Vorbetrachtung*:
Fast niemand hat es geahnt: Norbert Blüm ist im Grunde seines Herzens
Sozialdemokrat. Doch ganz im Ernst - noch bis in die 70er Jahre, erst recht
zur Zeit des Ahlener Programms, war die CDU eine sozialdemokratische
Partei. Anders als die streng abgegrenzten Klientel-Parteien der Weimarer
Zeit waren die CDU, ebenso wie SPD, FDP und sogar die CSU "Volksparteien"
in dem Sinne, daß sie versuchten, das sich in einem dynamischen Verhältnis
befindlichen Kräftegleichgewicht zwischen Gewerkschaften und Unternehmen in Gesetze
zu formen. Selbstverständlich war der demokratische Anspruch nur Phrase,
denn die Gesetzgebung erfolgte entsprechend den Machtverhältnissen und
nicht entsprechend den Mehrheitsverhältnissen. Und auch in dem Sinne waren es
allesamt sozialdemokratische Parteien, da sie die soziale Marktwirtschaft,
vulgo: Kapitalismus, als den Endpunkt aller geschichtlichen Entwicklung
begriffen.
Nun ist es allerdings ironischer Weise so, daß sich die Union seit der
Regierungsübernahme durch Helmut Kohl 1982 schleichend von ihren
sozialdemokratischen Wurzeln entfernte und nach und nach der
monetaristische Wirtschaftstheorie folgend den neoliberalen Vorbildern
Margaret Thatcher und Ronald Reagan anpaßte. Diesen Prozeß machte
Norbert Blüm von Anfang bis Ende (1998) ohne Murren mit. Allerdings
blieb in den 16 "schwarzen" Jahren immer ein erheblicher Teil
sozialdemokratischer Politik erhalten - nicht aus Vernunft oder
Anhänglichkeit, sondern weil die deutschen Einheitsgewerkschaften
weniger leicht klein zu kriegen waren wie die britischen oder gar
die im Grunde längst nicht mehr real existierenden US-ameri- kanischen
Gewerkschaften.
Und so muß Norbert Blüm im Alter wohl zu seinen politischen Wurzeln
zurück gefunden haben, wenn er folgendes als aufrechter Sozialdemokrat
schreibt:
Es war einmal . . . und lange ist es noch nicht her, da brachte die
evangelische und die katholische Kirche ein Sozialwort unter das
Volk: "Option für die Armen" war das Leitmotiv. Jetzt - 6 Jahre
später - melden sich die katholischen Bischöfe mit einem
"Impulstext" mit dem Titel: "Das Soziale neu denken" wieder zu
Wort. Der Text ist, wie im Vorwort vermerkt, von einigen
"Persönlichkeiten" erstellt. Die Bischöfe lassen bei Experten
arbeiten. Es herrscht jedoch kein Mangel an Wissen, sondern an
Werten. So ändern sich die Zeiten.
Aus der kraftvollen "Option für die Armen" ist ein ängstlicher
Wunsch geworden, im Modernisierungsprozess mithalten zu können.
"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Diese Angst treibt
offenbar die Bischöfe. Aber wer zu früh kommt, gerät in Gefahr, in
den falschen Zug einzusteigen. Unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist
der "Impulstext" ein Flop. Die öffentliche Beachtung hält sich in
engen Grenzen. Das ist keine Überraschung, denn die neoliberale
Marktlücke ist längst besetzt; was der Text sagt, haben die
Arbeitgeber- verbände schon tausendmal und besser gesagt. Es handelt
sich um eine mimikryhafte Assimilation mit dem Zeitgeist. Der ist
so unbeständig wie die Mode. Das Neue, zu dem Anstoß gegeben werden
soll, entpuppt sich als eine Variante der alten liberalen
Dreifaltigkeitslitanei: "Wettbewerb", "Privatisierung",
"Kostensenkung".
Um freilich dem Neuen einen Weg zu bahnen, muss zunächst das
Terrain präpariert werden. "Deutschland verträgt keinen weiteren
Stillstand", hebt schon der zweite Satz des Vorwortes wie ein
Paukenschlag an, jeden Einwand niederschmetternd. Wenig später
heißt es im Impulstext, das "immer neue Forderungen und
Wahlversprechen die Leistungen" ausgeweitet hätten. Wo waren Sie,
Exzellenzen, eigentlich in den letzten 20 Jahren? Das Rentenniveau
betrug noch 1982 rund 70 Prozent des Nettolohnniveaus. Das
Arbeitslosengeld 67 Prozent des letzten Nettoverdienstes.
Zuzahlungen in der Krankenversicherung waren minimal. Die
Sozialleistungsquote sank von 1982 bis 1990 um immerhin drei
Prozent, und sie ist heute immer noch niedriger, als sie vor rund
40 Jahren war. Dass sie nach 1990 wieder stieg, hat vor allem zwei
Gründe - einen guten und einen schlechten: "Deutsche Einheit" und
"Arbeitslosigkeit". Die Deutsche Einheit ist ein Ruhmesblatt in der
Sozialgeschichte unseres Landes. Es gelang die Umstellung des
DDR-Sozialsystems in ein freiheitliches fast über Nacht, aber nicht
von selbst. Vergleichbar ist dieses Experiment nur mit dem
Versuch, zwei entgegengesetzt fahrende Güterzüge bei voller Fahrt
umzuladen. Kein anderer öffentlicher Bereich war im Einheitsprozess
so erfolgreich wie der "Sozialstaat Deutschland". Die
Arbeitslosigkeit werden selbst die Experten der Bischöfe nicht der
Sozialpolitik in die Schuhe schieben können. So viel, wie die
Arbeitslosigkeit kostet, kann selbst die beste Sozialpolitik nicht
kompensatorisch sparen.
Die Maut-Blamage als Beispiel von Managementversagen und das
Ergebnis der Pisa-Studie lassen sich auch bei größten Anstrengungen
nicht sozialpolitisch erklären, und was die Kosten anbelangt,
liegen wir keineswegs an der Spitze Europas. Sonst wäre auch nicht
zu erklären, wieso wir nicht nur Export-Europameister, sondern
-weltmeister sind. Selbst das von vielen Neoliberalen bewunderte
Thatcher-Blair- England liegt in Sachen Abgabenquote vor uns.
Natürlich taucht auch wieder der Vielfraß "Anspruchsdenken" im
bischöflichen Text auf. Das Soziale "wurde zu einem Anspruch, um
eine immer komfortablere Normalität herzustellen". Man stellt sich
offenbar den Arbeitslosen so vor, es sind immerhin mehr als 4
Millionen, wie Fischers Frau Ilsebill, "die, je mehr sie hat, je
mehr sie will". Ich wünsche mir, dass ein Bischof seinen Text einem
50-jährigen Arbeitslosen vorträgt, der 200 Bewerbungen erfolglos
abgesandt hat, und ihm klarzumachen versucht, dass seine "immer
komfortablere Normalität" auch das Ergebnis "der zusehends
geschwächten Eigenverantwortung" ist.
Wie wäre es, wenn die Bischöfe sich in Sachen Anspruchs- denken mehr
einem Personenkreis zuwenden würden, der herkömmlicherweise nicht
zur Klientel des Sozialstaates gehört? Großmanager der deutschen
Wirtschaft empfehlen sorgengeplagt Lohnzurückhaltung und sahnen
gleichzeitig unverfroren ab. Die Vorstandsgehälter der Deutschen
Bank, einer Leuchte der Deutschen Wirtschaft, stiegen
beispielsweise zwischen 1997 und 2001 um 474 Prozent, während
gleichzeitig 14.500 Stellen abgebaut wurden und die Aktionäre in
diesen Jahren ein Drittel ihres Aktienvermögens verloren. Klaus
Esser von Mannesmann erhielt als Goldenen Handschlag für die nicht
verhinderte Fusion mit Vodafone 60 Millionen Mark, während die
Deutschen Arbeitgeberverbände gleichzeitig über zu hohe Abfindungen
für Arbeitnehmer in den Sozialplänen klagten. Der biblische
Pharisäer war geradezu ein Stümper gemessen an der Scheinheiligkeit
mancher Lohnzurückhaltungsapostel.
Die Bischöfe hätten an diesen
und anderen Beispielen die Schizophrenie der deutschen
Sozialstaatsdiskussion bloßstellen können. Die Chance zur
Bußpredigt haben sie sich mit ausgewählter Expertenhilfe leider
entgehen lassen. Von den Wein trinkenden Wasserpredigern - im
Bischofswort keine Spur. Solche Attacken entsprechen ja nicht dem
Mainstream, in dem zu schwimmen die Übung ist, zu welcher der
Bischofstext die Anleitung liefert. Nach Angaben des
Caritas-Verbandes, einer kirchlichen Organisation, deren Impulse
offensichtlich in den "Impulstext" keinen Eingang gefunden haben,
gehen dem Gemeinwesen durch Sozialhilfemissbrauch jährlich 120
Millionen Euro verloren; durch Steuerhinterziehung jedoch 65
Milliarden Euro. Gleichzeitig werden schätzungsweise 2,2 Milliarden
Sozialleistung nicht in Anspruch genommen von Menschen, die sich
ihrer Armut schämen und sich deshalb scheuen, an der "komfortablen
Normalität" des Sozialstaates zu partizipieren.
Missbrauchsbekämpfung ist hierzulande selektiv: Die Kleinen hängen
und die Großen laufen lassen.
Auch von Solidarität ist im Bischofswort hier und da die Rede;
meist jedoch auf philosophischer Höhe. Gut wär's, wenn sich die
Bischöfe einmal den Kopf zerbrechen würden, was eine losgelassene
Flexibilität und eine totale Mobilmachung des Arbeitsmarktes für
Familie, Nachbarschaft und Heimat bedeuten würde. Der flexible
Mensch, Prototyp des neuen Arbeitnehmers, ist immer beweglich,
allzeit verfügbar. Immer unterwegs und nirgends zuhause. Der Vater
hopst zum Job nach München, die Mutter nach Hamburg. Soll sich die
Familie nur noch sonntags treffen? Aber auch der Sonntag wird
inzwischen schon flexibel angefressen. Sonntagsruhe stört die
ungehemmte Kapitalverwertung.
Der Impulstext hat manches mit einer Sülze gemeinsam. Das meiste
ist Gelatine. Die deutschen Bischöfe sind mit der von ihnen
autorisierten Schrift "Das Soziale neu denken" das Opfer einer
kategorialen Verwechslung. Das Neue ist immer zeitbedingt. Das
Soziale nicht. Zeitbedingte Umstände können aber so wenig Maßgabe
des Prinzipiellen sein, wie die Beschaffenheit des Weges den
Wegweiser ersetzt.
Norbert Blüm
Quelle: 'Süddeutsche Zeitung' v. 11.06.04, "Außenansicht"
Zum Autor: Norbert Blüm (CDU) war von 1982 bis 1998 unter
Helmut Kohl Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
* Die Vorbetrachtung stammt von der Redaktion
der REGENBOGEN NACHRICHTEN.
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