30.08.2003

offener Brief

Lieber Günter Gaus,
bitte kämpfen Sie für Demokratie!

Kürzlich las ich in der Süddeutschen Ihren Besinnungsaufsatz "Warum ich kein Demokrat mehr bin". Hinsichtlich unserer "parlamentarischen Demokratie", scheint mir, sind sie zur Besinnung gekommen - besinnungslos vor Schmerz jedoch schütten sie das Kind mit dem Bade aus.

Sicher werden Sie es weit von sich weisen, daß Ihr ostentativ wiederholter Aufschrei "Ich bin kein Demokrat mehr" aus einer für Sie schmerzhaften Erkenntnis erwachsen ist. Nicht ohne Grund ergänzen sie gleich nach dem ersten "Ich bin kein Demokrat mehr": "Mir fehlt nicht viel deswegen". Doch ich will hier keine Psychoanalyse betreiben, sondern mich mit Ihren Argumenten beschäftigen:

Innere Sicherheit

Sie spielen auf Ihre Gegnerschaft zum "Otto-Katalog" an. Auch wenn Sie nur ironisch distanziert auf die "Aktenfloskel FdGO" eingehen, müssen wir doch konstatieren, daß mit den - wenn auch eh schon rudimentären - Freiheiten der Bonner Demokratie von Innenministern wie Maihöfer über Kanther bis Schily in geradliniger Tradition wie im Steinbruch gehaust wurde. Aber ist nicht die Elle, mit der wir diesen Verlust bemessen, gerade das Ideal einer freiheitlichen Demokratie? Und müssen wir zwangsläufig denen, die heute die Definitionshoheit über die Begriffe zu besitzen meinen, den Begriff Demokratie kampflos überlassen?

Die neuen Untertanen

Die von Ihnen beschriebene Szene mit der Staatsanwältin und dem Staatsanwalt erinnert mich - nicht allein wegen der Anspielung "Mein Herr, Sie haben unseren Beruf fixiert" an den Film "Der Untertan" von Wolfgang Staudte. Es dürfte nicht überraschen, daß in einer Vorkriegszeit auch dieselben eiskalten und zugleich erbärmlichen Charaktere wieder auftauchen. Mit dem unwesentlichen Unterschied: Das Symbol Kaiser ist durch das Symbol Demokratie ersetzt. Daß der Kaiser nur Symbol und daher austauschbar war, ist ja nun auch einer der wesentlichen Inhalte des Romans von Heinrich Mann. Zwischendurch gab's ja noch ein weiteres Symbol... Nur: Müssen auch wir heute vor solchen Leuten kampflos davon rennen? Auch wenn ich längst die Erfahrung gemacht habe, daß es meist zwecklos ist, solchen Untertanen gegenüber meinen Begriff von Demokratie zu verteidigen, tue ich dies dennoch mit großem Vergnügen. Nicht, daß es mir Vergnügen bereitete, die Hohlheit einer schein-demokratischen Position bloß zu legen und das Gerede von der "FdGO" als leere Phrase zu enthüllen, sondern um meine Identität zu bewahren und mich nicht einschüchtern zu lassen. Selbst wenn Demokratie im "FdGO" zum kleinen "d" eingedampft ist, will ich sie nicht kampflos denen überlassen, die sie zerstören.

Legitimitäts-Prinzip und Gewaltmonopol

Hier nun komme ich zu einem Dissens. Die republikanische Staatsform ist eine Fiktion. Das Versprechen der Demokratie wurde nach meinem Dafürhalten beim Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsordnung nur teilweise eingelöst. Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Assoziationsfreiheit wurde immer nur gewährt - nach Maßgabe der wirtschaftlichen Prosperität. "One man - one vote" - dieses Grundprinzip von Demokratie galt auch im Westen nur mal wenig, mal weniger. Auch wenn das im Kontrast zum diktatorischen Ostblock von den einen zu Gold und von den anderen zu Talmi erklärt werden konnte.
Und was das Gewaltmonopol mit Demokratie zu tun hat, habe ich nie begriffen. Auch im Feudalismus gab es ein Gewaltmonopol des Staates. Und im Grundgesetz, dem Fundament der "FdGO", ist das Gewaltmonopol ja gerade aus der Erfahrung der kampflosen, legitimistischen Übernahme der Weimaer Republik durch die Nazis nicht absolut gesetzt, sondern mit dem - demokratischen (!) und die Eigenmächtigkeit betonenden - Vorbehalt eines Widerstandsrechts gegen jene, die unsere Demokratie beseitigen wollen, relativiert.
Nun denn, auch wenn es Demokratie bisher nirgendwo gab, will ich sie dennoch verteidigen.

Föderalismus

Nichts beleuchtet heute krasser die Zerstörung der Fundamente er Bonner Demokratie als die finanzpolitische Unterminierung des Föderalismus. Doch erschien mir Föderalismus immer als Sack mit zwei Inhalten: Die eine Chose hat mit Demokratie nichts zu tun: Es ist das Prinzip der Gewaltenteilung, das auf dem - das weiß jeder Physiker - Prinzip des instabilen Gleichgewichts der Kräfte basiert. Auch wenn wir verdammtes Glück hatten, daß das "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen den USA und der UdSSR ohne Ausbruch eines atomaren Weltkrieg sein Ende fand, beleuchtet es auf erschreckende Weise den instabilen und endlichen Charakter jedes Gleichgewichts der Kräfte. Eine ganz andere Chose ist, daß Föderalismus eine ganz praktische Seite hat. Demokratie hängt ebenso wie vernünftige Kommunikation im Klassenzimmer von der Anzahl der beteiligten Menschen ab. Demokratie ist grundlegend auf Meinungsbildungsprozesse angewiesen. Und dieser lassen sich nun mal nicht in Einheiten mit hunderttausenden oder gar Millionen Menschen organisieren. Auch nicht mit elektronischen Kommunikationsmitteln.
Deshalb bin ich auch gerne bereit, das föderale Prinzip als Grundlage jeglicher Form von Demokratie zu verteidigen.

Faschismus und Kommunismus

Inwiefern Faschismus und Kommunismus "Äste am Baum des demokratischen Zeitalters" seien, ist mir nicht nachvollziehbar. Faschismus begreife ich als Reaktion gegen Aufklärung und Demokratie und willkommenes Instrument einer Krisen- und Kriegsökonomie. Und wenn wir - wie Sie - Kommunismus mit jenen totalitären Diktaturen des Ostblocks gleichsetzen wollen, ist mir außer der historischen keine Verbindung zur Idee der Demokratie erkennbar. Klar, nach Marx wäre Demokratie im verkürzten Sinne als Herrschaft der Mehrheit in seiner Zeit in Deutschland oder England - aber nicht in Rußland - auf eine Herrschaft des Proletariats hinausgelaufen. Aber bei aller - auch heute noch als vernünftig erkannten - Sympathie für die Entspannungspolitik der 60er Jahre: Sie hatte ihren Sinn in der Minderung der Gefahr eines atomaren Weltkrieg durch Vertrauensbildung zwischen den Machtblöcken, nicht jedoch in ihren Entgleisungen, Illusionen über den totalitären Charakter jener Regime zu verbreiten. Regime, die nichts mit einer "Diktatur des Proletariats", nicht einmal mit einer Diktatur im Namen des Proletariats zu tun hatten, sondern nichts anderes als Bozendiktaturen darstellten. Unberührt ist dabei, daß auch ich das Feldgeschrei des Westens, "die" Demokratie oder - was auch immer das sein soll - "pluralsitische Demokratie" zu verkörpern, nie ernst nehmen konnte.
Um so dringliche ist es auch heute, für Demokratie zu kämpfen.

Luther und Demokratie

Das aufrührerische Mönchlein Luther hatte nicht zufällig bei einem (neuzeitlichen) Fürsten Unterschlupf gefunden und wurde dort feist und bauernfeindlich. Schon als ich bei Ihnen das Wort von der "beste aller Welten" las, klingelten bei mir die Alarm-Glocken vor dem religiös fundierten Welt-Pessimismus. Daß der "alte Adam und die alte Eva" in ihrer erbsündigen Schlechtigkeit nie zu Kommunismus oder Demokratie gelangen können, ist ebenfalls protestantische Ideologie und, da zumindest nicht empirisch belegt, im eigentlichen Sinne anti-aufklärerisch. Denn es heißt nichts anderes, als daß homo sapiens eben nicht fähig sei, aus eigener Kraft die "selbstverschuldete Unmündigkeit" hinter sich zu lassen. Ja, nicht mal aus göttlicher Gnade: Denn welches Interesse sollte ein Gott an Mündigkeit haben?
Lieber Günter Gaus, da stecken Sie in einem unauflöslichen Dilemma. Protestantismus paßt zur Aufklärung, als deren "Kind, Liebhaber und Hinterbliebener" Sie sich begreifen, wie die Faust aufs Auge. Als "Hinterbliebener"? Ja, ist sie denn tot? Mir scheint dagegen, sie hat noch gar nicht richtig angefangen und der Kampf für Demokratie ist ein Kampf für die Fortsetzung der Renaissance.

"Selbstverständlich nehme ich nicht mehr an Wahlen teil"

Ja, lieber Günter Gaus, was haben denn Wahlen - ob in Ost oder in West - je mit Demokratie zu tun gehabt ? Sie hatten von jeher - und nicht ohne Grund hatte bereits Macchiavelli in seinem Hauptwerk die Einrichtung von Parlamenten als Machtinstrument angeraten - weniger mit Demokratie als mit deren Verhinderung zu tun. Wenn Sie denn nun dieses "Spielchens" endgültig entraten wollen, hören Sie nicht auf Demokrat zu sein, im Gegenteil: Es könnte der Beginn sein, für Demokratie zu kämpfen.

Voraussetzung wäre allerdings, daß sie den Verlust ihrer Illusionen an die "parlamentarische Demokratie" gut schopenhauerisch als Verlust von Benebelung und zugleich Gewinn an Klarheit wahrnehmen. Solche Verluste sind kein Grund zur Resignation. Lieber Günter Gaus, wer noch die Kraft hat, sich "nichts mehr vorzumachen", ja, dabei gar noch Vergnügen empfindet, ist noch nicht reif fürs Augustinum. Und um das religiöse Gift mit einem Gegengift aus dem Alten Testament zu bekämpfen, möchte ich mal aus dem Prediger Salomon zitieren: "Bei allem Lebendigen ist, was wir wünschen: Hoffnung. Denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. Denn die Lebenden wissen, daß sie sterben werden, die Toten aber wissen nichts; sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen. Ihr Lieben und ihr Hassen und ihr Eifern ist längst dahin; sie haben kein Teil mehr auf der Welt an allem, was unter der Sonne geschieht. So geh hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies, dein Tun, hat Gott schon längst gefallen. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deinem Weibe, das du liebhast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit."
(Prediger Salomon, Kapitel 9, Verse 4 bis 10)

...in diesem Sinne

 

Klaus Schramm

 

neuronales Netzwerk