15.06.2004

Kommentar

Illusionslos

Bei den EU-Wahlen fast 60 Prozent Nichtwähler

Wählen lassen lohnt sich. Es sind nicht nur die Regeln des Showbusineß, die Politikdarsteller an Wahlabenden darauf festlegen, ihr Siegergrinsen vor Fernsehkameras festzuzurren. Es gibt für sie handfeste Gründe, fröhlich die Zähne zu zeigen: Die persönliche Diätenmast ist gesichert und damit die Unabhängigkeit, um - für die Mehrheit der Gewählten strenger Auftrag - die Interessen ihrer Wähler zu zertreten. Außerdem klingelt es für jede Wählerstimme in den Parteikassen, bei der Europawahl war man ab 0,5 Prozent dabei. 4,25 Euro werden für die ersten vier Millionen Stimmen bezahlt, darüberhinaus gibt es für jede Stimme 3,50 Euro. Die 22 Parteien und Gruppen, die sich in der Bundesrepublik zur Wahl stellten, sollen 32 Millionen Euro für den Wahlkampf ausgegeben haben, mehr als 100 Millionen Euro fließen als Wahlkampfkostenerstattung zurück. Die verteilen sich auf jene 14 Vereine, die 0,5 Prozent und mehr erreichten. Die Republikaner erhalten z. B. 2,2 Millionen Euro und die NPD über eine Million Euro aus der Staatskasse.

Die Europawahlen bringen das Wesentliche des bürgerlichen Parlamentarismus besonders schön zur Erscheinung. Darin liegt ihr Wert, und der ist bei der überwiegenden Mehrheit der Wähler populär: Sie bleiben zu Hause. Im Land Brandenburg enthielten sich über 70 Prozent der Stimmabgabe, noch aufgeklärter ging es in Polen (80 Prozent Nichtwähler) und in der Slowakei (83 Prozent) zu. Vor einem Jahr erklärte Friedrich Merz die Fernsehsendung von Sabine Christiansen für wichtiger als den Bundestag, an das Europaparlament dachte er selbstredend nicht. Zu Recht. Das Fernsehen als Fortsetzung von EU-Parlamentarismus zu begreifen, bot sich nicht an. Das Gremium war bislang Appendix des EU-Rats und der Brüsseler Kommission. Nicht einmal die Form einer Andeutung von Kontrolle der Exekutive war bislang vorgesehen. Das Europaparlament hat ungefähr den Status einer Ständeversammlung in absoluten Monarchien.

Wähler und Gewählte des Sonntags wissen voneinander, daß sie nichts zu sagen haben. Auch aus nichts läßt sich aber etwas machen, meinte Ernst Bloch. Kein Abgeordneter ist z. B. verpflichtet, in der Abstimmungsmaschinerie einer Schar von »Repräsentanten«, die kaum jemand gewählt hat, bloß zu funktionieren. Am Sonntag stimmten in der Bundesrepublik von 100 Wahlberechtigten neun für die SPD, 19 für CDU/CSU. Die Zahl der Nichtwähler war doppelt so groß wie die der Wähler beider »Volksparteien« zusammen. Das Maß an Illusionslosigkeit, das sich in solchen Zahlen andeutet, kann sich nur vergrößern.

 

Arnold Schölzel
(Nachveröffentl. aus 'junge welt' v. 15.06.04)

 

neuronales Netzwerk