Gigantische Stausee-Projekte in Entwicklungsländern standen schon immer im Kreuzfeuer der Kritik. Doch vom
Drei-Schluchten-Staudamm-Projekt in China, dem größten Wasserbauprojekt in der Geschichte der Menschheit,
das den Jangtse Kiang, chinesisch "Chang Jiang" (Langer Fluß), zum künstlichen See aufstauen soll, ist in den
westlichen Medien wenig zu vernehmen. Renommierte Umweltschützer wie beispielsweise Franz Alt kommen in
der Bewertung gar zu einem Unentschiedenen, indem sie einseitig die Entlastung des Klimas durch möglicherweise
abgeschaltete Kohlekraftwerke hervorheben.
Tatsächlich könnten einerseits die Turbinen des Drei-Schluchten-Staudamms, die ab der geplanten Fertigstellung
2009 jährlich 80 Milliarden Kilowattstunden produzieren sollen, 10 Kohlekraftwerke ersetzen (wenn denn bis dahin
der Energiehunger nicht entsprechend gewachsen ist). Andererseits ist jedoch seit langem bekannt, daß solch
gigantische Staudämme in der Klimabilanz schlechter als Kohlekraftwerke abschneiden, da sie statt Kohlendioxid
das wesentlich klimaschädigerende Gas Methan in hohem Maße freisetzen. Bereits seit 1998 liegt eine bisher
unbestrittene Studie vor, die im Wissenschaftsjournal 'New Scientist' veröffentlicht wurde. Laut deren Berechnungen
produzierte beispielsweise der brasilianische Balbina-Stausee in den ersten 20 Jahren seines Betriebs durchschnittlich
das Achtfache an Klimabelastung im Vergleich zu einem Kohlekraftwerk derselben elektrischen Leistung.
Ursache für die klimaschädigende Methanproduktion sind die Pflanzen, die vom Stausee überflutet wurden und im
Laufe der Zeit verrotten. Das dabei entstehende Methan ist ein um das Einundzwanzigfache schädlicheres Klimagas
als Kohlendioxid, das beim Verbrennen von Kohle entsteht. Oft werden heute zwar die Wälder in der Talsohle vor der
Flutung von Stauseen gefällt (beim Drei-Schluchten-Staudamm ist nicht mal dies der Fall), doch bleiben sie
zumindest an Steilhängen ungeschoren. Weiter kommt hinzu, daß ein Fluß ständig Biomasse mit sich führt, die
sich in Stauseen ansammelt und zersetzt. Anders als im Flußlauf selbst, dessen Wasser durch die Bewegung
ständig Sauerstoff aus der Luft aufnehmen kann, ist im Stausee nur wenig Sauerstoff vorhanden. Ist der Sauerstoff
im Wasser aber knapp, verrotten die Pflanzen unter Bildung von Methan. Selbst wenn nach gut 40 Jahren die
versunkene Vegetation komplett verrottet ist, wird deshalb der Balbina-Stausee immer noch stärker das Klima
schädigen, als ein Kohlekraftwerk.
Auch der Petit-Saut-Stausee in Französisch-Guyana - um ein weiteres Beispiel zu nennen - hat eine schlechtere
Klimabilanz als ein Kohlekraftwerk. Doch ist dieser Effekt nicht immer so extrem. Die Schädlichkeit von Stauseen
kann sich je nach Lage um den Faktor 500 unterscheiden. Klar ist aber, daß Umweltschützer, die großen Stauprojekten
wegen ihrer Naturzerstörung meist kritisch gegenüber stehen, mit der Klimaschädlichkeit ein weiteres Argument haben.
Beim Drei-Schluchten-Staudamm kommt noch hinzu, daß im Einzugsgebiet des Stausees Bergwerke und Müllhalden
liegen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Vergiftung des Wassers und damit auch des Flusses im Unterlauf zur
Folge haben werden.
Der Drei-Schluchten-Staudamm war früher das am meisten umstrittene Projekt Chinas. In den Achtzigern
protestierten Wissenschaftler und Intellektuelle gegen den Mammutdamm. Ein Hauptargument von damals ist
bis heute nicht widerlegt. Der Jangtse schwemmt jährlich 680 Millionen Tonnen Schlamm und Geröll ins Tal - so
viel wie Nil, Mississippi und Amazonas zusammen. Innerhalb weniger Jahre könnte der Stausee verschlammen.
"Der Drei-Schluchten-Staudamm ist ein politisches Projekt", sagt Dai Qing. Die Pekinger Journalistin veröffentlichte
1989 das Buch "Jangtse! Jangtse!", in dem führende Wissenschaftler vor dem Bau warnen. "Die Argumente gegen
den Damm sind noch immer gültig", sagt Dai Qing. Sie fordert, daß die Regierung die Schleusen offen läßt und das
Projekt abbricht. Dai Qing saß für ihr Engagement zehn Monate im Gefängnis und darf bis heute nicht veröffentlichen.
Viele ihrer Mitstreiter gaben inzwischen auf. Die Kontroverse um den Damm habe dennoch etwas bewegt, glaubt
Dai Qing. In den Staatsmedien tauchen häufiger Artikel auf, die über Umweltzerstörung und Korruptionsfälle am
Staudamm berichten. Das Bewußtsein für den Naturschutz ist gewachsen. Doch das Problem bleibe das
System, in dem wenige Führer Entscheidungen treffen.
Neben dem Natur- und Klimaschutz-Gesichtspunkt sollte der soziale nicht vergessen werden. So sind derart
gigantische Stausee-Projekte auch immer mit der Umsiedlung eine großen Zahl von Anliegern und der
Verlagerung ganzer Städte - wie beispielsweise Fengdu im Tal des Jangtse mit seiner zweitausendjährigen
Geschichte - verbunden. Außerdem werden unwiederbringlich eine Vielzahl von Kulturgütern und archäologischen
Grabungsstätten überflutet. Und die Erfahrung mit Umsiedlungen war bisher überwiegend negativ, da der
versprochene Ausgleich für die Vertriebenen nicht eingehalten wurde und diese sich oft in den Slums der
südamerikanischen oder asiatischen Millionenstädte wiederfanden.
Bereits am heutigen Sonntag und vor 2 Wochen kam es zu Testflutungen. Noch in diesem Jahr sollen zwei
der geplanten 26 Stromgeneratoren ans Netz gehen. Dabei ist erst ein Teil des 185 Meter hohen, bis zu 100
Meter dicken und 2 Kilometer langen Dammes fertiggestellt. Am Ende soll im Jahr 2009 hinter der Staumauer
ein 400 Kilometer langer und über 175 Meter tiefer See entstehen, unter dem ein Dutzend Städte und ein Teil
der Felsenberge der "Drei Schluchten" verschwinden, deren schroffe Schönheit Chinas Dichter besangen.
Noch hausen wenige Alte und viele Prostituierte in der jetzigen Geisterstadt Fengdu, die einst mehr als
50.000 Seelen zählte. Im Oktober mußten die meisten Bewohner die Stadt verlassen und die Prostituierten
verdienen an den Männern der Abbruchkolonnen wie sonst nicht in drei Jahren.
Selbst in China deuteten einige Zeitungen an, daß die Umsiedlungen nicht so reibungslos wie versprochen
vonstatten gehen. Abgesehen, daß die betroffene Bevölkerung Widerstand leistet, die ihre angestammte Heimat
nicht so einfach verlassen will, gab es offenbar auch Unruhen, weil bekannt wurde, daß die Gesamtzahl der
Umzusiedelnden nicht wie offiziell verlautbart 1,2 Millionen Menschen, sondern möglicherweise 3 Millionen beträgt.
Die chinesische Regierung leitete zwar bereits Milliardenbeträge in den letzten Jahren ins Jangtse-Gebiet, um
die Umsiedlung zu beschleunigen. Doch Teile der lokalen Politiker-Kaste nutzten die Gelegenheit, leiteten die
Staatsmittel in die eigenen Taschen um und bauten sich beispielsweise Luxushotels. Im neuen Wanxian, einer
Stadt mit mehreren Zehntausend Einwohnern leisteten sich die Kader einen Verwaltungs-Palast mit römischen
Torbogen. Im Frühjahr 2000 wurde der Direktor des Bauamtes von Fengdu zum Tode verurteilt, weil er bei der
Unterschlagung von 12 Millionen Yuan erwischt worden war. Gleichzeitig flogen drei Mitarbeiter im Büro zur
Landvergabe auf: Sie hatten Umsiedlungsmittel auf private Konten verschoben.
Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit mußten so viele Menschen einem einzigen Bauwerk weichen.
600.000 - also weniger als die Hälfte der offiziellen Gesamtzahl - wurden bereits vertrieben. Gesetzlich wurde die
Entschädigung der Menschen penibel geregelt: Für jeden Orangenbaum oder Brunnen sollten Bauern 45 Yuan
erhalten. 180 Yuan für ein Familiengrab und 36 Yuan für einen Schweinestall. Für Häuser und Land wurden von
Peking je nach Lage mehrere Zehntausend Yuan veranschlagt. Ein Großteil des Geldes kam nie bei den Empfängern an.
Erstmals war auch zu lesen, daß es um die Materialien und die Bauqualität beim Drei-Schluchten-Damm nicht
zum Besten steht. Die allgegenwärtige Korruption habe dazu geführt, daß minderwertiges Material eingesetzt
wurde und an manchen Stellen bereits Risse im noch nicht fertiggestellten Damm auftraten. Über den Zustand
der bestehenden chinesischen Dämme und Deiche war in der chinesischen Presse schon einige Male alarmierendes
zu erfahren. Viele Staudämme seien wegen ihres Alters oder fehlerhafter Konstruktion gefährlich war sogar vom
staatlichen Ministerium für Wasserressourcen zu hören: "Wenn unsichere Reservoirs, die meist an den Oberläufen
der Flüsse gebaut wurden, nicht mehr halten, überfluten sie Städte, Autobahnen, Fabriken und Minen flußabwärts".
Offensichtlich wollen sich die verantwortlichen Beamten absichern, da es in China schnell mal den Kopf kosten kann.
Dringend wurde dazu aufgefordert, die Zeitbomben an Chinas Wasserläufen zu entschärfen. Doch dafür fehlen dann
plötzlich die finanziellen Mittel. Nach Berechnungen von Experten würde allein eine Sanierung der am meisten
gefährdeten Dämme und Deiche rund 3,9 Mrd. Dollar kosten. Unter den 33.000 maroden Bauwerken sind allein
100 Staudämme, die Wassermassen von jeweils mehr als 100 Millionen Kubikmeter zurückhaten. Mindestens
fünf Jahre seien erforderlich, um die ärgsten Schäden zu beseitigen und die Gefahren für Mensch und Umwelt
abzuwenden. Nach chinesischen Angaben sind die Katastrophen, die von brechenden Dämmen verursacht werden,
schwerwiegender als die Überschwemmungen durch Flüsse, die immerhin - wenn auch oft nur kurzfristig -
vorherzusehen seien. So kamen im August 1975 in der Provinz Henan 20.000 Menschen ums Leben, als die
Staudämme Banqiao und Shimantan brachen.
Als im Jahr 1993 in der Nordwestprovinz Qinghai der 71 Meter hohe Damm eines vergleichsweise kleinen Stausees
brach, fanden unterhalb von Gouhou 300 Menschen den Tod. Seit 1949 registrierten die Behörden 3200 Katastrophen
an Stauseen. Obwohl seit den achtziger Jahren fünfzig Stauanlagen überholt wurden, gingen die Arbeiten nur langsam
voran, "weil es sowohl an Mitteln mangelte und von den lokalen Behörden oft minderwertige Anlagen gebaut wurden",
so die halbamtliche "China Daily" im März 1999.
Auch bei den verheerenden Überschwemmungen 1998 am Jangtse und am Heilongjiang und Nen-Fluß, die mehr als
3.600 Menschenleben gekostet hatten, waren an mehreren Stellen Dämme gebrochen. Bei einer Inspektionsreise
an den Yangtse hatte Ministerpräsident Zhu Rongji von Deichen "aus Schildkröteneiern und Tofu" gesprochen.
Die Medienkritik am Zustand der Wasserbauten kam nur wenige Wochen, nachdem chinesische Zeitungen erstmals
auch indirekte Kritik am Drei-Schluchten-Staudamm-Projekt des Jangtse geübt hatten. Das Lieblingsprojekt des
ehemaligen Premiers und jetzigen Parlamentspräsidenten Li Peng war international als zu teuer, wirtschaftlich nicht
effizient und umweltschädlich kritisiert worden. In Chinas Zeitungen hieß es damals, die Finanzierung des Projekts
sei nicht gesichert.
Chinas Mächtige träumten schon lange davon, den Jangtse mit einem Staudamm zu bändigen. Sun Yatsen, Gründer
des modernen China, schwärmte 1919 von einem "Drei-Schluchten-Staudamm". Später begeisterte sich der
"Große Steuermann" Mao Tsetung an der Idee: Nach einem Bad im Jangtse verfasste er ein Gedicht über "das
Wunder von Menschenhand". Doch erst Li Peng setzte die Pläne um. Der in Stalins Sowjetunion zum Ingenieur
ausgebildete Li Peng nutzte die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989, um die Kritiker des Projekts
mundtot zu machen. 1992 wurde das Projekt in den Zehnjahresplan aufgenommen, ein Jahr später begannen die
Bauarbeiten.
Angesichts all dieser negativen Aspekte drängt sich die Frage auf, warum die westlichen Medien so wenig kritisch
über das Drei-Schluchten-Projekt berichten. Ein möglicher Grund mag in der höheren Orts als umbefriedigend
empfundenen konjunkturellen Entwicklung zu suchen sein. Konzerne wie Siemens oder ABB (Schweden) gieren
geradezu nach solchen milliardenschwerden Aufträgen (Franz Alt hatte allerdings bisher nie Scheu gezeigt, sich
beispielsweise mit Siemens anzulegen). Zudem werden solche Geschäfte durch unsere Regierungen durch
Export-Bürgschaften (in Deutschland die bekannten "Hermesbürgschaften") abgesichert, so daß den Konzernen
bei Zahlungsunfähigkeit der auftraggebenden Staaten oder Konsortien kein Schaden entsteht. Dies bedeutet
umgekehrt, daß "Rot-Grün" das Engagement von Siemens durch eine Verweigerung der Kreditbürgschaft blockieren
könnte. Und viele wissen zu gut, daß es dem Image von "Rot-Grün" abträglich wäre, wenn diese Fakten
sich herumsprächen...
Ute Daniels