10.000 protestierten am Sonntag in Stuttgart gegen "Grüne Gentechnik"
Über 10.000 Menschen nahmen am Sonntag in der Stuttgarter Innenstadt an einer Demonstration gegen Gentechnik teil. Unter dem Motto "Wir bleiben sauber: Gen-Food - nein danke!" hatte ein Bündnis von über 50 Verbänden und Organisationen aus der Landwirtschaft, dem Umwelt- und Verbraucherschutz bundesweit aufgerufen. Über 300 Traktoren legten zeitweilig den City-Ring der Landeshauptstadt lahm. Tausende gelber Luftballons stiegen in die laue Frühlingsluft auf, um mit angehängten Postkarten auf die unkontrollierbare Ausbreitung von Pollen genmanipulierter Pflanzen hinzuweisen.
Dem Aufruf zur bundesweiten Demonstration waren Menschen aus ganz Deutschland gefolgt, die sich durch ihre Berufskleidung und Transparente als ImkerInnen, BioladnerInnen, KöchInnen, LandwirtInnen und GärtnerInnen zu erkennen gaben. Besonders auffallend war der hohe Anteil an Familien mit kleinen Kindern unter den DemonstrantInnen in Stuttgart.
Auf der anschließenden Kundgebung auf dem Schloßplatz forderte als erster Redner Jürgen Binder vom Deutschen Erwerbs- und Berufsimkerbund einen Verzicht auf den Anbau genmanipulierter Pflanzen in Deutschland: "Die Gentechnik ist eine Risikotechnologie, die - einmal auf unseren Äckern ausgesät - nicht mehr kontrollierbar ist. Wird Gentechnik auf den Feldern angebaut, kann eine Auskreuzung auf natürlich gewachsene Pflanzen nicht mehr verhindert werden. Ein Nebeneinander in Koexistenz ist nicht möglich. Dies belegen die Erfahrungen der Landwirte in Kanada und Argentinien." Leider müsse er auch darauf hinweisen, so Binder, daß neben dem unkontrollierbaren Pollenflug vor allem Bienen zur ungewollten Verbreitung von Gentechnik beitragen würden, da sie beim Bestäuben ein Fluggebiet von 100 Quadratkilometern haben. "Da nützen auch keine Hecken oder größere Abstände - es sei denn, sie sind so groß wie ganze Landkreise. Das Ausbringen genmanipulierter Pflanzen ist kurzsichtig und unumkehrbar".
Darauf hin kam der SPD-Bundestagsabgeordnete und Gründer des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker zu Wort, der als erstes darauf hinwies, daß Stuttgart Süd sein Wahlkreis sei. Ganz offensichtlich mußte er vom vorbereiteten Redetext abweichen und ohne Konzept improvisieren. Zunächst gab es einigen Applaus als er meinte, der Begriff 'Koexistenz' sei "von der Friedensbewegung geklaut". Der gleichzeitige Anbau von genmanipulierten Pflanzen auf dem einen Acker und konventioneller oder Bio-Landwirtschaft auf dem anderen Acker sei auch nach seiner Ansicht in der Praxis nicht realisierbar. Er rief dazu auf, zu verhindern, daß Pflanzen durch eine Handvoll weltweit agierender Großkonzerne patentiert würden. Zuletzt sprach er sich jedoch dafür aus, Ministerin Künast "den Rücken zu stärken" und lobte das derzeit in Bundestag und Bundesrat behandelte Gentechnik-Gesetz, mit dem die - kurz zuvor von ihm selbst als "nicht realisierbar" bezeichnete - Koexistenz gewährleistet werden soll. Auch die am selben Tag in Kraft getretenen EU-Verordnungen zur Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von Gen-Food, die dem Anbau genmanipulierter Pflanzen in Europa den Weg bereiten, bezeichnete Ernst-Ullrich von Weizsäcker als "Grund zum Jubeln". Überall auf der Welt würde Europa um diese strengen Regelungen beneidet werden.
Als eine der Gastrednerinnen sprach Dr. Lilian Joensen von der Grupo de Reflexion Rural aus Argentinien. Aus den Erfahrungen, die Argentinien seit Jahren mit dem Anbau genmanipulierter Pflanzen mache, warnte sie eindringlich davor, deren Einführung "auch nur einen Fuß breit" statt zu geben. Im Gegensatz zu den Versprechungen der Agro-Konzerne sei der Verbrauch an Pestiziden beim Anbau von Gen-Pflanzen nicht etwa gesunken, sondern um ein Vielfaches angestiegen. Leider seien in Europa die bitteren Erfahrungen, die Argentinien mit der "grünen Gentechnik" habe machen müssen, viel zu wenig bekannt.
Christian Reuter, Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Tübingen, berichtete von einer stark zunehmenden Bereitschaft unter den Landwirten, sich freiwillig in gentechnikfreien Regionen zusammenzuschließen. In Hinblick auf die immer noch kontrovers diskutierte "Koexistenz" meinte er: "Wer einmal gesehen hat, welchen Aufwand es erfordert einen Mähdrescher bis aufs letzte Korn zu reinigen, weiß, wie realistisch die sogenannte Koexistenz ist". Und Thomas Dosch, Bund für Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), verwies auf eklatante Regelungslücken bei Milch, Eiern und Fleisch in der neuen EU-Kennzeichnungsverordnung für gentechnisch veränderte Lebensmittel, die am 18. April 2004 in Kraft trat.
Die OrganisatorInnen waren offenbar vom Erfolg ihres Demonstrationsaufrufs ebenso überrascht wie die Stuttgarter Stadtverwaltung. Auf einem Teil des Stuttgarter Schloßplatzes war Rollrasen ausgelegt und so mußte immer wieder zwischen den Redebeiträgen durchgesagt werden: "Rasen betreten verboten". Die Stuttgarter Stadtverwaltung hatte bei "Zuwiderhandlungen" mit saftigen Bußgeldern gedroht.
Klaus Schramm