgendeiner Lüge. Was dann nach
dem 24. März im Kosovo stattfand, ist ebenfalls nicht erfunden, und es ist auch keine, wie es hilfsweise zu hören ist, zwingende Folge der Nato-Intervention. Es war eine
organisierte Vertreibung. Man kann dieses planvolle Verbrechen nicht als spontane Wutreaktion auf das Nato-Bombardement verharmlosen; es war eine konzertierte
Aktion von Armee, Polizei und Freischärlern, die nach festem Muster ablief.
Die Frage nach der Schuld im Kosovo-Krieg und nach der Rechtfertigung des Nato-Bombardements wird weder von finnischen Pathologen beantwortet, die die Opfer von
Racak obduzieren, noch von deutschen Journalisten, die zwei Jahre später an den Ort des Geschehens reisen und Kriminal- kommissar spielen.
Es begann nicht mit einer Lüge, kann aber mit einer zu Ende gehen. Dann nämlich, wenn die Kritiker des Krieges, statt mit guten Gründen zu argumentieren, sich der
Einfachheit halber lieber an die simple Propaganda halten als an die komplizierte Wirklichkeit.
Norbert Mappes-Niediek
Die in der FAZ und unter Bezug darauf auch in einigen anderen Zeitungen erhobenen Manipulations-Behauptungen über die WDR-Dokumentation „Es begann mit einer
Lüge“ sind haltlos und zum Teil frei erfunden. Hätten manche Kollegen nachgefragt und recherchiert, wäre es kaum zu einer ungeprüften Weitergabe dieser Behauptungen
gekommen. Alle Rechercheergebnisse im WDR-Film konnten bisher allen Vorwürfen standhalten. Das Hauptproblem bleibt aber nach wie vor, dass zum Beispiel das
Bundesverteidigungsministerium oder das Auswärtige Amt wichtige Quellen zur Bewertung von Einzelheiten und der Gesamtsituation im Kosovo unter Verschluss halten
und mit „VS - nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert haben. Deshalb bleibt es bei der Forderung nach Veröffentlichung insbesondere der internen Lageberichte und
Quellen zur Situation im Kosovo.
WDR