US-Diplomat hat genug:
Wir verraten das amerikanische Volk!
Offener Brief des US-Diplomaten John Kiesling
an Colin Powell
Der 45jährige US-Diplomat John Kiesling hat genug von der Irak-Politik seiner Regierung.
Am Montag, 24.02.2003, faxte der in Griechenland stationierte Staatsbeamte sein
Rücktrittsschreiben an Außenminister Colin Powell. Sein Schreiben, in welchem er die
Politik von George W. Bush und seiner Regierung scharf kritisiert, wurde in der 'New York
Times' veröffentlicht. Hier ist es in deutscher Sprache.
Sehr geehrter Herr Außenminister,
hiermit erkläre ich meinen Rücktritt vom diplomatischen Dienst der Vereinigten Staaten
und von meinem Amt als politischer Berater in der amerikanischen Botschaft in Athen. Es
ist ein Schritt, der mir sehr schwer fällt.
Bis zur Amtsübernahme der gegenwärtigen Regierung glaubte ich daran, dass ich mit der
Politik des Präsidenten auch die Interessen des amerikanischen Volks vertrat. Daran
glaube ich nicht mehr.
Unsere Politik ist nicht nur unvereinbar mit amerikanischen Werten, sondern auch mit
amerikanischen Interessen. Mit unserem unermüdlichen Drängen auf einen Krieg gegen den
Irak verspielen wir die internationale Reputation, die seit Woodrow Wilson Amerikas
wirksamste Waffe war. Wir sind dabei, das weitreichendste und effektivste Netzwerk
internationaler Beziehungen zu zerstören, das es je gab.
Unser Kurs wird zu mehr Instabilität und Gefahr führen, nicht zu mehr Sicherheit.
Die Opferung globaler zugunsten innenpolitischer Interessen ist nicht neu und sicherlich
kein spezifisch amerikanisches Problem. Dennoch: Seit dem Vietnamkrieg gab es keine so
systematische Verzerrung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, keine so systematische
Manipulation der öffentlichen Meinung mehr.
Die Tragödie vom 11. September hat uns stärker denn je gemacht. Eine riesige
internationale Allianz stand uns zur Seite, um mit uns gegen den Terrorismus vorzugehen.
Doch statt darauf zu bauen, machte die Regierung den Terrorismus zum Werkzeug der
Innenpolitik. Wir haben Verunsicherung und übertriebene Furcht in das kollektive
Bewusstsein gepflanzt, indem wir Terrorismus und Irak, zwei Probleme, die nichts
miteinander zu tun haben, verknüpften. Das Ergebnis, vielleicht auch das Ziel dieser
Politik ist eine Umschichtung des schrumpfenden Staatsvermögens zugunsten des
Militärhaushalts und die Erosion jener Mechanismen, die die Bürger vor der harten Hand
des Staates schützen. Der 11. September hat das Gewebe der amerikanischen Gesellschaft
weniger stark beschädigt als wir selbst in dessen Folge. Sollen wir uns wirklich das
Russland der Romanows zum Vorbild nehmen, ein egoistisches, abergläubisches Regime, das
im Namen eines gefährdeten Status Quo der Selbstzerstörung entgegen jagte?
Wir sollten uns fragen, warum es uns nicht gelungen ist, die Welt davon zu überzeugen,
dass ein Krieg gegen den Irak notwendig ist. Nach welchem Vorbild wollen wir den
Mittleren Osten wiederaufbauen? Sind wir wirklich taub geworden, so wie Russland in
Tschetschenien und Israel in den besetzten Gebieten - taub für unseren eigenen Rat, dass
überwältigende militärische Macht nicht die Antwort auf Terrorismus sein kann?
Wir haben noch immer viele Freunde. Ihre Loyalität ist beeindruckend, sie ist ein Tribut
an das moralische Kapital, das Amerika ein Jahrhundert lang gesammelt hat. Doch Loyalität
beruht auf Gegenseitigkeit. Warum duldet unser Präsident die Verächtlichkeit, die einige
der höchstrangigen Mitglieder dieser Regierung unseren Freunden gegenüber an den Tag legen?
Ist "oderint dum metuant" unser Motto geworden?
Ich appelliere an Sie, Amerikas Freunden zuzuhören. Wenn unsere Freunde mehr Angst vor
uns als um uns haben, sollten wir beginnen, uns Sorgen zu machen. Wer wird sie davon
überzeugen, dass die Vereinigten Staaten auch weiterhin ein Verfechter von Freiheit,
Sicherheit und Gerechtigkeit sind?
Herr Minister, ich habe größten Respekt vor Ihrem Charakter und Ihren Fähigkeiten. Sie
haben uns mehr internationale Glaubwürdigkeit gesichert, als unsere Politik verdient. Aber
Ihre Treue zum Präsidenten geht zu weit. Ich trete zurück, weil ich es mit meinem Gewissen
nicht länger vereinbaren kann, diese Regierung zu vertreten. Ich bin aber zuversichtlich,
dass der demokratische Prozess Fehler selbst korrigiert und hoffe, in Zukunft von außen zu
einer Politik beitragen zu können, die der Sicherheit und dem Wohlstand des amerikanischen
Volkes und der Welt eher dient.
Leicht gekürzte Fassung eines offenen Briefes, der in der Freitag-Ausgabe der
'New York Times' erschien.
Deutsch von Jörg Häntzschel