Albert Einstein
An Sigmund Freud
Caputh, bei Potsdam, 30. Juli 1932.
Lieber Herr Freud!
Ich bin glücklich darüber, dass ich durch die Anregung des Völkerbundes und seines Internationalen
Instituts für geistige Zusammenarbeit in Paris, in freiem Meinungsaustausch mit einer Person meiner
Wahl ein frei gewähltes Problem zu erörtern, eine einzigartige Gelegenheit erhalte, mich mit Ihnen
über diejenige Frage zu unterhalten, die mir beim gegenwärtigen Stande der Dinge als die
wichtigste der Zivilisation erscheint: Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des
Krieges zu befreien? Die Einsicht, dass diese Frage durch die Fortschritte der Technik zu einer
Existenzfrage für die zivilisierte Menschheit geworden ist, ist ziemlich allgemein durchgedrungen, und
trotzdem sind die heißen Bemühungen um ihre Lösung bisher in erschreckendem Maße gescheitert.
Ich glaube, dass auch unter den mit diesem Problem praktisch und beruflich beschäftigten
Menschen, aus einem gewissen Gefühl der Ohnmacht heraus, der Wunsch lebendig ist, Personen
um ihre Auffassung des Problems zu befragen, die durch ihre gewohnte wissenschaftliche Tätigkeit
zu allen Fragendes Lebens eine weitgehende Distanz gewonnen haben. Was mich selber betrifft, so
liefert nur die gewohnte Richtung meines Denkens keine Einblicke in die Tiefen des menschlichen
Wollens und Fühlens, so dass ich bei dem hier versuchten Meinungsaustausch nicht viel mehr tun
kann, als versuchen, die Fragestellung herauszuarbeiten und durch Vorwegnahme der mehr
äußerlichen Lösungsversuche Ihnen Gelegenheit zu geben, die Frage vom Standpunkte Ihrer
vertieften Kenntnis des menschlichen Trieblebens aus zu beleuchten. Ich vertraue darauf, dass Sie
auf Wege der Erziehung werden hinweisen können, die auf einem gewissermaßen unpolitischen
Wege psychologische Hindernisse zu beseitigen imstande sind, welche der psychologisch Ungeübte
wohl ahnt, deren Zusammenhänge und Wandelbarkeit er aber nicht zu beurteilen vermag.
Weil ich selber ein von Affekten nationaler Natur freier Mensch bin, erscheint mir die äußere
beziehungsweise organisatorische Seite des Problems einfach: die Staaten scharfen eine legislative
und gerichtliche Behörde zur Schlichtung aller zwischen ihnen entstehenden Konflikte. Sie
verpflichten sich, sich den von der legislativen Behörde aufgestellten Gesetzen zu unterwerfen, das
Gericht in allen Streitfällen anzurufen, sich seinen Entscheidungen bedingungslos zu beugen sowie
alle diejenigen Maßnahmen durchzuführen, welche das Gericht für die Realisierung seiner
Entscheidungen für notwendig erachtet. Hier schon stoße ich auf die erste Schwierigkeit: Ein Gericht
ist eine menschliche Einrichtung, die um so mehr geneigt sein dürfte, ihre Entscheidungen
außerrechtlichen Einflüssen zugänglich zu machen, je weniger Macht ihr zur Verfügung steht, ihre
Entscheidungen durchzusetzen. Es ist eine Tatsache, mit der man rechnen muss: Recht und Macht
sind unzertrennlich verbunden, und die Sprüche eines Rechtsorgans nähern sich um so mehr dem
Gerechtigkeitsideal der Gemeinschaft, in deren Namen und Interesse Recht gesprochen wird, je
mehr Machtmittel diese Gemeinschaft aufbringen kann, um die Respektierung ihres
Gerechtigkeitsideals zu erzwingen. Wir sind aber zur Zeit weit davon entfernt, eine überstaatliche
Organisation zu besitzen, die ihrem Gericht unbestreitbare Autorität zu verleihen und der Exekution
seiner Erkenntnisse absoluten Gehorsam zu erzwingen imstande wäre. So drängt sich mir die erste
Feststellung auf: Der Weg zur internationalen Sicherheit führt über den bedingungslosen Verzicht der
Staaten auf einen Teil ihrer Handlungsfreiheit beziehungsweise Souveränität, und es dürfte
unbezweifelbar sein, dass es einen andern Weg zu dieser Sicherheit nicht gibt.
Ein Blick auf die Erfolglosigkeit der zweifellos ernst gemeinten Bemühungen der letzten Jahrzehnte,
dieses Ziel zu erreichen, lässt jeden deutlich fühlen, dass mächtige psychologische Kräfte am Werke
sind, die diese Bemühungen paralysieren. Einige dieser Kräfte liegen offen zutage. Das
Machtbedürfnis der jeweils herrschenden Schicht eines Staates widersetzt sich einer Einschränkung
der Hoheitsrechte desselben. Dieses politische Machtbedürfnis wird häufig genährt aus einem
materiell-ökonomisch sich äußernden Machtstreben einer andern Schicht. Ich denke hier vornehmlich
an die innerhalb jedes Volkes vorhandene kleine, aber entschlossene, sozialen Erwägungen und
Hemmungen unzugängliche Gruppe jener Menschen, denen Krieg, Waffenherstellung und -handel
nichts als eine Gelegenheit sind, persönliche Vorteile zu ziehen, den persönlichen Machtbereich zu
erweitern.
Diese einfache Feststellung bedeutet aber nur einen ersten Schritt in der Erkenntnis der
Zusammenhänge. Es erhebt sich sofort die Frage: Wie ist es möglich, dass die soeben genannte
Minderheit die Masse des Volkes ihren Gelüsten dienstbar machen kann, die durch einen Krieg nur
zu leiden und zu verlieren hat. (Wenn ich von der Masse des Volkes spreche, so schließe ich aus ihr
diejenigen nicht aus, die als Soldaten aller Grade den Krieg zum Beruf gemacht haben, in der
Überzeugung, dass sie der Verteidigung der höchsten Güter ihres Volkes dienen und dass
manchmal die beste Verteidigung der Angriff ist.) Hier scheint die nächstliegende Antwort zu sein:
Die Minderheit der jeweils Herrschenden hat vor allem die Schule, die Presse und meistens auch die
religiösen Organisationen in ihrer Hand. Durch diese Mittel beherrscht und leitet sie die Gefühle der
großen Masse und macht diese zu ihrem willenlosen Werkzeuge.
Aber auch diese Antwort erschöpft nicht den ganzen Zusammenhang, denn es erhebt sich die Frage:
Wie ist es möglich, dass sich die Masse durch die genannten Mittel bis zur Raserei und
Selbstaufopferung entflammen lässt? Die Antwort kann nur sein: Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu
hassen und zu vernichten. Diese Anlage ist in gewöhnlichen Zeiten latent vorhanden und tritt dann nur
beim Abnormalen zutage; sie kann aber leicht geweckt und zur Massenpsychose gesteigert werden.
Hier scheint das tiefste Problem des ganzen verhängnisvollen Wirkungskomplexes zu stecken. Hier
ist die Stelle, die nur der große Kenner der menschlichen Triebe beleuchten kann. Dies führt auf eine
letzte Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass
sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden? Ich
denke dabei keineswegs nur an die sogenannten Ungebildeten. Nach meinen Lebenserfahrungen ist
es vielmehr die sogenannte >Intelligenz<, welche den verhängnisvollen Massensuggestionen am
leichtesten unterliegt, weil sie nicht unmittelbar aus dem Erleben zu schöpfen pflegt, sondern auf dem
Wege über das bedruckte Papier am bequemsten und vollständigsten zu erfassen ist. Zum Schluss
noch eins: Ich habe bisher nur vom Krieg zwischen Staaten, also von sogenannten internationalen
Konflikten gesprochen. Ich bin mir dessen bewusst, dass die menschliche Aggressivität sich auch in
anderen Formen und unter anderen Bedingungen betätigt (z. B. Bürgerkrieg, früher aus religiösen,
heute aus sozialen Ursachen heraus, Verfolgung von nationalen Minderheiten). Ich habe aber
bewusst die repräsentativste und unheilvollste, weil zügelloseste Form des Konfliktes unter
menschlichen Gemeinschaften hervorgehoben, weil sich an ihr vielleicht am ehesten demonstrieren
lässt, wie sich kriegerische Konflikte vermeiden ließen.
Ich weiß, dass Sie in Ihren Schriften auf alle mit dem uns interessierenden, drängenden Problem
zusammenhängenden Fragen teils direkt, teils indirekt geantwortet haben. Es wird aber von großem
Nutzen sein, wenn Sie das Problem der Befriedung der Welt im Lichte Ihrer neuen Erkenntnisse
besonders darstellen, da von einer solchen Darstellung fruchtbare Bemühungen ausgehen können.
Freundlichst grüßt Sie
Ihr A. Einstein
Sigmund Freud
An Albert Einstein
Wien, im September
Lieber Herr Einstein!
Als ich hörte, dass Sie die Absicht haben, mich zum Gedankenaustausch über ein Thema
aufzufordern, dem Sie Ihr Interesse schenken und das Ihnen auch des Interesses Anderer würdig
erscheint, stimmte ich bereitwillig zu. Ich erwartete, Sie würden ein Problem an der Grenze des heute
Wißbaren wählen, zu dem ein jeder von uns, der Physiker wie der Psychologe, sich seinen
besonderen Zugang bahnen könnte, so dass sie sich von verschiedenen Seiten her auf demselben
Boden träfen. Sie haben mich dann durch die Fragestellung überrascht, was man tun könne, um das
Verhängnis des Krieges von den Menschen abzuwehren. Ich erschrak zunächst unter dem Eindruck
meiner - fast hätte ich gesagt: unserer - Inkompetenz, denn das erschien mir als eine praktische
Aufgabe, die den Staatsmännern zufällt. Ich verstand dann aber, dass Sie die Frage nicht als
Naturforscher und Physiker erhoben haben, sondern als Menschenfreund, der den Anregungen des
Völkerbundes gefolgt war, ähnlich wie der Polarforscher Fridtjof Nansen es auf sich genommen
hatte, den Hungernden und den heimatlosen Opfern des Weltkrieges Hilfe zu bringen. Ich besann
mich auch, dass mir nicht zugemutet wird, praktische Vorschläge zu machen, sondern dass ich nur
angeben soll, wie sich das Problem der Kriegsverhütung einer psychologischen Betrachtung
darstellt.
Aber auch hierüber haben Sie in Ihrem Schreiben das meiste gesagt. Sie haben mir gleichsam den
Wind aus den Segeln genommen, aber ich fahre gern in Ihrem Kielwasser und bescheide mich
damit, alles zu bestätigen, was Sie vorbringen, indem ich es nach meinem besten Wissen - oder
Vermuten - breiter ausführe.
Sie beginnen mit dem Verhältnis von Recht und Macht. Das ist gewiss der richtige Ausgangspunkt
für unsere Untersuchung. Darf ich das Wort >Macht< durch das grellere, härtere Wort >Gewalt<
ersetzen? Recht und Gewalt sind uns heute Gegensätze. Es ist leicht zu zeigen, dass sich das eine
aus dem anderen entwickelt hat, und wenn wir auf die Uranfänge zurückgehen und nachsehen, wie
das zuerst geschehen ist, so fällt uns die Lösung des Problems mühelos zu. Entschuldigen Sie mich
aber, wenn ich im Folgenden allgemein Bekanntes und Anerkanntes erzähle, als ob es neu wäre; der
Zusammenhang nötigt mich dazu.
Interessenkonflikte unter den Menschen werden also prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt
entschieden. So ist es im ganzen Tierreich, von dem der Mensch sich nicht ausschließen sollte; für
den Menschen kommen allerdings noch Meinungskonflikte hinzu, die bis zu den höchsten Höhen der
Abstraktion reichen und eine andere Technik der Entscheidung zu fordern scheinen. Aber das ist
eine spätere Komplikation. Anfänglich, in einer kleinen Menschenhorde, entschied die stärkere
Muskelkraft darüber, wem etwas gehören oder wessen Wille zur Ausführung gebracht werden sollte.
Muskelkraft verstärkt und ersetzt sich bald durch den Gebrauch von Werkzeugen; es siegt, wer die
besseren Waffen hat oder sie geschickter verwendet. Mit der Einführung der Waffe beginnt bereits
die geistige Überlegenheit die Stelle der rohen Muskelkraft einzunehmen; die Endabsicht des
Kampfes bleibt die nämliche, der eine Teil soll durch die Schädigung, die er erfährt, und durch die
Lähmung seiner Kräfte gezwungen werden, seinen Anspruch oder Widerspruch aufzugeben. Dies
wird am gründlichsten erreicht, wenn die Gewalt den Gegner dauernd beseitigt, also tötet. Es hat
zwei Vorteile, dass er seine Gegnerschaft nicht ein andermal wieder aufnehmen kann und dass sein
Schicksal andere abschreckt, seinem Beispiel zu folgen. Außerdem befriedigt die Tötung des
Feindes eine triebhafte Neigung, die später erwähnt werden muss. Der Tötungsabsicht kann sich die
Erwägung widersetzen, dass der Feind zu nützlichen Dienstleistungen verwendet werden kann, wenn
man ihn eingeschüchtert am Leben lässt. Dann begnügt sich also die Gewalt damit, ihn zu
unterwerfen, anstatt ihn zu töten. Es ist der Anfang der Schonung des Feindes, aber der Sieger hat
von nun an mit der lauernden Rachsucht des Besiegten zu rechnen, gibt ein Stück seiner eigenen
Sicherheit auf.
Das ist also der ursprüngliche Zustand, die Herrschaft der größeren Macht, der rohen oder
intellektuell gestützten Gewalt. Wir wissen, dies Regime ist im Laufe der Entwicklung abgeändert
worden, es führte ein Weg von der Gewalt zum Recht, aber welcher? Nur ein einziger, meine ich. Er
führte über die Tatsache, dass die größere Stärke des Einen wettgemacht werden konnte durch die
Vereinigung mehrerer Schwachen. >L'union fait la force.< Gewalt wird gebrochen durch Einigung, die
Macht dieser Geeinigten stellt nun das Recht dar im Gegensatz zur Gewalt des Einzelnen. Wir sehen,
das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft. Es ist noch immer Gewalt, bereit, sich gegen jeden
Einzelnen zu wenden, der sich ihr widersetzt, arbeitet mit denselben Mitteln, verfolgt dieselben
Zwecke; der Unterschied liegt wirklich nur darin, dass es nicht mehr die Gewalt eines Einzelnen ist,
die sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft. Aber damit sich dieser Übergang von der Gewalt
zum neuen Recht vollziehe, muss eine psychologische Bedingung erfüllt werden. Die Einigung der
Mehreren muss eine beständige, dauerhafte sein. Stellte sie sich nur zum Zweck der Bekämpfung
des einen Übermächtigen her und zerfiele nach seiner Überwältigung, so wäre nichts erreicht. Der
nächste, der sich für stärker hält, würde wiederum eine Gewaltherrschaft anstreben, und das Spiel
würde sich endlos wiederholen. Die Gemeinschaft muss permanent erhalten werden, sich
organisieren, Vorschriften schaffen, die den gefürchteten Auflehnungen vorbeugen, Organe
bestimmen, die über die Einhaltung der Vorschriften - Gesetze - wachen und die Ausführung der
rechtmäßigen Gewaltakte besorgen, für der Anerkennung einer solchen Interessengemeinschaft
stellen sich unter den Mitgliedern einer geeinigten Menschengruppe Gefühlsbindungen her,
Gemeinschaftsgefühle, in denen ihre eigentliche Stärke beruht.
Damit, denke ich, ist alles Wesentliche bereits gegeben: die Überwindung der Gewalt durch
Übertragung der Macht an eine größere Einheit, die durch Gefühlsbindungen ihrer Mitglieder
zusammengehalten wird. Alles Weitere sind Ausführungen und Wiederholungen. Die Verhältnisse
sind einfach, solange die Gemeinschaft nur aus einer Anzahl gleichstarker Individuen besteht. Die
Gesetze dieser Vereinigung bestimmen dann, auf welches Maß von persönlicher Freiheit, seine Kraft
als Gewalt anzuwenden, der Einzelne verzichten muss, um ein gesichertes Zusammenleben zu
ermöglichen. Aber ein solcher Ruhezustand ist nur theoretisch denkbar, in Wirklichkeit kompliziert
sich der Sachverhalt dadurch, dass die Gemeinschaft von Anfang an ungleich mächtige Elemente
umfasst, Männer und Frauen, Eltern und Kinder, und bald infolge von Krieg und Unterwerfung
Siegreiche und Besiegte, die sich in Herren und Sklaven umsetzen. Das Recht der Gemeinschaft
wird dann zum Ausdruck der ungleichen Machtverhältnisse in ihrer Mitte, die Gesetze werden von und
für die Herrschenden gemacht werden und den Unterworfenen wenig Rechte einräumen. Von da an
gibt es in der Gemeinschaft zwei Quellen von Rechtsunruhe, aber auch von Rechtsfortbildung.
Erstens die Versuche Einzelner unter den Herren, sich über die für alle gültigen Einschränkungen zu
erheben, also von der Rechtsherrschaft auf die Gewaltherrschaft zurückzugreifen, zweitens die
ständigen Bestrebungen der Unterdrückten, sich mehr Macht zu verschaffen und diese Änderungen
im Gesetz anerkannt zu sehen, also im Gegenteil vom ungleichen Recht zum gleichen Recht für alle
vorzudringen. Diese letztere Strömung "wird besonders bedeutsam werden, wenn sich im Inneren
des Gemeinwesens wirklich Verschiebungen der Machtverhältnisse ergeben, wie es infolge
mannigfacher historischer Momente geschehen kann. Das Recht kann sich dann allmählich den
neuen Machtverhältnissen anpassen, oder, was häufiger geschieht, die herrschende Klasse ist nicht
bereit, dieser Änderung Rechnung zu tragen, es kommt zu Auflehnung, Bürgerkrieg, also zur
zeitweiligen Aufhebung des Rechts und zu neuen Gewaltproben, nach deren Ausgang eine neue
Rechtsordnung eingesetzt wird. Es gibt noch eine andere Quelle der Rechtsänderung, die sich nur in
friedlicher Weise äußert, das ist die kulturelle Wandlung der Mitglieder des Gemeinwesens, aber die
gehört in einen Zusammenhang, der erst später berücksichtigt werden kann. Wir sehen also, auch
innerhalb eines Gemeinwesens ist die gewaltsame Erledigung von Interessenkonflikten nicht
vermieden worden. Aber die Notwendigkeiten und Gemeinsamkeiten, die sich aus dem
Zusammenleben auf demselben Boden ableiten, sind einer raschen Beendigung solcher Kämpfe
günstig, und die Wahrscheinlichkeit friedlicher Lösungen unter diesen Bedingungen nimmt stetig zu.
Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt uns aber eine unaufhörliche Reihe von Konflikten
zwischen einem Gemeinwesen und einem oder mehreren anderen, zwischen größeren und kleineren
Einheiten, Stadtgebieten, Landschaften, Stämmen, Völkern, Reichen, die fast immer durch die
Kraftprobe des Krieges entschieden werden. Solche Kriege gehen entweder in Beraubung oder in
volle Unterwerfung, Eroberung des einen Teils, aus. Man kann die Eroberungskriege nicht einheitlich
beurteilen. Manche wie die der Mongolen und Türken haben nur Unheil gebracht, andere im
Gegenteil zur Umwandlung von Gewalt in Recht beigetragen, indem sie größere Einheiten herstellten,
innerhalb deren nun die Möglichkeit der Gewaltanwendung aufgehört hatte und eine neue
Rechtsordnung die Konflikte schlichtete. So haben die Eroberungen der Römer den
Mittelmeerländern die kostbare pax romana gegeben. Die Vergrößerungslust der französischen
Könige hat ein friedlich geeinigtes, blühendes Frankreich geschaffen. So paradox es klingt, man
muss doch zugestehen, der Krieg wäre kein ungeeignetes Mittel zur Herstellung des ersehnten
>ewigen< Friedens, weil er im Stande ist, jene großen Einheiten zu schaffen, innerhalb deren eine
starke Zentralgewalt weitere Kriege unmöglich macht. Aber er taugt doch nicht dazu, denn die
Erfolge der Eroberung sind in der Regel nicht dauerhaft; die neu geschaffenen Einheiten zerfallen
wieder, meist infolge des mangelnden Zusammenhalts der gewaltsam geeinigten Teile. Und
außerdem konnte die Eroberung bisher nur partielle Einigungen, wenn auch von größerem Umfang,
schaffen, deren Konflikte die gewaltsame Entscheidung erst recht herausforderten. So ergab sich als
die Folge all dieser kriegerischen Anstrengungen nur, dass die Menschheit zahlreiche, ja
unaufhörliche Kleinkriege gegen seltene, aber um so mehr verheerende Großkriege eintauschte.
Auf unsere Gegenwart angewendet, ergibt sich das gleiche Resultat, zu dem Sie auf kürzerem Weg
gelangt sind. Eine sichere Verhütung der Kriege ist nur möglich, wenn sich die Menschen zur
Einsetzung einer Zentralgewalt einigen, welcher der Richtspruch in allen Interessenkonflikten
übertragen wird. Hier sind offenbar zwei Forderungen vereinigt, dass eine solche übergeordnete
Instanz geschaffen und dass ihr die erforderliche Macht gegeben werde. Das eine allein würde nicht
nützen. Nun ist der Völkerbund als solche Instanz gedacht, aber die andere Bedingung ist nicht erfüllt;
der Völkerbund hat keine eigene Macht und kann sie nur bekommen, wenn die Mitglieder der neuen
Einigung, die einzelnen Staaten, sie ihm abtreten. Dazu scheint aber derzeit wenig Aussicht
vorhanden. Man stünde der Institution des Völker Bundes nun ganz ohne Verständnis gegenüber,
wenn man nicht wüsste, dass hier ein Versuch vorliegt, der in der Geschichte der Menschheit nicht oft
- vielleicht noch nie in diesem Maß - gewagt worden ist. Es ist der Versuch, die Autorität - d.i. den
zwingenden Einfluss -, die sonst auf dem Besitz der Macht ruht, durch die Berufung auf bestimmte
ideelle Einstellungen zu erwerben. Wir haben gehört, was eine Gemeinschaft zusammenhält, sind
zwei Dinge: der Zwang der Gewalt und die Gefühlsbindungen - Identifizierungen heißt man sie
technisch - der Mitglieder. Fällt das eine Moment weg, so kann möglicher Weise das andere die
Gemeinschaft aufrecht halten. Jene Ideen haben natürlich nur dann eine Bedeutung, wenn sie
wichtigen Gemeinsamkeiten der Mitglieder Ausdruck geben. Es fragt sich dann, wie stark sie sind.
Die Geschichte lehrt, dass sie in der Tat ihre Wirkung geübt haben. Die panhellenische Idee z.B.,
das Bewusstsein, dass man etwas Besseres sei als die umwohnenden Barbaren, das in den
Amphiktyonien, den Orakeln und Festspielen so kräftigen Ausdruck fand, war stark genug, um die
Sitten der Kriegsführung unter Griechen zu mildern, aber selbstverständlich nicht im Stande,
kriegerische Streitigkeiten zwischen den Partikeln des Griechenvolkes zu verhüten, ja nicht einmal
um eine Stadt oder einen Städtebund abzuhalten, sich zum Schaden eines Rivalen mit dem
Perserfeind zu verbünden. Ebenso wenig hat das christliche Gemeingefühl, das doch mächtig genug
war, im Renaissancezeitalter christliche Klein- und Großstaaten daran gehindert, in ihren Kriegen
miteinander um die Hilfe des Sultans zu werben. Auch in unserer Zeit gibt es keine Idee, der man
eine solche einigende Autorität zumuten könnte. Dass die heute die Völker beherrschenden
nationalen Ideale zu einer gegenteiligen Wirkung drängen, ist ja allzu deutlich. Es gibt Personen, die
vorhersagen, erst das allgemeine Durchdringen der bolschewistischen Denkungsart werde den
Kriegen ein Ende machen können, aber von solchem Ziel sind wir heute jedenfalls weit entfernt, und
vielleicht wäre es nur nach schrecklichen Bürgerkriegen erreichbar. So scheint es also, dass der
Versuch, reale Macht durch die Macht der Ideen zu ersetzen, heute noch zum Fehlschlagen verurteilt
ist. Es ist ein Fehler in der Rechnung, wenn man nicht berücksichtigt, dass Recht ursprünglich rohe
Gewalt war und noch heute der Stützung durch die Gewalt nicht entbehren kann.
Ich kann nun daran gehen, einen anderen Ihrer Sätze zu glossieren. Sie verwundern sich darüber,
dass es so leicht ist, die Menschen für den Krieg zu begeistern, und vermuten, dass etwas in ihnen
wirksam ist, ein Trieb zum Hassen und Vernichten, der solcher Verhetzung entgegenkommt.
Wiederum kann ich Ihnen nur uneingeschränkt beistimmen. Wir glauben an die Existenz eines
solchen Triebes und haben uns gerade in den letzten Jahren bemüht, seine Äußerungen zu studieren.
Darf ich Ihnen aus diesem Anlass ein Stück der Trieblehre vortragen, zu der wir in der Psychoanalyse
nach vielem Tasten und Schwanken gekommen sind? Wir nehmen an, dass die Triebe des
Menschen nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen - wir heißen
sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos, oder sexuelle mit bewusster
Überdehnung des populären Begriffs von Sexualität - und andere, die zerstören und töten wollen; wir
fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen. Sie sehen, das ist eigentlich
nur die theoretische Verklärung des weltbekannten Gegensatzes von Lieben und Hassen, der
vielleicht zu der Polarität von Anziehung und Abstoßung eine Urbeziehung unterhält, die auf Ihrem
Gebiet eine Rolle spielt. Nun lassen Sie uns nicht zu rasch mit den Wertungen von Gut und Böse
einsetzen. Der eine dieser Triebe ist ebenso unerlässlich wie der andere, aus dem Zusammen und
Gegeneinanderwirken der Beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor. Nun scheint es,
dass kaum jemals ein Trieb der einen Art sich isoliert betätigen kann, er ist immer mit einem
gewissen Betrag von der anderen Seite verbunden, wie wir sagen: legiert, der sein Ziel modifiziert
oder ihm unter Umständen dessen Erreichung erst möglich macht. So ist z.B. der
Selbsterhaltungstrieb gewiss erotischer Natur, aber grade er bedarf der Verfügung über die
Aggression, wenn er seine Absicht durchsetzen soll. Ebenso benötigt der auf Objekte gerichtete
Liebestrieb eines Zusatzes vom Bemächtigungstrieb, wenn er seines Objekts überhaupt habhaft
werden soll. Die Schwierigkeit, die beiden Triebarten in ihren Äußerungen zu isolieren, hat uns ja so
lange in ihrer Erkenntnis behindert.
Wenn Sie mit mir ein Stück weitergehen wollen, so hören Sie, dass die menschlichen Handlungen
noch eine Komplikation von anderer Art erkennen lassen. Ganz selten ist die Handlung das Werk
einer einzigen Triebregung, die an und für sich bereits aus Eros und Destruktion zusammengesetzt
sein muss. In der Regel müssen mehrere in der gleichen Weise aufgebaute Motive zusammentreffen,
um die Handlung zu ermöglichen. Einer Ihrer Fachgenossen hat das bereits gewusst, ein Prof. G. Ch.
Lichtenberg, der zur Zeit unserer Klassiker in Göttingen Physik lehrte; aber vielleicht war er als
Psychologe noch bedeutender denn als Physiker. Er erfand die Motivenrose, indem er sagte: "Die
Bewegungsgründe (wir sagen heute: Beweggründe), woraus man etwas tut, könnten so wie die 32
Winde geordnet und ihre Namen auf eine ähnliche Art formiert werden, z. B. Brot-Brot-Ruhm oder
Ruhm-Ruhm-Brot." Wenn also die Menschen zum Krieg aufgefordert werden, so mögen eine ganze
Anzahl von Motiven in ihnen zustimmend antworten, edle und gemeine, solche, von denen man laut
spricht, und andere, die man beschweigt. Wir haben keinen Anlass, sie alle bloßzulegen. Die Lust an
der Aggression und Destruktion ist gewiss darunter; ungezählte Grausamkeiten der Geschichte und
des Alltags bekräftigen ihre Existenz und ihre Stärke. Die Verquickung dieser destruktiven
Strebungen mit anderen erotischen und ideellen erleichtert natürlich deren Befriedigung. Manchmal
haben wir, wenn wir von den Gräueltaten der Geschichte hören, den Eindruck, die ideellen Motive
hätten den destruktiven Gelüsten nur als Vorwände gedient, andere Male z.B. bei den
Grausamkeiten der hl. Inquisition, meinen wir, die ideellen Motive hätten sich im Bewusstsein
vorgedrängt, die destruktiven ihnen eine unbewusste Verstärkung gebracht. Beides ist möglich.
Ich habe Bedenken, Ihr Interesse zu missbrauchen, das ja der Kriegsverhütung gilt, nicht unseren
Theorien. Doch möchte ich noch einen Augenblick bei unserem Destruktionstrieb verweilen, dessen
Beliebtheit keineswegs Schritt hält mit seiner Bedeutung. Mit etwas Aufwand von Spekulation sind
wir nämlich zu der Auffassung gelangt, dass dieser Trieb innerhalb jedes lebenden Wesens arbeitet
und dann das Bestreben hat, es zum Zerfall zu bringen, das Leben zum Zustand der unbelebten
Materie zurückzuführen. Er verdiente in allem Ernst den Namen eines Todestriebes, während die
erotischen Triebe die Bestrebungen zum Leben repräsentieren. Der Todestrieb wird zum
Destruktionstrieb, indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet
wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, dass es fremdes zerstört.
Ein Anteil des Todestriebes verbleibt aber im Innern des Lebewesens tätig und wir haben versucht,
eine ganze Anzahl von normalen und pathologischen Phänomenen von dieser Verinnerlichung des
Destruktionstriebes abzuleiten. Wir haben sogar die Ketzerei begangen, die Entstehung unseres
Gewissens durch eine solche Wendung der Aggression nach innen zu erklären. Sie merken, es ist
gar nicht so unbedenklich, wenn sich dieser Vorgang in allzu großem Ausmaß vollzieht, es ist direkt
ungesund, während die Wendung dieser Triebkräfte zur Destruktion in der Außenwelt das
Lebewesen entlastet, wohltuend wirken muss. Das diene zur biologischen Entschuldigung all der
hässlichen und gefährlichen Strebungen, gegen die wir ankämpfen. Man muss zugeben, sie sind der
Natur näher als unser Widerstand dagegen, für den wir auch noch eine Erklärung finden müssen.
Vielleicht haben Sie den Eindruck, unsere Theorien seien eine Art von Mythologie, nicht einmal eine
erfreuliche in diesem Fall. Aber läuft nicht jede Naturwissenschaft auf eine solche Art von Mythologie
hinaus? Geht es Ihnen heute in der Physik anders?
Aus dem Vorstehenden entnehmen wir für unsere nächsten Zwecke soviel, dass es keine Aussicht
hat, die aggressiven Neigungen der Menschen abschaffen zu wollen. Es soll in glücklichen Gegenden
der Erde, wo die Natur alles, was der Mensch braucht, überreichlich zur Verfügung stellt,
Völkerstämme geben, deren Leben in Sanftmut verläuft, bei denen Zwang und Aggression
unbekannt sind. Ich kann es kaum glauben, möchte gern mehr über diese Glücklichen erfahren. Auch
die Bolschewisten hoffen, dass sie die menschliche Aggression zum Verschwinden bringen können
dadurch, dass sie die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verbürgen und sonst Gleichheit unter
den Teilnehmern an der Gemeinschaft herstellen. Ich halte das für eine Illusion. Vorläufig sind sie auf
das sorgfältigste bewaffnet und halten ihre Anhänger nicht zum Mindesten durch den Hass gegen alle
Außenstehenden zusammen. Übrigens handelt es sich, wie Sie selbst bemerken, nicht darum, die
menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen; man kann versuchen sie soweit abzulenken,
dass sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden muss. Von unserer mythologischen Trieblehre her
finden wir leicht eine Formel für die indirekten Wege zur Bekämpfung des Krieges. Wenn die
Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluss des Destruktionstriebes ist, so liegt es nahe, gegen sie den
Gegenspieler dieses Triebes, den Eros, anzurufen. Alles, was Gefühlsbindungen unter den
Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken.
Diese Bindungen können von zweierlei Art sein. Erstens Beziehungen wie zu einem Liebesobjekt,
wenn auch ohne sexuelle Ziele. Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie hier von
Liebe spricht, denn die Religion sagt dasselbe: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Das ist nun
leicht gefordert, aber schwer zu erfüllen. Die andere Art von Gefühlsbindung ist die durch
Identifizierung. Alles was bedeutsame Gemeinsamkeiten unter den Menschen herstellt, ruft solche
Gemeingefühle, Identifizierungen, hervor. Auf ihnen ruht zum guten Teil der Aufbau der menschlichen
Gesellschaft. Einer Klage von Ihnen über den Missbrauch der Autorität entnehme ich einen zweiten
Wink zur indirekten Bekämpfung der Kriegsneigung. Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu
beseitigenden Ungleichheit der Menschen, dass sie in Führer und in Abhängige zerfallen. Die
letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen
fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen. Hier wäre anzuknüpfen, man müsste mehr
Sorge als bisher aufwenden, um eine Oberschicht selbständig denkender, der Einschüchterung
unzugänglicher, nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen, denen die Lenkung der
unselbständigen Massen zufallen würde. Dass die Übergriffe der Staatsgewalten und das
Denkverbot der Kirche einer solchen Aufzucht nicht günstig sind, bedarf keines Beweises. Der ideale
Zustand wäre natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft
unterworfen haben. Nichts anderes könnte eine so vollkommene und widerstandsfähige Einigung der
Menschen hervorrufen, selbst unter Verzicht auf die Gefühlsbindungen zwischen ihnen. Aber das ist
höchstwahrscheinlich eine utopische Hoffnung. Die anderen Wege einer indirekten Verhinderung des
Krieges sind gewiss eher gangbar, aber sie versprechen keinen raschen Erfolg. Ungern denkt man
an Mühlen, die so langsam mahlen, dass man verhungern könnte, ehe man das Mehl bekommt. Sie
sehen, es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man bei dringenden praktischen Aufgaben den
weltfremden Theoretiker zu Rate zieht. Besser, man bemüht sich in jedem einzelnen Fall der Gefahr
zur begegnen mit den Mitteln, die eben zur Hand sind. Ich möchte aber noch eine Frage behandeln,
die Sie in Ihrem Schreiben nicht aufwerfen und die mich besonders interessiert. Warum empören wir
uns so sehr gegen den Krieg, Sie und ich und so viele andere, warum nehmen wir ihn nicht hin wie
eine andere der vielen peinlichen Notlagen des Lebens? Er scheint doch naturgemäß, biologisch
wohl begründet, praktisch kaum vermeidbar. Entsetzen Sie sich nicht über meine Fragestellung. Zum
Zweck einer Untersuchung darf man vielleicht die Maske einer Überlegenheit vornehmen, über die
man in Wirklichkeit nicht verfügt. Die Antwort wird lauten, weil jeder Mensch ein Recht auf sein
eigenes Leben hat, weil der Krieg hoffnungsvolle Menschenleben vernichtet, den einzelnen
Menschen in Lagen bringt, die ihn entwürdigen, ihn zwingt, andere zu morden, was er nicht will,
kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstört, u. a. mehr. Auch dass der Krieg in
seiner gegenwärtigen Gestaltung keine Gelegenheit mehr gibt, das alte heldische Ideal zu erfüllen,
und dass ein zukünftiger Krieg infolge der Vervollkommnung der Zerstörungsmittel die Ausrottung
eines oder vielleicht beider Gegner bedeuten würde. Das ist alles wahr und scheint so unbestreitbar,
dass man sich nur verwundert, wenn das Kriegführen noch nicht durch allgemeine menschliche
Übereinkunft verworfen worden ist. Man kann zwar über einzelne dieser Punkte diskutieren. Es ist
fraglich, ob die Gemeinschaft nicht auch ein Recht auf das Leben des Einzelnen haben soll; man
kann nicht alle Arten von Krieg in gleichem Maß verdammen; solange es Reiche und Nationen gibt,
die zur rücksichtslosen Vernichtung anderer bereit sind, müssen diese anderen zum Krieg gerüstet
sein. Aber wir wollen über all das rasch hinweggehen, das ist nicht die Diskussion, zu der Sie mich
aufgefordert haben. Ich ziele auf etwas anderes hin; ich glaube, der Hauptgrund, weshalb wir uns
gegen den Krieg empören, ist, dass wir nicht anders können. Wir sind Pazifisten, weil wir es aus
organischen Gründen sein müssen. Wir haben es dann leicht, unsere Einstellung durch Argumente zu
rechtfertigen.
Das ist wohl ohne Erklärung nicht zu verstehen. Ich meine das Folgende: Seit unvordenklichen Zeiten
zieht sich über die Menschheit der Prozeß der Kulturentwicklung hin. (Ich weiß, andere heißen ihn
lieber: Zivilisation.) Diesem Prozeß verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut
Teil von dem, woran wir leiden. Seine Anlässe und Anfänge sind dunkel, sein Ausgang ungewiss,
einige seiner Charaktere leicht ersichtlich. Vielleicht führt er zum Erlöschen der Menschenart, denn er
beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise, und schon heute vermehren sich
unkultivierte Rassen und zurückgebliebene Schichten der Bevölkerung stärker als hochkultivierte.
Vielleicht ist dieser Prozeß mit der Domestikation gewisser Tierarten vergleichbar; ohne Zweifel
bringt er körperliche Veränderungen mit sich; man hat sich noch nicht mit der Vorstellung vertraut
gemacht, dass die Kulturentwicklung ein solcher organischer Prozeß sei. Die mit dem Kulturprozess
einhergehenden psychischen Veränderungen sind auffällig und unzweideutig. Sie bestehen in einer
fortschreitenden Verschiebung der Triebziele und Einschränkung der Triebregungen. Sensationen,
die unseren Vorahnen lustvoll waren, sind für uns indifferent oder selbst unleidlich geworden; es hat
organische Begründungen, wenn unsere ethischen und ästhetischen Idealforderungen sich geändert
haben. Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die
Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der
Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen. Den psychischen
Einstellungen, die uns der Kulturprozess aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise,
darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine
intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist, bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine
Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. Und zwar scheint es, dass die ästhetischen
Erniedrigungen des Krieges nicht viel weniger Anteil an unserer Auflehnung haben als seine
Grausamkeiten.
Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden? Es ist nicht zu sagen,
aber vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, dass der Einfluss dieser beiden Momente, der
kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem
Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird. Auf welchen Wegen oder Umwegen, können
wir nicht erraten. Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet
auch gegen den Krieg.
Ich grüße Sie herzlich und bitte Sie um Verzeihung, wenn meine Ausführungen Sie enttäuscht haben.
Ihr Sigmund Freud