Von der Realität des US-amerikanischen "Job-Wunders"
Auf den Internet-Seiten von NETZWERK REGENBOGEN haben wir bereits ein anderes Buch über
die US-amerikanische soziale Realität vorgestellt, das den Mythos vom "Job-Wunder"
widerlegt: Das Buch von Bruce Western und Katherine Beckett mit dem Titel "Das Strafrecht
als Institution des US-amerikanischen Arbeitsmarktes". Es beweist, daß die Arbeitslosenzahlen
in den USA dadurch "bereinigt" werden, indem die Justiz dort Menschen massenhaft wegsperrt.
In den USA ist der Anteil der Bürger, die inhaftiert sind, um ein Vielfaches höher als beispielsweise in Deutschland.
Rechnet mensch diese Zahl heraus, liegt die Arbeitslosenquote auf exakt demselben Niveau. Da außerdem
entlassene Häftlinge weitaus schlechtere Chancen auf einen Job haben und demzufolge die Rückfallquote
in den USA mit 70 Prozent sehr hoch ist, "verschwinden genau jene, deren Arbeitslosigkeits- Risiko hoch
ist, aus der Statistik", so Bruce Western und Katherine Beckett.
Barbara Ehrenreichs Buch 'Arbeit poor' eröffnet nun einen weiteren - in den großen Medien
kaum zu findenden - Einblick in die soziale Realität der USA, eine Realität die der
europäischen bereits in manchen Entwicklungen nur ein paar Jahre voraus war...
Wie fühlst du dich eigentlich als Klofrau, wenn du das erste Mal vor einer verschmutzten
Toilette stehst und die Fäkalien wildfremder Menschen beseitigen sollst ? Auslöser des
Buchs von Barbara Ehrenreich war die merkwürdige Idee des Herausgebers des 'Harper's
Magazine', eine Story über Niedriglohn-Jobs zu schreiben. "Eigentlich wollte ich so etwas
gar nicht machen. Ich hatte vorgeschlagen, daß das jemand Jüngeres tun sollte",
so Barbara Ehrenreich. Doch dann übernahm sie den Job. Sie verließ ihre Familie, ihr Haus, ihr
soziales Umfeld und begann ein anderes Leben. Die US-amerikanische Publizistin ging diesen
Job mit der altmodischen journalistischen Methode an: Zieh einfach los und finde es heraus.
'Arbeit poor' ist eine beinahe klassisch zu nennende Studie, die sich durch die Tugenden des
schon beinahe ausgestorben geglaubten und beispielsweise von Hemmingway geprägten
US-amerikanischen Jounalismus auszeichnet, als da wären Neugierde, Akribie in der Recherche,
Anschaulichkeit, Direktheit und Lesbarkeit.
Ohne berufliche Qualifikation und Eigenkapital lebt sie von nun an allein von ihrer Hände Arbeit.
Jobangebote findet sie en masse, denn überall, in Restaurants, Hotels oder Supermärkten,
werden Aushilfskräfte gesucht. Ihre erste Station ist Florida, wo sie als Kellnerin für 5 Dollar
und fünfzehn Cents Stundenlohn inclusive Trinkgeld arbeitet. Während der Acht-Stunden-Schichten
werden Lächeln vorausgesetzt, wohingegen weder Essen noch Sitzen erlaubt sind. Schockiert ist Barbara
Ehrenreich vom Mangel an Freiheit und Privatsphäre im Niedriglohn-Job: "Es ist, als gäbe man die
Bürgerrechte an der Garderobe ab. In meinem ersten Job wurde ich von einem Kollegen gewarnt, ich solle
vorsichtig sein, was ich in meiner Handtasche trage, weil das Management jederzeit jederzeit meine
Sachen durchsuchen könne. Du hast kein Recht auf Privatheit." Was sich zwischen den ArbeiterInnen
und dem Management abspielt, ist nichts anderes als ein tagtäglicher Kleinkrieg um Zigarettenpausen,
Pinkelpausen und Diebstahlsverdächtigungen. Dankbarkeit empfindet sie in den raren Momenten,
in denen so etwas wie Solidarität zwischen den ArbeiterInnen aufscheint.
Die zweite Station ist ein Putz-Job in Maine. In Putzkolonnen arbeiten dort Frauen im Akkord, um innerhalb
kürzester Zeit Einfamilienhäuser auf Hochglanz zu bringen. Ausgeruht und gegessen wird allenfalls
zwischendurch im Auto auf dem Weg zum nächsten Haus. Obwohl bei der Einstellung keine besonderen
Qualitäten gefragt sind, muß sie sich einem Persönlichkeitstest unterziehen. Die Fragebögen strotzen vor
Merkwürdigkeiten. Sie muß beantworten, ob sie "häufiger oder seltener als andere Menschen in
Schlägereien verwickelt ist" oder ob sie sich Situationen vorstellen könne, in denen Handel mit Kokain
nicht kriminell ist". Wie BewerberInnen zu antworten haben, ist so klar wie der Lösungsspruch eines
Preisausschreibens, so daß diese Tests auf den ersten Blick nur als Aufforderung zur Heuchelei zu begreifen sind.
Auf den zweiten Blick spricht Barbara Ehrenreich ihnen eine strukturelle Funktion zu: Immerhin müssen sich
BewerberInnen für slche Fragebögen - obligatorische Drogentests kommen hinzu - einen Tag frei nehmen.
Das aber können sich viele nicht leisten. Also bleiben sie bei ihren alten Jobs, auch wenn der etwas schlechter
bezahlt sein sollte.
Im Buch 'Arbeit poor' ist eine Menge an Zahlen und Fakten zu finden, die die sozialen Zustände exakt wiedergeben.
Da ist etwa zu lesen, wie die Putzkolonnen förmlich im Laufschritt durch die zu reinigenden Villen getrieben werden -
ohne Rücksicht auf Haut- oder sonstige gesundheitliche Probleme. Hauptsorge vieler Auftraggeber scheint darin
zu bestehen, versteckte Videokameras zu installieren, um die Putzenden bei ihrer Tätigkeit zu überwachen.
Nichts desto Trotz hätten auch die Auftraggeber aus anderem Grund Anlass zur Empörung: Ein Lehrvideo, das
Putzkräften von ihrer Firma zur Schulung vorgeführt wird, handelt ausschließlich davon, wie mensch am schnellsten
den Eindruck erweckt, ein Haus gesäubert zu haben. Eine hygienisch einwandfreie Säuberung wird gar nicht
angeboten...
Bei ihrem dritten Job in Minneapolis schafft sie es nicht, eine für sie bezahlbare Wohnung zu finden. Der Grund ist
interessant: Es gibt hier zu viele Reiche, die den billigen Wohraum nach so weit außerhalb der Stadt verdrängen,
daß von dort aus die Arbeitsplätze nicht mehr erreichbar sind.
Allein Mitte der neunziger Jahre entstanden in den USA rund neun Millionen Dienstleistungs-Jobs, was einen Teil
zur (veröffentlichten) Arbeitslosenquote beitrug. Das Buch 'Arbeit poor' zeigt die Realität hinter den Zahlen. "Es ist
keine Lüge, daß Amerika verglichen mit Europa eine sehr niedrige Arbeitslosenquote hat," schreibt Ehrenreich. "Was
dabei aber außen vor bleibt, ist, daß ein Arbeitsplatz in den USA noch lange nicht garantiert, daß man davon auch leben
kann." Sie war während der zwei Jahre ihrer Recherche gezwungen, in schäbigen Motels oder in Wohncontainern zu
hausen. Ein ordentliches Ein-Zimmer-Appartment konnte sie sich von ihrem Lohn nirgendwo leisten. Unter tausend Dollar
war auch in der Provinz keine akzeptable Unterkunft zu finden.
Barbara Ehrenreichs Buch hat in den USA für Publicity und Diskussionen gesorgt. Aufklärung ist der erste Schritt auf dem
Weg zur Veränderung. "Amerikaner müssen aufhören, sich selbst etwas vorzumachen, nämlich daß eine niedrige
Arbeitslosenquote bedeutet, daß es keine Armut gibt. Das stimmt einfach nicht mehr", so die Journalistin.
Rezension von: Adriana Ascoli