Thukydides ist tot und Europa vergewaltigt
Wie zum Hohn wurde ein Zitat von Thukydides an den Anfang der gestern von den "Hohen Vertragsparteien"
ausgerufenen europäischen Verfassung gestellt:
"Die Verfassung, die wir haben (...) heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern
auf die Mehrheit ausgerichtet ist."
(Thukydides, II, 37)
Doch bei allem wohlfeilen Wortgeklingel und bei allen leeren, pseudo-humanistischen Menschenrechtsformeln,
wird bereits bei den ersten altertümlich hochtrabend gesetzten Worten klar, daß diese Verfassung mit Demokratie
nichts am Hut hat. Sie wurde nicht von den Menschen Europas in einer gemeinsamen und mit den heutigen
Kommunikationsmitteln leicht zu organisierenden Diskussion entwickelt. Es sind "die Hohen Vertragsparteien
nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten wie folgt übereingekommen..."
Wer hat ihre Vollmacht "gut und gehörig" befunden? Sie haben sich gegenseitig bevollmächtigt!
Und wie jede der Verfassungen, die von oben herunter den Völkern gewährt wurden, ist sie nur so
demokratisch wie der Druck von unten stark ist. Aber die Völker Europas sind zur Zeit schwach.
Sie müssen es sich gefallen lassen, daß ihre Regierungen mehrheitlich einem Krieg zustimmten,
gegen den so viele Menschen demonstrierten wie noch nie zuvor in Europa. Und sie müssen
zusehen wie sich die Regierungen, die sich aus allzu offensichtlichen Gründen gegen den Krieg
aussprachen (und ihn hinten herum doch unterstützten), schleunigst wieder in Reih und Glied
aufgestellt haben.
Wie demokratisch diese Verfassung ist, zeigt sich nicht an den Deklamationen, von denen die
Geschichte lehrt, daß sie - wenn es
hart auf hart kommt - das Papier nicht wert sind, auf das sie geschrieben wurden, sondern es zeigt sich an den
Kompetenzen, mit denen das Europa-Parlament ausgestattet wird.
Und diese sind noch geringer als die der eh schon recht wenig demokratischen Parlamente der
europäischen Staaten.
Eine große Mehrheit ist in Europa für den Atom-Ausstieg. Aktuell zeigt sich bei einer von
GREENPEACE in Österreich initiierten Abstimmung, daß rund 90 Prozent der ÖsterreicherInnen
von ihrer Regierung fordern, daß sie gegen die Sonderstellung der Atomindustrie in Europa
Einspruch erhebt. Doch als "Protokoll" soll der neuen EU-Verfassung der unverändert seit
1957 gültige EURATOM-Vertrag angehängt werden. Dieser ist die rechtliche Grundlage
dafür, daß die Atomindustrie weiterhin jährlich aus europäischen Mitteln mit Milliarden
Euro subventioniert wird.
Wenn von Subventions-Abbau die Rede ist, sind nie diese Subventionen gemeint. Das zeigte sich
gerade erst, als es um die europäischen Agrar-Subventionen ging. Beim Höhepunkt der BSE-Krise
tönte die "rot-grüne" Bundesregierung, sie wolle die "Agrar-Fabriken" abschaffen und kündigte
eine Agrar-Wende an. Doch aktuell wurden mit Beihilfe von Ministerin Künast die Agrar-Subventionen,
die nur die Großen fördern, die Überproduktion beschleunigen und die kleinen und Bio-Bauern kaputt
machen, entgegen den Vorschlägen des EU-Agrar-Kommissars Fischler beibehalten.
Einige Umwelt-Organisationen laufen aktuell gegen die Aufnahme des EURATOM-Vertrags in die
neue EU-Verfassung Sturm. Doch der deutsche "grüne" Außenminister Joseph Fischer, der den
Deutschen noch immer ein Stück Papier als Atom-Ausstieg verkaufen will, stellt sich taub.
GREENPEACE, BUND, NABU u.a. bezeichnen es als "Nagelprobe" für die deutsche Regierung
wie sie sich in dieser Frage verhält. Mit Schopenhauer ist da nur zu wünschen, daß eine
Enttäuschung nicht als Verlust, sondern als Gewinn an Erkenntnis realisiert wird.
Ein weiterer entscheidenden Punkt in dieser neuen europäischen Verfassung ist, daß darin die
"soziale Marktwirtschaft" festgeschrieben werden soll. In Artikel I-3 heißt es unter Punkt 3:
"Die Union strebt ein Europa der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen
Wirtschaftswachstums und einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft an,
die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt, ein hohes Maß an Umweltschutz und
Verbesserung der Umweltqualität abzielt."
Lassen wir das schmückende und unverbindliche Beiwerk weg, heißt dies nichts anderes, als
daß die Menschen Europas in Zukunft nicht das Recht haben sollen, über die Art des
Wirtschafts-Systems demokratisch zu entscheiden. Auch dies ist schon allein deshalb nicht
"auf die Mehrheit ausgerichtet", weil es der Mehrheit von Jahr zu Jahr wirtschaftlich schlechter
geht. Nur eine Minderheit profitiert von diesem "blinden Spiel", bei dem angeblich die "freien
Kräfte des Marktes" die Wirtschaft lenken. Bei einem "freien" Spiel zwischen Starken und
Schwachen steht das Ergebnis nun mal meist im Voraus fest.
Nur nebenbei bemerkt: Kein vernünftiger Mensch denkt bei einer Alternative zum Kapitalismus
an jenes Wirtschafts-System, das sich sozialistisch nannte und Ende der 80-er Jahre
unterging. Auch bei jenem System profitierte nur eine kleine Minderheit. Die eigentliche
Frage muß doch heißen: Warum darf nicht die Wirtschaft ebenso wie alle anderen Bereiche
des öffentlichen Lebens, in denen dies - angeblich - legitim ist, der demokratischen Willensbildung
unterworfen werden?
Über die Proklamation von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung kann die Mehrheit der
EuropäerInnen heute nur noch bitter lachen.
Ein weitere Artikel ist noch erwähnenswert, da er eine reale Gefahr darstellt. Es geht darin ums Militär.
Nein, wir teilen nicht die Sorge, daß Europa zur militärischen Großmacht aufsteigen könnte. Dazu ist
es auch bei einer Bündelung seiner Kräfte glücklicherweise zu schwach. Schon jeder Ansatz zu
unabhängigen europäischen Streitkräften wird von der US-Regierung aufmerksam verhindert. Diese
europäische Verfassung dient dazu, Europa den großen Konzernen gefügiger zu machen, Europa
zu einem großen einheitlichen "Marktplatz" umzugestalten und zu vergewaltigen. Und sie dient
gleichzeitig dazu, die EuropäerInnen gefügig zu machen. In Artikel I-42 wird die traditionelle Trennung
zwischen Polizei und Militär aufgehoben:
"Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat
von einem Terroranschlag oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen
Ursprungs betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr
von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um
a) - terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden..."
Und wer definiert, was "terroristisch" ist, wird nicht die Mehrheit der EuropäerInnen sein.
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