26.03.2001

Artikel

zum zweiten Jahrestag
des Kosovo-Kriegs:
Limonade für alle

Die geostrategische Rolle Deutschlands hat sich durch den Kosovo-Krieg verändert. Aber wie?

Im März 1999 demonstrierte Deutschland seine wieder- gewonnene nationale Souveränität. Politik, Militär und Bevölkerung erwiesen sich als kriegstauglich.

Ob man den Weg zu diesem Ziel als rasend schnell zurückgelegt, oder als besonnen und umsichtig beschreibt, hängt wohl vom apologetischen oder kritischen Standpunkt des Betrachters ab. Planerische Zielstrebigkeit ist an drei Komponenten, die diese historische Zäsur so reibungslos ermöglichten, zu bebildern.

Erstens wäre da das - manchmal nur symbolische - Mitmachen, wie es etwa in der Entsendung deutscher Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer während des Iran-Irak-Kriegs zelebriert wurde, oder in der Verlegung einer Jagdbomberstaffel in die Türkei, um dort einen - nie geplanten - irakischen Angriff auf den NATO-Partner abwehren zu helfen. Auch Bundeswehrangehörige auf Rücksitzen von AWACS-Aufklärern hatten militärisch kein großes Gewicht. Selbst bei den Einsätzen in Kambodscha (91-93), in Somalia (93-94) und Ruanda (94) war der von General Bernhard betonte Aspekt, »wieder zur Familie« zu gehören, gewichtiger als jede reale Effizienz. Für Verteidigungsminister Rühes Maxime, »Normalität Schritt für Schritt durchzusetzen«, wurde manchmal berufsfremd geschaufelt und gehämmert, statt gebombt und geschossen. Von anderer Dimension war der 1995 gefasste Beschluss der Beteiligung an der schwer bewaffneten IFOR-Truppe und 1997 an der Nachfolgemission SFOR. Hier wurde die letzte aus deutscher Historie abgeleitete Restriktion, »dass wir aus Gründen geschichtlicher Erfahrung keine deutschen Soldaten, also Bodentruppen, in das frühere Jugoslawien« schicken (Kohl, 19. Dezember 94) beseitigt. Im Rahmen dieses Einsatzes wurde endlich auch geschossen, auf dem Flughafen von Tirana, eine Evakuierung sichernd; großartig, tapfer, präzise - wie alle Medien berichteten.

Im gleichen Zeitraum wurden materielle, militärdoktrinäre und rechtliche Veränderungen vollzogen, an denen abzulesen war, dass die Ambitionen das schon Praktizierte weit überschritten. Beispielhaft zu nennen wären hier die von Verteidigungs- minister Stoltenberg eingeführten »modifizierten Doktrin« (92), die die Bundeswehr als »politisches Instrument zur Sicherheitsvorsorge« beschrieb und, weil Vorsorge ein weltweites Projekt ist, logisch zur Aufteilung der Armee in »Hauptverteidigungskräfte und Krisenreaktionskräfte« führte. Die Debatte mündete in den neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, die das alte Wort vom Bündnisinteresse durch das »nationale Interesse« ersetze, welches durch die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und den ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« gekennzeichnet sei, also demonstrativ unrealistisch, utopisch (»ungehindert«) ist.

Das Bundesverfassungsgericht goss dann, im Sommer 1994, die imperialen Notwendigkeiten in ein Urteil und erklärte weltweite Bundeswehrkampfeinsätze im Rahmen der UNO, auch unter Federführung von NATO und WEU, für verfassungskonform.

Zweitens avancierte Jugoslawien zum bevorzugten Objekt dämonisierender Propaganda und Experimentierfeld deutscher Übungen, auch im Alleingang außenpolitische Vorstöße zu wagen. Die Transformation von einem eher sympathischen Staat, der sich so bewundernswert tapfer unabhängig von Moskau hält, seinen Untertanen Reisefreiheit gewährt und eine nette Olympiade zu veranstalten vermag, in ein Völkergefängnis mit serbischen Aufsichtspersonal, war eine Demonstration der Wirkungsmacht ideologischer Apparate und des Funktionierens manipulativer Techniken. Genschers »mit jedem Schuss rückt die Unabhängigkeit näher« und die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern waren schon die Verwirklichung dessen, was einige Jahre zuvor, als noch die Unverletzlichkeit der Grenzen beschworen wurde, als Spleen eines rückwärtsgewandten »FAZ«-Herausgebers gegolten hatte. Man wusste sich in Kroatien gefeiert, hatte erstklassige Kenntnis der »Volksdruckverhältnisse« bewiesen, musste aber im weiteren Verlauf schlucken, dass die USA der bosnischen und kroatischen Armee die materiellen Mittel zur Verfügung stellte, mit denen Jugoslawien Territorien entrissen oder die Serben aus der Krajina vertrieben wurden.

So diktierte die militärische Hauptmacht den Vertrag von Dayton, der manchem deutschen Politiker zu viel Arrangement mit den Serben zu enthalten schien, was in der Aufforderung mündete - damit nicht Schluss sei mit Zerstückelung - nun endlich den »Scheinwerfer auf das Kosovo zu richten« (Kinkel). Hier hatte sein Geheimdienst eine UCK (mit-)aufgebaut, die in Deutschland schon Befreiungs- bewegung hieß, als man sie in anderen Zentren noch Terroristen nannte. Im Sommer 1998 beklagte die deutsche Außenpolitik, manch NATO-Partner ließe es an Ernsthaftigkeit für ein »militärisches Vorgehen im Kosovo« missen und stellte sich stramm gegen Überlegungen, die Waffenzufuhr Richtung UCK durch eine Kontrolle der albanischen Grenze zu minimieren.

Drittens war, der konkreten Einstimmung auf einen Krieg meines Erachtens gleichgewichtig, ein allgemeines Klima inszeniert, das Gerede der erwachsenen, der selbst- bewussten, der ihre gewachsenen Verantwortung in der Welt gerecht werdenden Nation. Dem Partner in Leadership.

So wurde zum Gemeinplatz, dass die zurückliegenden, berechenbaren Zeiten zwar Wirtschaftskraft und Wirtschaftsmacht gemehrt hätten, aber irgendwie doch auch fad gewesen seien. Selbst über Helmut Kohl, dessen Außenpolitik doch von Schröder und Fischer Kontinuität versprochen wurde, bekam manch ungerechtes Urteil über sich verhängt. Er sei, schreibt 1999 der »Spiegel« im Rückblick auf Deutschlands Geschichte nach 45, nie mehr gewesen als »der Biedermann in einer idyllischen Republik«, ein echter Langweiler, »verlässlich und unbedrohlich nach außen, beweglich und banal nach innen«, der »Repräsentant für die drückebergerische Maskerade als prosperierende Provinz«. Das ist, wie gesagt, ungerecht, verrät aber die Lust in bestimmten Kreisen, es möge richtig »loooos«gehen.

Das ging's dann auch.

Die Werte von Schröder, Scharping, Fischer stiegen auf der Beliebtheitsskala, die Propaganda erklomm höchste Gipfel. Sie führte allerdings nicht zu einem fanatisierten Mob. Die Grundstimmung in der breiten Bevölkerung, wie man sie als Anti-Kriegs-Demonstrant in Fußgängerzonen trifft, war erstaunlich ignorant und gelassen. Kein Gepöbel wie bei anderen Anlässen, zum Beispiel antirassistischen Manifestationen, üblich. Das Phänomen hat sicher damit zu tun, dass alle Parteien integere Bedenkenträger abstellten: Wimmer, Voscherau, Schmidt, Dregger. Zweitens hatten die Grünen sich verständigt, einander höchstmoralische Gründe für jede Position zu bescheinigen, und selbst Generäle hatten den grünen Debatten gesellschaftliche Bedeutung attestiert, freilich hinzufügend, dass diese ohne Einfluss auf die reale Kriegsführung seien. Trotz einiger harscher Worte Richtung Gysi, hatten weder die einen noch die anderen Sozial- demokraten ein Interesse, das Maß demokratisch-pluraler Meinungsverschiedenheiten zu gefährden. Man stritt wie die Völkerrechtsexperten stritten, den kollegialen Respekt nie verlierend.

Außerdem - kein unwichtiger Faktor für Stimmungen in Fußgängerzonen - waren die Nazis mehrheitlich gegen den Krieg, der ihnen kein authentisch deutscher war. So spürte der autoritäre Charakter die geschlossene Unbedingtheit, die ihm Sicherheit und Ansporn bietet, nicht.

Die ignorante Gelassenheit hat einen zweiten Grund. Was vor dem Golfkrieg noch unbekannt war, wurde durch ihn offenbar. Kriege dieser Größenordnung werden ohne relevante Auswirkungen auf das Heimatland des Aggressors geführt.

Im Golfkrieg wurden 190.000 irakische Soldaten getötet, die USA verloren 126 GIs. Weder im Krieg gegen Jugoslawien noch während der Besatzungszeit starb auch nur ein deutscher Soldat durch Feindeinwirkung. Die unvermeidlichen Soldatenmütter haben grundlos demonstriert. Die Frage nach Gesundheitsschäden deutscher Soldaten durch Uranmunition bebildert nur die Gleichgültigkeit gegenüber realen Opfern, auch den albanischen übrigens, die ihren vorübergehenden Wert als Ware leidender Mensch längst eingebüßt haben.

Die Gelassenheit gegenüber einem Angriffskrieg, der das Betätigungsfeld einer Berufsgruppe - der Soldaten - ist, findet ihre Entsprechung in der Resistenz gegen alle Enthüllungen von Propagandalügen, die den Krieg legitimierten.

Oft wird der Bürger bei solchen Vorgängen nicht betrogen. Er nimmt nur ein aus anderen Zusammenhängen bekanntes Gewohnheitsrecht in Anspruch, dass der Staat seine inhumansten Maßnahmen als Wohltaten kostümiert, auch um den zustimmenden Untertanen die Ausreden zu servieren. Man hilft den armen Ländern beim Wirtschaftsaufschwung, indem man keine Flüchtlinge in Deutschland duldet; zu viel Entwicklungshilfe entmündigt; durch Arbeitsdienst erlangt der Sozialschmarotzer seine Würde zurück; ein Massaker in Racak war uns unerträglich, ein Hufeisenplan zwang uns zum Einschreiten. Man zwinkert einander komplizenhaft zu. Das gilt auch für das anspruchsvollere Segment, welches von Habermas und Diedrichsen, Goldhagen, Kraushaar und Heer Bedienung verlangte.

Verlässt man den dort angebotenen Himmel der Ideologien, können einige elementare Schlüsse gezogen werden: Die schon beschriebene »Unverwundbarkeit des Aggressors« - stets ist sie auch Dementi der vor dem Krieg behaupteten militärischen Macht des Feindes - hat heute noch eine Bedingung. Voraussetzung ist, dass die USA einen Teil ihrer Militärmaschinen einbringt, materiell die Führungsposition im Krieg besetzt. Diese Tatsache produziert jede Menge Handlungsbedarf der subalternen Partner. Dazu später. Für Kriege dieser Art bedarf es also gegenwärtig einer Interessenidentität, oder zumindest weitreichender Überschneidungen der Interessen.

Die allgemeine Botschaft des Kriegs, dass es die NATO gibt, die im Bedarfsfall Staatsschutzgarantien zu nehmen und zu geben vermag, dass also zum Beispiel von Russland als Bündnispartner oder Patron weniger zu erwarten ist, wurde ergänzt durch die ebenso demonstrative wie absichtsvolle Bombardierung der chinesischen Botschaft. Den gleichen Zweck verfolgt die Missachtung der UNO, des Völkerrechts, ein Sitz im Sicherheitsrat war im Konkreten wertlos.

Wo nicht moralisiert wurde, wo sogar die Sorge bestand, zu viel Moral könne sich als zukünftiges Hemmnis bei der Wahrnehmung materieller Interessen erweisen, wurden die Zwecke keineswegs geheim gehalten. Zum Beispiel in der »FAZ«: »Wer im Namen der internationalen Stabilität die Hegemonie in der Welt beansprucht, muss irgendwann damit beginnen, sie zu demonstrieren - mit oder ohne Rücksicht auf das Völkerrecht.« Es gehe immerhin um die geoökonomische Verknüpfung der westlichen Schwarzmeerküste (...) für den Transport russischer, kaukasischer oder auch zentral- asiatischer Energieträger.«

Auch Clinton erläuterte den wichtigsten Chefredakteuren seines Landes den weit über Jugoslawien hinausweisenden Anspruch, eine Region gewaltigen Ausmaßes zu ordnen. Jugoslawien sei »kein Einzelfall« sondern Mosaikstein. »Ein Großteil der früheren SU steht vor ähnlichen Heraus- forderungen, darunter Südrussland, die Kaukasusnationen (...) sowie die neuen Nationen Zentralasiens.« Nicht zu übersehen war bereits während des Kriegs, dass Deutschland eine weniger scharfe Frontstellung gegen Russland anstrebt. Einige mit den USA geteilte Interessen, zu denen zum Beispiel die Osterweiterung der NATO gehört, werden konterkariert von deutscher Ambition, Russland als Energielieferanten zu stabilisieren, also weniger krass von Quellen abzuschneiden und als Transportkorridor zu eliminieren, wie es amerikanische Zielsetzung ist.

Bei mittelprächtiger Ernsthaftigkeit hätte der Krieg gegen Jugoslawien, das in seiner Folge entstehende Protektorat und die geopolitischen Weiterungen, die Clinton von »kein Einzelfall« sprechen ließen, zur Beerdigung der modischen »Theorie« der neunziger Jahre führen müssen. Sie bestand in der Bescheidwisserei, dass alle Staaten einen enormen Bedeutungsverlust erlitten hätten, ihren Bestrebungen also nur noch geringe Aufmerksamkeit gebühre. »Es ist richtig, dass es weitgehend irrelevant ist, ob und wie die BRD jetzt Weltmacht geworden ist, weil sie in einem Kontext agiert, der von den internationalen Finanzmärkten und von 200 Weltkonzernen bestimmt wird.« Der Gedanke, dass die Weltkonzerne eines ihren Geschäften bahnbrechenden Staats bedürfen, der dabei eben auch anders national fundierten Konkurrenten den Zugang versperrt, war ebenso obsolet, wie die einst bekannte Wahrheit, nach der Finanzmärkte auf die in diesem Prozess sich als Sieger und Besiegte erweisende reagieren.

Aus falscher Prämisse folgt stets ein noch falscherer Schluss, der sich damals so präsentierte: »Für die Finanzmärkte wird (...) eine Politik der langfristigen globalen ,Friedenssicherung’ vordringlich, um internationale Weiterungen der (...) ,Ethnisierung des Sozialen’ zu verhindern.«

Man könnte den Mantel des Schweigens über ältere Dispute legen, erwiesen sich die »Theorien« nicht als von aller Wirklichkeit unbeeindruckbar, wie man im »Schwarzbuch Kapitalismus« nachlesen kann, wo die »so genannte Außenpolitik keine hohen Wellen mehr« schlägt, weil »das Ende des alten Imperialismus« gekommen ist und deshalb »in der entkoppelten Sphäre der Nicht-Orte territoriale Herrschaft sinnlos (wird), in welcher Form auch immer«.

Und in Seattle oder Prag beklagen die Demonstranten die »Schwäche der Staaten« und flennen, dass den »Nationalparlamenten die Macht entrissen« sei.

Was im Jugoslawien-Krieg vielen als erträgliche Pluralität unter linken Kriegsgegnern erschien, barg Antagonismen, die heute, man betrachte die unversöhnlichen Positionen zum Nahost-Konflikt, offenbar sind.

Die PDS-»Zeitung gegen den Krieg« warf der politischen Chefetage vor, »sie lassen sich zu Vollziehern amerikanischer Außenpolitik machen«; die »Junge Welt« ergänzte, »Satellitenstaaten, die so genannten NATO-Verbündeten, werden in bester Gangstermanier zu Komplizen gemacht«, und Tage später waren die Komplizen schon keine mehr, denn »auch die Deutschen sind NATO-Opfer«. Da war viel Schulterschluss mit CDU-Wimmer und Augstein - und Walser eignete sich als Kronzeuge erneut.

Wer, wie zum Beispiel die »Junge Welt«, heute EU und Deutschland als Gebilde sehen, die von den »USA erst noch in die Unabhängigkeit entlassen« werden müssten, kommt zwangsläufig bei zwischenimperialistischen Konflikten zur Parteinahme. Übrigens mit Methoden, die denen der Grünen nicht unähnlich sind, wie man an der Kampagne zur Beendigung der Irak-Sanktionen erkennt. Purer Humanismus wird jenen bescheinigt, die der amerikanischen Ordnungspolitik mit eigenem Kalkül entgegentreten. Sehnsüchte erfüllten sich, käme es zur Stationierung internationaler Truppen in palästinensischen Gebieten. Im Namen der Völkergemeinschaft die Juden in die Schranken verweisen, das verdiente den Namen Friedensmission.

Ein Teil der antideutschen Linken hat sich nicht darauf beschränkt, den Nationalismus der patriotischen Strömung zu kritisieren und Deutschlands aktiven Anteil an der Zerschlagung Jugoslawiens zu betonen, sondern Deutschland Potenzen angedichtet, die es nicht besitzt. Thomas Becker sah in der Jungle World die USA »in die Falle getappt«, von Deutschland verführt zu einem Krieg, den sie »nicht nur nicht gewollt hatten« und den sie »nicht gewinnen können«. Jürgen Elsässer entdeckte die »Falle von Rambouillet«, in die die tapsige Diplomatie der Amis gelockt worden sei, und Hermann Gremliza erblickte »die notarielle Beglaubigung, dass nach der Sowjetunion die USA der zweite Verlierer der weltpolitischen Wende geworden sind«. Wer so schreibt, hat sich von jeder Analyse ökonomischer Kräfteverhältnisse und militärischer Schlagkraft verabschiedet. Oft ist auch Hoffnung im Spiel, andere Nationen könnten deutsche Vorgehensweisen »aus historischen Gründen«, zum Beispiel der Entstehungsgeschichte ihres Nationalstaates, nicht kopieren, also »nie« das Ziel verfolgen, »bestehende Staaten zu zerstückeln und dem ,Sezessions- recht’ nationaler Minderheiten zum Durchbruch zu verhelfen« (M. Künzel). So viel Tragkraft besitzt Geschichte nicht, was kein Argument ist, deutsche Kontinuitäten zu ignorieren.

Eine Tiefpunkt »antideutscher« Regression bot die »Bahamas«. Kämpferisch wurde hier verfochten, dass aus einer für die Kapitalzwecke »definitiv unbrauchbar gewordenen Welt« jedes Subjekt verschwunden ist, das »kühl Vor- und Nachteile abwägt«. Jetzt pissen sich alle irgendwie selbst ans Bein, denn (den Bombenopfern in Belgrad zum Trost) »der Krieg in Jugoslawien ist einer der Aggressoren gegen sich selbst um nichts«. Da kann man nur noch »Wahnsinn« murmeln, wenn man zum Beispiel bedenkt, »dass absolut niemand nach Bahn vordringen will, aber es durchaus möglich ist, dass plötzlich alle so tun, als ob sie es wollen, nur um damit zu zeigen, dass sie es könnten«. In Bahn, am Kaspischen Meer, eigentlich im gesamten Nahen Osten ist nichts zu holen, denn nur »der Fetisch des Dinghaften, lässt übers Erdöl phantasieren, dessen Preis auf dem Weltmarkt den von Limonade schon längst unterboten hat«.

So verschwindet die Bedeutung des Erdöls für die kapitalistische Wirtschaft, also auch die Bedeutung, wer es ausbeutet, Transportkorridore sichert, zu diesem Zweck Staaten zerschlägt oder in Schurken und Sicherheitsanker unterteilt - man könnte das alles auch für Limonade veranstalten. Die Entfernung von jeder Materialität ist der Produzent spektakulärer Thesen. Wenn Öl Limonade ist, ist eben die PLO die UCK. Manchmal ist die Verzweiflung über den Irrsinn der Welt so groß, dass man aufräumen möchte, zum Beispiel mit Palästinensern, deren Wahn man genau erforscht hat und deshalb weiß, wie leicht ihnen das Sterben fällt.

Auch Linke, die sich nicht gänzlich vom Materialismus verabschiedet haben, neigen dazu, aus tagespolitischen Erscheinungen viel zu weitreichende Schlüsse, manchmal ganze »Welterklärungsmuster«, zu ziehen. Erinnert sei zum Beispiel an das Jahr 1997, als Deutschland auf den EU-Gipfeln in Dublin und Amsterdam einige Konzessionen machen musste. Was Kompromisse einer umsichtig ihre Vormachtstellung erweiternden Macht waren, wurde zu »Schlappen (...), die das deutsche Finanzkapital einstecken musste« stilisiert, und »das macht das ganze Projekt (der Einheitswährung) für Linke sympathisch«. Dem Euro wurde angedichtet, er beschere »den Deutschen klassen- übergreifend (!) Einkommensverluste«, und in seiner Befürwortung beweise man, dass »das internationale Proletariat die Referenzgröße linker Politik ist« (Jürgen Elsässer). Der Unfug hat sich dann verflüchtigt.

Auch eine europäische Militärmacht, die den Euro als Grundlage benötigt, vollzieht sich als konfliktueller Prozess, und es ist kaum vorherzusagen, wann sich die »Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität« (ESVi) faktisch realisiert. Man denke etwa an die sehr weitreichende Erklärung der Regierungschefs Frankreichs und Großbritanniens in St. Malo (98) und die Ernüchterung, die sich darin ausdrückt, dass drei Jahre später Großbritannien den Irak bombardiert - und Frankreich sich entrüstet zeigt. Herr Solana, der hohe Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, kennt mehrere solcher »Probleme«. Sie heben die Tendenz nicht auf. Was Daimler-Chef Schrempp, die Rennfahrt-Allianz vorstellend, als »Sternstunde« bezeichnete, »wir wollen die Position zwei angreifen, dann die Nummer eins und könnten am Ende die Sieger sein«, wird auf vielen Gebieten versucht. Noch geht es um Aufholen, nicht Überholen, wenn es um EU-Verabredungen über strategische Aufklärung, strategischen Lufttransport, Informations- und Kommuni- kationstechnik, zielsuchende Munition, Abstandswaffen und Marschflugkörper geht. Halt all die Sachen, mit denen die Amerikaner vor zwei Jahren ihre Überlegenheit demon- strierten, und die man besitzen muss, wenn die Euro-Eingreiftruppe von 80.000 Soldaten wirklich weltweit effektiv sein soll.

So zahlreich die Übungen sind, »amerikanische Bedenken zu zerstreuen«, so sicher ist man in Washington, eine vollendete ESVi sei ein Instrument, welches »mit der Zeit mit der NATO konkurrieren könnte« (Außenminister Talbott) und akzeptiert darum »nur eine der NATO klar untergeordnete europäische Komponente«.

Diese Unterordnung plausibel zu machen, fahren die Vereinigten Staaten einiges auf. Schon die Erhöhung des amerikanischen Militärhaushalts um deutlich über 100 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren, übertrifft alle gegenwärtigen europäischen Dimensionen.

Das amerikanische Raketen-Abwehr-System (NMD) in Kombination mit den regionalen Abwehrsystemen (TMD) soll die Ausschaltung (oder Minimierung) des Risikos bewirken, im Kriegsfall von feindlichen Raketen nachhaltig geschädigt zu werden. So kann jeder kleinere Staat nur beweisen, dass er kein Schurke ist, durch Verzicht auf hochkalibrige Waffen, es sei denn vom Westen gelieferte. Die amerikanische Drohung ergeht keineswegs nur an die Schurken, sondern auch an jene größeren Mächte, die mit dem Bösen bandeln, also an Russland und China. Sollte es technisch gelingen, die USA weitgehend gegen russische und chinesische Atomwaffen zu immunisieren, wäre der Einsatz (»taktischer«) Atomwaffen für Amerika wieder reale Option. Die auf früherem Waffenvergleich basierende Notwendigkeit, einen ABM-Vertrag abzuschließen, also auf flächendeckende nationale Raketenabwehr zu verzichten und den »vernichtenden Gegenschlag« zu kalkukieren, wäre hinfällig. Nicht im ersten Zug, aber perspektivisch. Russlands Möglichkeit, der eigenen Entwertung mit radikaler Aufrüstung Paroli zu bieten, sind ökonomisch kaum realisierbar. So sucht man Verbündete in China und potente Waffenkäufer zum Beispiel im Iran, beklagt mangelnde Vertragstreue der Amerikaner, macht der EU Avancen, billigt aber in Einzelfällen den USA die Definitionsmacht zu, wer Schurke ist.

China, gewiss ökonomisch deutlich potenter und oft schon als der herausragende Feind der Zukunft besprochen, verfügt bisher noch über ein vergleichsweise kleines Druckpotenzial gegen die Vereinigten Staaten, hat eine bescheidene Zahl atomar bestückter Interkontinentalraketen und sieht sich durch das regionale Militärbündnis der USA mit Japan und Südkorea bedrängt.

Die europäischen Anstrengungen, selbst größeres Gewicht und mehr Handlungsfreiheit zu erlangen, erhalten allein durch NMD einen gehörigen Dämpfer. Eine größere Freiheit der USA zur Kriegsführung ist nicht nach deutschem Geschmack, zumal die Auswirkungen solcher Kriege, verzichtete Europa auf eine subalterne Teilnahme am Abwehrschirm, hier gravierender sein könnten als jenseits des Großen Teichs. Da droht halt der »gespaltene Sicherheitsstandard«. Auch eine Aufwertung atomarer Optionen trifft Deutschland, dem dieses Gerät noch fehlt, ziemlich hart. Die Klagen des zurück- liegenden Jahres, die USA verfolgten eigene statt Bündnisinteressen, sind lustig und sachkundig zugleich. Auf diesem Feld kennt man sich aus. Und man weiß auch, dass das amerikanische Angebot, sich am Aufbau des Schutzschildes zu beteiligen, erstens teuer kommt und zweitens in subalterne Stellung zwingt.

Dennoch: Gemessen an den deutlich ablehnenden Stellungnahmen vergangener Monate, zeigen sich nun Schröder, der schnell noch eine Verdienstmöglichkeit deutscher Rüstungsindustrie entdeckte, und Fischer, dessen Auftreten in Washington einige Parteifreunde so schnell nicht begriffen, als Realisten. Der »Spiegel« staunte, die »Süddeutsche« war innerlich zerrissen, und die »FAZ« bescheinigte der Regierung, die »bescheidenen Einwirkungsmöglichkeiten« endlich zu nutzen, weswegen ihre »Lernkurve (...) endlich nach oben zeigt«.

Bei allem täglich zu schürendem Gefühl gegen den zukünftigen Hauptkonkurrenten, die notwendige Portion Kalkül - auch das wurde in Deutschland seit 1945 gelernt - kommt nicht zu kurz. So gesehen liegen vor uns zähe Jahre, mit Vorstößen und Rückziehern. Auch Vorstöße gegen amerikanische Interessen wird es geben, wie sie sich heute etwa in Libyen, Irak oder Iran vollziehen.

Vielleicht liegen die Schauplätze auch an der »neuen Seidenstraße« zwischen Adria und China, wo sich das mutige Protegieren konkurrierender Herrschaftscliquen anböte. Vielleicht beginnt man in Gegenden, die auf der amerikanischen Ordnungsskala nicht so hoch angesiedelt sind. Wo Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen wieder Material, Kanonenfutter zu verkörpern haben, ist nicht seriös prognostizierbar.

Eine gewisse Vor- und Umsicht wird für Deutschland, der EU-Hegemonialmacht, allerdings nötig sein. Sonst könnte es einer schönen deutschen Direktinvestition, sagen wir im Iran, auch mal ergehen wie der chinesischen Botschaft in Belgrad.

Tröstet das?

 

Thomas Ebermann
in 'Jungle World'

 

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