Liebe Wähler*innen, Liebe Freund*innen, Liebe interessierte Menschen aus Vereinen, Initiativen, Aktionen und Verbänden,
in der Politik ist es wie im Leben. Es gibt kein Ende, nur einen Neuanfang. Den wage ich jetzt. Ich verlasse die Grünen. Lange Zeit habe ich mit mir gerungen, aber es gibt für mich keinen anderen Weg.
Ihr wisst, ich habe immer aus vollem Herzen heraus Grüne Politik vertreten. Kritisch, direkt, einfordernd und auch unbequem. Dafür erhalte ich Euren Zuspruch. Unterstützung und Beratung bekomme ich von vielen von Euch für meine inhaltliche und fachliche Politik, auch für idealistische Positionen.
Ich streite für eine progressive Sozialpolitik. Als unabhängige Abgeordnete bleibe ich dafür auch in Zukunft Eure Stimme im Parlament. Euer Rückhalt stärkt mich.
Zur grünen Partei bin ich gekommen, weil ich davon überzeugt war, dass sie verkrustete gesellschaftliche Strukturen aufbricht und Politik nah am Menschen macht. Nur: Die Politik der Grünen hat sich stark verändert, in Bremen und auch bundesweit. Für mich verlieren die Grünen immer mehr ihre linken Wurzeln und ihren progressiven Kampfgeist für eine gerechtere sozial-ökologische Politik. Stattdessen haben sie sich dem gesellschaftlichen Mainstream angepasst und sind froh darüber. Auch in Bremen bewegen sich Regierungsgrüne in einen kuscheligen Raum des Machterhalts.
Um diesen Machterhalt immer wieder aufs Neue zu stabilisieren, bleiben grüne Grundsätze auf der Strecke. Abweichende Meinungen werden im Regierungsalltag nicht respektiert. Immer mehr Angst bestimmt politisches Handeln. Das zeigt sich vielfach. Einige Beispiele dazu.
Grüne Grundsätze bleiben auf der Strecke
So wurde am unsinnigen Offshore Terminal festgehalten, der sich spätestens mit dem Zuschlag von Siemens für den Standort Cuxhaven weder ökonomisch noch ökologisch (u.a. Klage des BUNDs) rechtfertigen lässt. Das Oberverwaltungsgericht hat entschieden, dass der Baustopp bestehen bleibt. Begründung: Der Offshore Terminal rechnet sich nicht. Für mich eine Klatsche für die rotgrüne Regierung. Richter haben entschieden und nicht die Politik.
Schwerer noch wiegt für mich die Alibipolitik in der Armutsbekämpfung. Kernstück meiner grünen Sozialpolitik war, Armut nicht mehr nur im Nachhinein durch Sozialleistungen abzufedern sondern an ihren Wurzeln zu packen. Mir ging es darum, eine ressortübergreifende Armutspolitik für Grüne nach vorne zu bringen. Soziales, Bildung, Wirtschaft, Arbeit und Bau sollten gemeinsam Armut bekämpfen. Was für einen Augenblick erfolgreich schien.
Erfolgreich, weil viele dieses Thema für sich neu entdeckten, neugierig wurden und Fehler in der bisherigen Regierungsarbeit einstanden. Doch leider schloss sich dieses Fenster schnell. Ein ehrlicher innerparteilicher Diskurs wurde nicht entfacht, ein fundierter inhaltlicher Konsens nicht gefunden. Es gab keine strategische ernsthafte Auseinandersetzung. Ich musste erkennen, dass grüne Armutspolitik vor und im Wahlkampf 2015 dazu genutzt wurde, um sich persönlich zu profilieren. Grüne Armutspolitik verflachte.
Diese Alibipolitik schlug sich auch im Koalitionsvertrag nieder. Zur 18. Wahlperiode formulierten wir noch den Anspruch auf ein "übergreifendes Gesamtprogramm". Für die 19. Wahlperiode deklarierten wir im Koalitionsvertrag nur noch den Willen, einen Armuts- und Reichtumsbericht zu verfassen. Selbst nach einem extra einberufenen parlamentarischen Armutsausschuss am Ende der 18. Wahlperiode wurde nicht gehandelt. Ein strategisch ausgerichtetes Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut fehlt bis heute. Kein grünroter Regierungswille war erkennbar, um gemeinsam mit allen im Parlament vertretenen demokratischen Parteien ein solches Armutsprogramm aktiv zu gestalten und finanzstark zu hinterlegen.
Diese verpasste Chance ist für mich politisches Versagen, das mir heute noch im Herzen weh tut. Vor allem für jeden vierten Menschen im Lande Bremen, der von Armut betroffen ist. Und für jedes dritte Kind.
Abweichende Meinungen werden nicht respektiert
Ein weiteres Beispiel ist die geschlossene Unterbringung für problematische Jugendliche aus Nordafrika. Hier habe ich besonders hart gekämpft.
Am Anfang stand ich in der Grünen Fraktion allein mit meiner Position. Fachliche und pädagogische Gründe sowie humanistische Überzeugungen sprachen für mich eindeutig gegen ein geschlossenes Heim. Meine Forderung war, Alternativen im Rahmen der Jugendhilfe zu schaffen. Intensivpädagogische Maßnahmen auszubauen, die mobile Hilfe ebenso wie eine zugeschnittene Straßensozialarbeit zu stärken. Denn: Diese Angebote und flexiblen Hilfen fehlten in der bremischen Trägerlandschaft.
Umso unerträglich, perfide und rassistisch war für mich die Forderung des ehemaligen Bürgermeisters Jens Böhrnsen, problematische Jugendliche aus Nordafrika einfach in einem Heim wegzusperren. Diesem populistischen Wahlkampfmanöver folgten auch die meisten Grünen, vor und nach der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft im Mai 2015. Im Fokus stand der Machtanspruch. Angst bestimmte das politische Handeln.
Angst wird immer mehr zum politischen Ratgeber
Fachliche und juristische Argumente, Lehren aus der schwarzen Heimpädagogik, damals bekannt gewordene eklatante Vorkommnisse in geschlossenen Heimen der Jugendhilfe wurden weitestgehend ignoriert. Selbst dann noch, als auf einer Fachveranstaltung der Grünen Fraktion im November 2015 mehrheitlich von den eingeladenen Fachexperten eine geschlossene Unterbringung abgelehnt wurde. Absurd empfand ich danach die mehrheitliche Zustimmung für eine geschlossene Unterbringung in der Bremischen Bürgerschaft im Februar 2016. Abweichende Meinungen dazu wurden in der Grünen Fraktion nicht respektiert. Ich bekam zu spüren, wie es ist, wenn ich als Abgeordnete bei der Ausübung meines freien Mandats meinem Gewissen nicht mehr folgen kann. Ein grundgesetzlich verankertes Recht.
Am Ende (Februar 2017) hat sich die Grüne Fraktion und auch der Senat gegen den Bau eines geschlossenen Heimes im Blockland entschieden. Motiv des Handelns war Sachzwangpolitik. Zu teuer. Zu viele Millionen Euro, die für einen Bau draufgegangen wären. Auch waren viele der problematischen Jugendlichen aus Nordafrika zum größten Teil weitergezogen. Erfreulich ist hingegen, dass die von mir eingeforderten alternativen Maßnahmen im Umgang mit delinquenten Jugendlichen mittlerweile angeboten werden.
Für viele Grüne war meine Überzeugung, entschlossen gegen eine geschlossene Unterbringung zu kämpfen, nicht nachvollziehbar. "Kröten schlucken", nannten es einige, zugunsten des Machterhalts. "Am Ende zählt nur das Ergebnis", auch diese pragmatische Sicht galt unter grünen Realpolitikern als ausgemacht. Am Ende, sagten sie mir, sei meine Politik gegen die geschlossene Unterbringung doch erfolgreich gewesen. "Also, was soll’s?" Und gerade in dieser Haltung sehe ich, wie schwammig Grüne Politik geworden ist. Den Verlust an Glaubwürdigkeit und Identifizierbarkeit. Wenig verwunderlich, dass das Licht der Grünen an Kraft verliert.
So geht es mir damit. Und so zeigt es sich für mich auch in der bundesweiten Entwicklung der Grünen Partei. Deutlich wird eine zunehmende Abkehr von ihrer einst stark sichtbaren humanitären Flüchtlingspolitik hin zu einer Asylpolitik, die in Deutschland integrierte Menschen in eine ungesicherte Zukunft abschiebt.
Bisher habe ich die Grünen als klassische Bürgerrechtspartei gesehen. Mehr und mehr erschüttern mich Grüne Funktionäre, die Ängste schüren und mit dem Thema der inneren Sicherheit den parteipolitischen Diskurs bestimmen. Deutlich wird dies am grünen Positionswechsel in Bremen, öffentliche Plätze (u.a. Domsheide, Marktplatz) immer mehr staatlich zu überwachen und ohne Verdacht Daten zu sammeln. Also: Individuelle Grund- und Freiheitsrechte werden zunehmend ausgehöhlt, vertreten und gefordert von Grünen.
Grüne haben ihre linken Wurzeln verloren
Das ist nicht mehr meine Partei, in der ich mich als grün-links Denkende aufgehoben fühle. In einer Partei, in der es möglich wurde, dass die grüne Bundesvorsitzende Simone Peter öffentlich von Grünen fertig gemacht wurde. Sie hatte die eigentlich selbstverständliche Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines Polizeieinsatzes in der Silvesternacht 2016/2017 in Köln gestellt, als ca. 1.000 Personen aufgrund ihres Aussehens überprüft und teilweise festgenommen wurden. Personengruppen wurden aufgrund von Haar und Hautfarbe diskriminiert! Und Grüne haben tatsächlich dafür ihre Parteivorsitzende demontiert.
Dass sich die Grünen von ihren linken Wurzeln verabschiedet haben, zeigt sich nicht nur in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, sondern auch in der Auswahl ihres Personals. Für mich spricht es eine deutliche Sprache, dass für die Bundestagswahl 2017 zwei Spitzenkandidaten nur aus dem Realo-Flügel zur Wahl stehen. Unterschiedliche inhaltliche Ausrichtungen werden öffentlich nicht mehr wahrnehmbar.
Für links-grüne Politik sehe ich besonders in Bremen keine Plattform. Es fehlt für mich ein tragfähiger Rückhalt, um progressive Sozialpolitik authentisch vertreten zu können.
Aus meiner Sicht befassen sich zu viele Grüne in Bremen mit einer Klientelpolitik. Sie ist weit entfernt von den eigentlichen Sorgen und Nöten der Menschen.
Und deshalb steckt Grüne Politik für mich in einer Sackgasse. Keine Visionen. Keine Strategie. Kein Agenda-Setting, um grüne Politik in Bremen neu aufzustellen. Um dieses ändern zu können, dafür sehe ich bei den Bremer Grünen keine Mehrheiten.
Eure Stimme im Parlament
Auch zukünftig werde ich eure Stimme im Parlament sein. Ohne den Austausch mit Euch geht es dabei nicht. Auch deshalb habt ihr mich gewählt. Euer Vertrauen trägt mich. Lieben Dank dafür.
Lasst uns auch in Zukunft im Gespräch bleiben, sei es auf einen zufälligen Plausch auf der Straße, per online Kommunikationen, auf einen Kaffee oder in Gesprächen in meinem Wohnzimmer. Jederzeit ist das möglich. Fühlt Euch dazu herzlich eingeladen. Ich bin gespannt auf Eure Rückmeldungen.
Eure Stimme im Parlament
Eure Susanne Wendland
P.S. In Zeiten von Fake-News hätte ich gerne noch die Quellen angegeben, aber darüber können wir auch reden. Wenn ihr mögt, leitet dieses Schreiben gerne weiter.