Bei den EU-Wahlen fast 60 Prozent Nichtwähler
Wählen lassen lohnt sich. Es sind nicht nur die Regeln des
Showbusineß, die Politikdarsteller an Wahlabenden darauf
festlegen, ihr Siegergrinsen vor Fernsehkameras festzuzurren.
Es gibt für sie handfeste Gründe, fröhlich die Zähne zu zeigen:
Die persönliche Diätenmast ist gesichert und damit die
Unabhängigkeit, um - für die Mehrheit der Gewählten strenger
Auftrag - die Interessen ihrer Wähler zu zertreten. Außerdem
klingelt es für jede Wählerstimme in den Parteikassen, bei der
Europawahl war man ab 0,5 Prozent dabei. 4,25 Euro werden
für die ersten vier Millionen Stimmen bezahlt, darüberhinaus
gibt es für jede Stimme 3,50 Euro. Die 22 Parteien und
Gruppen, die sich in der Bundesrepublik zur Wahl stellten,
sollen 32 Millionen Euro für den Wahlkampf ausgegeben
haben, mehr als 100 Millionen Euro fließen als
Wahlkampfkostenerstattung zurück. Die verteilen sich auf jene
14 Vereine, die 0,5 Prozent und mehr erreichten. Die
Republikaner erhalten z. B. 2,2 Millionen Euro und die NPD über
eine Million Euro aus der Staatskasse.
Die Europawahlen bringen das Wesentliche des bürgerlichen
Parlamentarismus besonders schön zur Erscheinung. Darin
liegt ihr Wert, und der ist bei der überwiegenden Mehrheit der
Wähler populär: Sie bleiben zu Hause. Im Land Brandenburg
enthielten sich über 70 Prozent der Stimmabgabe, noch
aufgeklärter ging es in Polen (80 Prozent Nichtwähler) und in
der Slowakei (83 Prozent) zu. Vor einem Jahr erklärte Friedrich
Merz die Fernsehsendung von Sabine Christiansen für
wichtiger als den Bundestag, an das Europaparlament dachte
er selbstredend nicht. Zu Recht. Das Fernsehen als
Fortsetzung von EU-Parlamentarismus zu begreifen, bot sich
nicht an. Das Gremium war bislang Appendix des EU-Rats und
der Brüsseler Kommission. Nicht einmal die Form einer
Andeutung von Kontrolle der Exekutive war bislang
vorgesehen. Das Europaparlament hat ungefähr den Status
einer Ständeversammlung in absoluten Monarchien.
Wähler und Gewählte des Sonntags wissen voneinander, daß
sie nichts zu sagen haben. Auch aus nichts läßt sich aber
etwas machen, meinte Ernst Bloch. Kein Abgeordneter ist z. B.
verpflichtet, in der Abstimmungsmaschinerie einer Schar von
»Repräsentanten«, die kaum jemand gewählt hat, bloß zu
funktionieren. Am Sonntag stimmten in der Bundesrepublik von
100 Wahlberechtigten neun für die SPD, 19 für CDU/CSU. Die
Zahl der Nichtwähler war doppelt so groß wie die der Wähler
beider »Volksparteien« zusammen. Das Maß an
Illusionslosigkeit, das sich in solchen Zahlen andeutet, kann
sich nur vergrößern.
Arnold Schölzel
(Nachveröffentl. aus 'junge welt' v. 15.06.04)