20.04.2004

Anklage Völkermord

Prozesse in Den Haag gegen die NATO und gegen einen serbischen General

Steckbrief Was haben Gerhard Schröder, William ("Bill") Clinton und Anthony ("Tony") Blair gemeinsam? In Abwesenheit wurden sie und andere führende Politiker und Militärs zu 20 Jahren Haft wegen Kriegs- verbrechen verurteilt, die sie durch die und während der Aggression gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 verübt hatten. Gesprochen hat das Urteil ein Belgrader Gericht am 19. April 2001 - also zu einer Zeit, als der ehemalige Präsident Slobodan Milosevic bereits in Haft war. Das Urteil ist bis heute in Kraft*.

Exakt drei Jahre später wird seit dem gestrigen Montag wegen derselben Sache vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt. Die Regierung Serbien-Montenegros, des Nachfolgestaates von Jugoslawien, klagt gegen Deutschland und sieben weitere NATO-Staaten wegen der Verletzung des Völkerrechts. Eigentlich ist die Sache eindeutig: Mit dem 78-tägigen Krieg gegen Jugoslawien zwischen 24. März und 9. Juni 1999 verstieß der Nordatlantikpakt gegen die Charta der Vereinten Nationen, wo es in Artikel 2 Absatz 4 eindeutig heißt: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt." Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist nur vorgesehen, falls der UN-Sicherheitsrat ein militärisches Eingreifen legitimiert. Das war aber 1999 ebensowenig der Fall wie 2003 beim Überfall auf den Irak.

Neben der Durchführung eines Angriffskrieges steht auch der Punkt Völkermord in der Anklageschrift. Dies mag man für überzogene balkanische Rhetorik halten, denn trotz aller Grausamkeiten der Kriegführung wird man der NATO nicht den Vorwurf machen können, sie habe die Auslöschung aller Jugoslawen oder Serben beabsichtigt. Bevor man deswegen aber der Rechtsposition der französischen Regierung folgt und von einer "Beleidigung des Gerichtshofes" durch die Kläger spricht, sollte man sich vergegenwärtigen, daß die NATO selbst die Völkermord-Demagogie in Politik und Justiz hoffähig gemacht hat.

Ein Beispiel dafür ist das Urteil, das der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) gegen den bosnisch-serbischen Armeegeneral Radislav Krstic auch am gestrigen Montag gefällt hat. Das ebenfalls in Den Haag angesiedelte Gericht, das in einem anderen Verfahren gegen Milosevic verhandelt, bestätigte im wesentlichen den Schuldspruch aus der ersten Instanz. Im August 2001 hatte das Tribunal Krstic wegen des "Völkermordes" verurteilt, den er als serbischer Oberbefehlshaber bei der Eroberung der moslemischen Enklave Srebrenica im Juli 1995 zu verantworten habe. Die Revisionsinstanz sah bei Krstic nun keine "Mittäterschaft" mehr, sondern "Beihilfe" zum Völkermord und senkte das Strafmaß von 46 auf 35 Jahre. Auch so wird der Ex-General bis zu seinem Tode im Haager Gefängnis bleiben müssen.

In Srebrenica waren nach gängiger westlicher Lesart mindestens 7000 Muslime ermordet worden. Krstic und seine Anwälte hatten eingeräumt, daß diese Tötungen schrecklich gewesen seien, jedoch darauf hingewiesen, daß es sich dabei nur um einen "winzigen Teil" der muslimischen Bevölkerung gehandelt habe und man deswegen nicht von Völkermord sprechen könne. Darüber hinaus ist die Zahl 7000 alles andere als belegt: Nach über acht Jahren Ausgrabungsarbeiten wurden exakt 2541 Leichen gefunden - so Dean Manning, der Srebrenica- Spezialist des Haager Tribunals, bei seiner Aussage am 16. Januar 2004. Der Haager Chefermittler Jean-René Ruez geht gleichzeitig davon aus, daß alle 2638 Toten der moslemischen Srebrenica-Armee "im Kampf umgekommen" sind (Interview im Buch von Julija Bogoeva / Caroline Fetscher "Srebrenica - ein Prozeß").

Selbstverständlich kann man daraus nicht schließen, daß es nur Gefechtstote und keine Massakeropfer in Srebrenica gegeben hat - bei seriöser Berechnung letzterer wird man auf weit über eintausend kommen. Nur: Damit hätten serbische Militärs oder Paramilitärs 1995 keinesfalls mehr Unschuldige ermordet als die NATO 1999. Nach einer Aufstellung der jugoslawischen Regierung vom Februar 2000 gehen 2000 Zivilisten auf das Konto der "humanitären" Krieger, davon ein Drittel Kinder. Warum soll das eine Völkermord sein - und das andere nicht?

 

Jürgen Elsässer

 

Anmerkung:
* Info war falsch - Leider mittlerweile aufgehoben. (J. E.)

 

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