6.05.2003

Euthanasie im Nationalsozialismus

Am Donnerstag abend sprach Gardy Ruder in den Räumen der Volkshochschule Lahr zu einem auch heute noch ungern berührten Teil der jüngeren deutschen Geschichte. Frau Ruder, die vom Verein "Die Brücke" und der VHS Lahr eingeladen war, stieß auf das heute bereits vielfach als "weit weg" eingeordnete und von den Nazis als Euthanasie bezeichnete staatlich organisierte Verbrechen, als sie dem Schicksal ihrer eigenen Großmutter nachforschte. Zwischen 1933 und 1945 fielen in Deutschland unter den verschiedensten Vorwänden in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten über 70.000 – nach vorsichtigen Schätzungen insgesamt jedoch mehr als 120.000 - Menschen als "lebensunwert" dem Euthanasie-Programm zum Opfer.

In sechs über das Reichsgebiet verstreuten und als Heilanstalten getarnten Vernichtungslagern begann das erst später in Konzentrationslagern auf Juden, politische und andere Gefangene ausgeweitete industriell organisierte Massenmorden. Planungsvorgabe war die "Ausmerze" von einem Prozent der deutschen Bevölkerung und die Opferzahl belegt, daß rund jede dritte Familie betroffen ist. Doch leider wird in vielen Familien auch heute noch verschämt geschwiegen. Sei es, weil Krankheit, geistige Verfassung oder Homosexualität des Opfers noch immer als beschämend empfunden wird, sei es, weil die Rolle von Familienangehörigen gegenüber dem Opfer zwiespältig, distanzierend oder gar verbrecherisch war.

Gardy Ruders Großmutter geriet nach der Geburt eines Kindes mit der Diagnose "schizophren" in die Mühlen der Psychiatrie. Bei der damals völlig unpräzisen Anamnese erscheinen aus heutiger Sicht erhebliche Zweifel angebracht, ob die junge Mutter damals bei ihrer ersten Einlieferung 1931 in die Anstalt in Emmendingen tatsächlich krank war. Für die Schwere der an Wehrlosen verübten Verbrechen spielt es jedoch keine Rolle, ob der Vorwand, unter dem sie zu "Lebensunwerten" erklärt wurden, zutraf oder nicht. Gardy Ruders Großmutter jedenfalls wurde schon zehn Monate später wieder entlassen, um dann aber wiederum 4 Monate darauf "dauerhaft" in die Badische Heilanstalt Emmendingen eingewiesen zu werden.

Acht Jahre verbrachte Frau Ruders Großmutter in der Anstalt in Emmendingen und mit Datum vom 26.11.1940 wurde vermerkt, daß sie "aus planwirtschaftlichen Gründen verlegt" worden sei. Bereits kurz nach Beginn der Nazi-Herrschaft 1933 war ein "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", der Vorläufer des sogenannten Euthanasie-Erlasses in Kraft getreten. Bemerkenswert ist, daß auch die Nazis nicht so viel Macht hatten, ihre in Buchform von Adolf Hitler bereits Jahre zuvor propagierten Ziele offen umzusetzen. Von den christlichen Kirchen gab es gegen das staatliche Morden teilweise heftigen Widerstand. Und so wurde die Organisation der Vernichtung möglichst geheim gehalten. Von vier Institutionen, die mit der "Durchführung" betraut waren, war eine als "Stiftung" für die Beschaffung des Giftgases zuständig.

Durch eine ganze Reihe von Maßnahmen wurde versucht, Abtransport, Ermordung und Verbrennen der Leichen geheim zu halten. Die Fahrt mit dem für diese Zwecke bereit gehaltenen Bus in eines der sechs Vernichtungsanstalten wurde als Verlegung getarnt, die Areale dieser Anstalten mit 3 Meter hohen Bretterzäunen und Schildern "Wegen Seuchengefahr gesperrt" umgeben und den Verwandten wurden fingierte Sterbeurkunden mit den verschiedensten, mehr oder weniger unauffälligen Todesumständen zugesandt. Die Urnen der in Gaskammern Ermordeten wurden den Angehörigen an einen von diesen zu bestimmenden Friedhof und nach Vorlage der ordnungsgemäßen Anträge kostenlos überstellt.

Trotz der Todesurkunden wußten die Verwandten häufig Bescheid. Auch kam es immer wieder vor, daß Menschen ihren Angehörigen nachforschten und versuchten, einen Blick über die Zäune zu werfen und durch beteiligte Ärzte drangen ebenfalls immer wieder Informationen nach außen. Doch die in Deutschland auch heute noch nicht seltene Mentalität der Ausgrenzung Schwacher oder "Abartiger" und ein weit verbreitetes, entschiedenes Nicht-Wissen-wollen begünstigte das Verbrechen der Euthanasie.

Wie sich anhand von heute in Berlin befindlichen Akten, die von den Nazis akribisch geführt worden waren, verfolgen läßt, wurde Frau Ruders Großmutter 1940 in Grafeneck ermordet. Diese Vernichtungsanstalt ist der Ort, an dem erstmals die Vernichtung von Menschen mit eigens dazu konstruierten Gaskammern und Verbrennungsöfen industriell betrieben wurde.

Nach ihrem Vortrag gab Gardy Ruder noch einen Hinweis auf die von ihr in Lahr initiierte Aktion "Stolpersteine", ein Projekt des Kölner Küntlers Gunter Demnig. Bei diesen Steinen handelt sich um Kleindenkmale, die ins Gehwegpflaster eingelassen sind. Die eben verlegten und mit einer Messingplatte versehenen Steine bieten Anlaß, vor Ort über die in unserer unmittelbaren Umgebung begangenen Verbrechen gedanklich zu stolpern und ihnen vielleicht nachzugehen. Die Steine können vor dem ehemaligen Wohnhaus eines Opfers der Naziverfolgung verlegt werden und in die Messingtafel sind unter der Überschrift "Hier wohnte" der Name und einige wenige Angaben gestanzt. Das Projekt Demnigs wurde bereits in vielen Kommunen, so auch in Freiburg, aufgegriffen, wobei es Demnig wichtig ist, daß die Initiative aus der Bürgerschaft und nicht "von oben" kommt.

In der anschließenden Diskussion wurde teils der politische und wirtschaftliche Hintergrund der Naziherrschaft angesprochen, teils die auch heute noch vielfach anzutreffende Mentalität der Ausgrenzung problematisiert. Als Beispiele wurden die von Ärztepräsident Karsten Vilmar angestoßene Debatte über ein "sozialverträgliches Frühableben" oder das Infragestellen von Hüftgelenks-Operationen für Menschen ab einem bestimmten Alter genannt. Dabei wurde die Befürchtung ausgesprochen, daß manches aus der Nazizeit noch heute virulent sei. Sowohl bei der politischen als auch bei der sozialpsychologischen Herangehensweise stellte sich als Bindeglied eine gemeinsame Kritik heraus: Die Kritik daran, Menschen an ihrer "Nützlichkeit" zu bewerten.

 

Klaus Schramm

 

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