Zusammenfassung:
1. Die sozialen Sicherungssysteme haben primär kein Ausgaben-,
sondern ein Einnahmenproblem, wie die Betrachtung der seit drei Jahrzehnten
praktisch konstanten Sozialleistungsquote zeigt.
2. Ursache der Einnahmenkrise ist die fast ausschließliche
Finanzierung über die menschliche Arbeit, welche an einer dramatischen
strukturellen Schwäche leidet.
3. Bedingt ist diese strukturelle Schwäche durch die
schier unschlagbare Konkurrenz des Produktionsfaktors Energie, genauer: durch ein eklatantes Missverhältnis
zwischen den Kosten der Faktoren Energie und Arbeit und ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Produktionsmächtigkeit).
4. Die Aussagen über die niedrige Produktionsmächtigkeit des
Faktors Arbeit dürfen nicht als Werturteil oder gar als Rechtfertigung für eine schlechtere Bezahlung der Arbeit missverstanden werden, sondern
sollen lediglich die wirtschaftlichen Wirkungszusammenhänge verständlich
machen; es muss zwischen gesellschaftlichem und ökonometrischem
Wert der Arbeit unterschieden werden.
5. Ohne entschlossenes Umsteuern bewegen wir uns in Richtung
einer 20:80-Gesellschaft, in der nur noch 20% der Arbeitskräfte wirklich
benötigt werden.
6. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über den Faktor
Arbeit hat die beiden Ziele Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit in
einen tiefen, aber überflüssigen Konflikt miteinander gestürzt.
7. Die angebliche Unbezahlbarkeit des Sozialstaates führt zur zunehmenden
Entsolidarisierung der Gesellschaft, zur Bedrohung elementarer Menschenrechte
und dazu, dass soziale und intergenerationelle Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt werden.
8. Die Agenda 2010 geht von der Prämisse aus, durch eine "Feinjustierung"
des Systems seien die Probleme lösbar. Da aber bereits die "Grobjustierung" eine
völlige Schieflage aufweist, werden sich die Maßnahmen der Agenda 2010 als nicht
"schmerzhaft genug" erweisen; es werden immer weitere Sozialabbau-Agenden bis
hin zum totalen sozialen Kahlschlag nachfolgen, ohne doch die Probleme lösen zu können.
9. Die Bedeutung des angeblichen "demographischen Problems" wird deutlich überschätzt;
dies lenkt vom eigentlichen Problem, der strukturellen Schwäche des Faktors Arbeit ab.
10. Der Schlüssel zur langfristigen Sicherung des Sozialstaates (und zur Überwindung der
Massenarbeitslosigkeit) liegt somit in der Heranziehung des Faktors Energie zur Finanzierung
der Sozialversicherungen. Dazu bedarf es einer konsequenten Fortführung der "ökologischen"
Steuerreform über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren und einer weitreichenden Verlagerung
der Abgabenlast von der Arbeit hin zur Energie.
11. Nicht nur ist eine sozial "verträgliche" Ausgestaltung dieser Reform
möglich; sie wird auch die zu befürchtende zunehmende soziale Desintegration
nach dem "Vorbild" der USA und Großbritanniens aufzuhalten vermögen.
12. Eine nationale Vorreiterrolle ist möglich und wird sich als große
Chance für Deutschland erweisen.
13. Weitere wichtige flankierende (und teilweise "sofort" wirksame) Maßnahmen
sind: Sozialabgaben auch auf Miet- und Zinseinnahmen, stärkere
Heranziehung höherer Einkommen durch deutliche Anhebung oder völlige
Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, Steuerfinanzierung der
versicherungsfremden Leistungen, Sozialversicherungspflicht für
Selbständige, Bekämpfung der Scheinselbständigkeit, Einbeziehung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse etc. Die Reichweite dieser
Maßnahmen ist jedoch beschränkt und ersetzt nicht die in 10. genannte
grundlegende Reform.
14. "Mehr Eigenverantwortung" kann in beschränktem, sozial ausgewogenen
Umfang sinnvoll sein, wenn sie zu einem gesundheitsbewußterem
Verhalten beiträgt. Mit dem Diktat leerer Kassen ist sie nicht zu rechtfertigen.
15. Die "neokeynesianischen" Vorschläge, durch höhere Neuverschuldung
die Konjunktur anzukurbeln und durch Lohnerhöhungen die Binnennachfrage
zu stärken, verkennen die o.g. strukturelle Schwäche des Faktors
Arbeit und sind daher ungeeignet.
16. Die derzeitige Arbeitslosigkeit ist weitgehend "strukturell" und
nicht konjunkturell bedingt; eine Förderung des Wirtschaftswachstums
löst daher die Probleme nicht. Solche Wachstumskritik ist nicht primär
als Appell zum Verzicht zu verstehen; im Gegenteil geht es darum, das
Paradoxon, dass es uns trotz Wachstum von Jahr zu Jahr schlechter
geht, zu erklären und zu überwinden.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn' auch die Herren Verfasser.
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
(Heinrich Heine, "Deutschland - Ein Wintermärchen")
Das geradezu tragische Dilemma der um die Agenda 2010 ringenden
SPD ist Spiegelbild der Ausweglosigkeit, in der sich die Diskussion um die
"Reform" der sozialen Sicherungssysteme insgesamt verfangen hat.
Von Aufbruchstimmung, Optimismus, Hoffnung, neuen Zukunftsperspektiven, wie
man sie eigentlich mit dem Wort "Reform" verbinden sollte, ist längst
nichts mehr zu spüren; vielmehr stellen sich die Bürger, sooft eine
neue "Reform" droht, die bange Frage, welche sozialen Grausamkeiten
diesmal auf sie zukommen. Ist es angesichts solch trüber Aussichten
verwunderlich, dass der Herzogsche "Ruck", der durch unser Land
gehen sollte, ausbleibt? Andererseits ist die Last der Probleme so drückend
geworden, dass weiterer Stillstand nicht mehr zu verantworten ist. Die
Tragik der Situation liegt darin, dass weit und breit keine wirklich
realistische Alternative zur brutalstmöglichen Lösung, zum sozialen
Kahlschlag in Sicht ist.
Und so scheint dem heutigen Kanzler Gerhard Schröder, der gegen die
Politik der Kohl-Regierung im Wahlkampf 1998 noch mit den (von
Oskar Lafontaine soufflierten) Worten "Wenn die Leute nichts mehr zu
beißen haben, brauchen sie auch keine gesunden Zähne mehr" polemisiert
hatte, unausweichlich die tragische Rolle des Exekutors des Sozialstaats
zuzufallen. Welche Ironie des Schicksals, welches Versagen vor der
Geschichte, wenn sich ausgerechnet die SPD dazu hergeben müsste,
die Abrissbirne gegen das vom Konservativen Bismarck errichtete
Gebäude der gesetzlichen, solidarisch finanzierten Sozialversicherungen zu
schwenken! Die Kosten für den nächsten Bundestagswahlkampf
könnte sich die SPD vermutlich gleich sparen.
Das "S" im Parteinamen ebenso.
Noch tragischer allerdings ist, dass die vermeintliche Alternativlosigkeit, mit der Gerhard Schröder
geradezu kokettiert, um seine Agenda durchzuboxen, eine fatale Verkennung der wahren
Gestaltungsmöglichkeiten darstellt. Dass es sehr wohl möglich ist, den Sozialstaat wieder
auf eine solide, dauerhaft tragfähige Grundlage zu stellen, soll dieser Artikel aufzeigen.
Ausgaben- oder Einnahmenkrise?
Der Sozialstaat ist zu teuer und nicht mehr finanzierbar - so wird es uns von den
Neoliberalen, denen leider kaum jemand die Definitionshoheit
darüber, was unter Reform zu verstehen sei, streitig macht, Tag für Tag
um die Ohren gehauen. Die Betrachtung der absoluten Kosten scheint dies
sogar zu bestätigen: Von 1975 bis 2002 stiegen die Gesamtausgaben der
Sozialversicherungen in den alten Ländern der Bundesrepublik von
324 auf 1032 Milliarden DM. ([11], S. 4 f.)
Ein gänzlich anderes Bild erhält man jedoch, wenn man diese Zahlen ins
Verhältnis zur mittlerweile ebenfalls kräftig gewachsenen Wirtschaftsleistung
setzt: "Die Sozialleistungsquote, also der Teil des
BSP, der für Soziales ausgegeben wird, hat sich [...] seit 1975 nicht
wesentlich verändert. Sie lag und liegt bei rund 30%. [...] Klammert
man die Neuen Bundesländer aus der Betrachtung aus, so zeigt sich, dass
die Sozialleistungsquote für Westdeutschland tatsächlich in den letzten 20
Jahren noch nie so niedrig war wie Mitte der 90er Jahre (Sozialleistungsquote: 29%).
Und das, obwohl sich die Arbeitslosenzahlen
in Westdeutschland seit Mitte der 70er Jahre verdreifacht haben. Selbst
die viel beschworenen Lasten und Kosten der deutschen Einheit und eine
Rekordarbeitslosigkeit haben die gesamtdeutsche Sozialleistungsquote (34%)
nur marginal über das Niveau der 70er Jahre steigen lassen."(Boxberger / Klimenta [1], S. 67 f.)
Im Jahr 2001 lag die(gesamtdeutsche) Sozialleistungsquote immer noch bei 32,1% [12].
Von einer "Kostenexplosion" kann also kaum die Rede sein, weder im
Gesundheitswesen noch bei den Renten. Schon eher angebracht ist
Der Begriff "Explosion" hingegen beim Anstieg der Beitragssätze: Diese
sind von ca. 27% im Jahre 1975 auf derzeit 42% geklettert
Hier zeigt sich, dass die Sozialversicherungen primär nicht ein
Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem haben: Ihre traditionelle
Finanzierungsbasis, die Erhebung von Sozialbeiträgen auf den Faktor
Arbeit, bricht mehr und mehr weg. Boxberger und Klimenta nennen
fünf Gründe für diese Entwicklung ([1], S. 69 f.):
(1) Die Überfrachtung mit versicherungsfremden Leistungen. Hier
sind auch die Kosten der deutschen Einheit zu nennen, die man aus
Feigheit, die Steuern zu erhöhen, auf die Sozialkassen und damit
einseitig auf die abhängig Beschäftigten abgewälzt hat. "Das Institut der Deutschen
Wirtschaft stellte fest, dass Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung
für die versicherungsfremden Leistungen pro
Jahr mehr als 170 Milliarden DM aufwenden müssen. Der Bund [...] beteiligt
sich daran nur mit 70 Milliarden DM, auf den restlichen 100 Milliarden DM
bleiben mithin die Beitragszahler sitzen. [...] Würden auch die restlichen
100 Milliarden DM über Steuermittel und nicht aus Beiträgen finanziert,
könnten - so das Institut - die Beitragssätze zur Sozialversicherung um mehr als 8 Prozentpunkte gesenkt werden." [13]
(2) Die steigende Arbeitslosigkeit bedingt höhere Ausgaben und (durch
die sinkende Zahl an Beitragszahlern) geringere Einnahmen.
(3) Die Zunahme geringfügiger, sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse
("325 Euro-Jobs") und der Scheinselbständigkeit. Die heftigen Widerstände
selbst gegen zaghafte Versuche von Rot-Grün im ersten Regierungsjahr,
diesen Missbrauch einzudämmen, dürften noch erinnerlich sein.
(4) Sinkende Unternehmenssteuern reduzieren den Spielraum für staatlich
finanzierte Sozialleistung. Um so höher wird der Anteil, den die Beiträge
der abhängig Beschäftigten aufbringen müssen.
(5) Die Lohnentwicklung hat mit dem Wachstum des BIP nicht Schritt
gehalten: Betrug die Bruttolohnquote, d.h. der Anteil der Bruttolöhne
am Volkseinkommen, 1975 noch 75%, so war sie bis 1998 auf 67% gesunken
([1], S. 72). Daher sind die Sozialausgaben, auch wenn sie nur im
Gleichschritt mit dem BIP gestiegen sind, doch schneller gewachsen
als die Bruttolöhne. (Dies erklärt allerdings nur den kleineren Teil des
Beitragsanstieges seit 1975.)
Aus dieser Analyse lassen sich einige durchaus sinnvolle Maßnahmen
ableiten: Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen,
konsequente Bekämpfung der Scheinselbständigkeit und des Missbrauchs
sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse, vor allem aber
die stärkere Heranziehung von Kapitaleinkünften auch zur Finanzierung
der sozialen Sicherungssysteme und ganz allgemein eine Verbreiterung
der Bemessungsbasis. Die Vorstellungen einiger Mitglieder der Rürup -
Kommission, insbesondere von Ulla-Schmidt-Berater Lauterbach,
Sozialbeiträge auch auf Miet- und Zinseinkünfte zu erheben, sind
insofern ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Auch eine
Einbeziehung der Selbständigen ist dringend geboten. Weiterhin ist
überhaupt nicht einzusehen, weshalb - ganz anders als bei der
Einkommensteuer! - ausgerechnet höhere Einkünfte besser gestellt
werden.
Eine deutliche Anhebung oder völlige Abschaffung der
Beitragsbemessungsgrenzen ist daher ein Gebot der Solidarität und
würde zumindest eine gewisse Beitragssenkung erlauben.
Die strukturelle Schwäche des Faktors Arbeit
Dennoch greift die bisherige Analyse noch zu kurz: Sie ignoriert
weitgehend das zentrale Moment des derzeitigen Dilemmas, nämlich
die strukturelle Schwäche des Faktors Arbeit. Hier liegt der tiefere Grund
für die fortschreitende Erosion der Bemessungsbasis, wie sie sich
insbesondere in den o.g. Punkten (2), (3) und (5) widerspiegelt. Woher
rührt diese Schwäche? Sie ergibt sich aus der wie ein Damoklesschwert
über beinahe jedem Arbeitsplatz schwebenden Drohung mit Rationalisierung
und Automatisierung, d.h. mit Arbeitsplatzabbau zugunsten des
Maschinen- und heute vor allem Computereinsatzes, welcher Arbeiter und
Gewerkschaften letztlich nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen
haben.
Dass dieser "Drohmechanismus" aber überhaupt funktioniert, liegt an
der mangelnden Konkurrenzfähigkeit der menschlichen Arbeitskraft -
Weniger gegenüber ausländischen Billigarbeitern, wie von den neoliberalen
Standort - Kassandras immer wieder behauptet wird, als vielmehr gegenüber
dem von den Wirtschaftswissenschaften weitgehend ignorierten
Produktionsfaktor Energie: - Der Faktor Arbeit macht durchschnittlich
etwa 65% der gesamten Produktionskosten aus, der Faktor Energie
lediglich knapp 5%. Hingegen liegt die sog. Produktionsmächtigkeit der
Energie, die man als Maß für ihren prozentualen Beitrag zur
Gesamtwertschöpfung auffassen kann, bei 44%, die Produktionsmächtigkeit
der menschlichen Arbeit hingegen bei lediglich 9%. (Mittelwerte der
Jahre 1960 bis 1989; nach Studien von W. Eichhorn, R. Kümmel et al.,
siehe [2], [7] und [8]. Ausführlich haben wir die Bedeutung dieser
Resultate bereits in [3], [4], [5] und [6] diskutiert.)
Anschaulich kann man sich das so vorstellen: Eine Erhöhung des
Energieeinsatzes, also des Einsatzes von Maschinen und Computern,
um z.B. 10% (bei gleich bleibendem Einsatz von Arbeit und Kapital)
ermöglicht im Mittel eine Steigerung der Wertschöpfung um 4,4%
(nämlich 44% von 10%), erhöht die Energiekosten aber lediglich um 0,5%.
Demgegenüber lässt eine Ausweitung des Einsatzes an Arbeit um
Ebenfalls 10% die Wertschöpfung durchschnittlich nur um 0,9% wachsen, die
Kosten jedoch um 6,5%. Der betriebswirtschaftliche Anreiz, Menschen
einzustellen, ist also sehr gering, der zu verstärktem Roboter- und
Computereinsatz hingegen hoch. Und anders als bei der menschlichen
Arbeit wird die von der Energie derart billig ermöglichte Wertschöpfung
nicht einmal zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben und des
Sozialstaates herangezogen!
Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich ist die
Niedrige Produktionsmächtigkeit der Arbeit von nur 9% nicht als
gesellschaftliches Werturteil über die menschliche Arbeit zu verstehen;
keinesfalls soll die Nennung dieser Zahl etwa ein Plädoyer etwa für
niedrigere Löhne darstellen. Die psychologischen Widerstände, die es
erzeugt, wenn die Arbeit mit mageren 9% "abgespeist" wird, sind
durchaus nachvollziehbar. Aber eben darum, um ein "Abspeisen" geht es gerade nicht:
Denn natürlich ist es völlig gerechtfertigt, dass sich die
Einkommensverteilung am Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen,
orientiert und nicht an abstrakten Größen wie der Produktionsmächtigkeit.
Anders ausgedrückt: Wir müssen zwischen dem ökonometrischen und dem
gesellschaftlichen Wert der Arbeit unterscheiden: Aus übergeordneter
gesellschaftlicher Sicht ist selbstverständlich die menschliche Arbeit
der zentrale Produktionsfaktor; rein betriebswirtschaftlich gesehen ist
sie aber nur einer unter mehreren, der "nötigenfalls" gnadenlos
wegrationalisiert wird - auch wenn die Kunden in den Geschäften dann
eben nicht mehr von menschlichem Personal, sondern nur noch von
Computern "bedient" werden. Um solche Entwicklungen besser zu
Verstehen (und zu verändern), ist die Betrachtung der Produktionsmächtigkeiten
unumgänglich. Und da hilft es leider nichts, die Augen vor der Realität zu
verschließen: Die Börsen z.B. haben das Gefälle in den Produktionsmächtigkeiten
intuitiv längst erkannt, was daran deutlich
wurde, dass sie während des Booms der 1990er Jahre die Ankündigung von
Massenentlassungen regelmäßig mit wahren Kursfeuerwerken honoriert
haben.
Vergegenwärtigt man sich die extreme Schieflage, wie sie sich in den
genannten Zahlen ausdrückt, so wird deutlich, welch dramatische
Ausmaße die strukturelle Schwäche des Faktors Arbeit inzwischen angenommen
hat. Dementsprechend verblasst auch die heute bestehende
Arbeitslosigkeit geradezu gegenüber der uns noch drohenden: Ohne
konsequentes Gegensteuern bewegen wir uns in Richtung einer 20:80-Gesellschaft,
in der nur noch 20% Arbeit finden, 80% aber schlichtweg nicht mehr gebraucht
werden und durch "tittytainment", eine "Mischung aus
betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung" ([10], S. 13),
durch eine moderne Form von "Brot und Spiele" also, davon abgehalten
werden sollen, aus Frust alles kaputtzuschlagen. (Diese Vorhersage
einer drohenden 20:80-Gesellschaft, eine der zentralen Thesen in der
"Globalisierungsfalle" [10], entstammt nicht etwa der Hysterie von
Globalisierungsgegnern, sondern einer von niemand Geringerem als
Michail Gorbatschow organisierten, hochkarätig besetzten Konferenz von 500
Politikern, Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern der ganzen Welt in
San Francisco im September 1995.) Und selbst wenn sich diese
Prognose als zu pessimistisch erweist: Auch "nur" eine "40:60-Gesellschaft" wäre mehr als desaströs.
Damit haben wir die tiefere Ursache der Misere und des eingangs
angesprochenen Dilemmas herausgearbeitet: Die fast ausschließliche
Finanzierung des Sozialstaates über Abgaben auf eben jene so sehr
unter Druck geratene menschliche Arbeitskraft hat dazu geführt, dass die
beiden gleichermaßen wichtigen Ziele "Vollbeschäftigung" bzw.
"Schaffung von Arbeitsplätzen" und "soziale Gerechtigkeit" unsinniger- und
unnötigerweise in einen vermeintlich unauflösbaren Grundkonflikt geraten
sind: Um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erleichtern, müsste Arbeit
"attraktiver", sprich billiger werden, was den Abwurf des "sozialen Ballastes"
gebieten würde, also die Preisgabe des zweiten Ziels! Vor die Notwendigkeit
gestellt, eines der beiden Ziele auf dem Altar des anderen zu opfern, erscheint
es dann nachvollziehbar, wenn sich manch einer - wie es jetzt der Kanzler getan
hat - dafür entscheidet, erst einmal der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Priorität
einzuräumen, auch auf Kosten sozialer Errungenschaften - in der vagen Hoffnung,
durch die neu entstehenden Arbeitsplätze würde irgendwann auch wieder mehr
Geld für soziale Wohltaten in die Kassen kommen. Dass dies eine trügerische
Hoffnung ist, davon wird noch zu sprechen sein. Dieser Zielkonflikt zwischen Vollbeschäftigung und
sozialer Gerechtigkeit ist solange nicht auflösbar, wie man an der
alleinigen Finanzierung über den Faktor Arbeit festhält.
Auch die zweifellos gut gemeinten neokeynesianischen Rezepte, wie sie bei
der SPD-Linken so beliebt sind, liefern leider keinen Ausweg aus diesem
Dilemma, da sie die strukturelle Schwäche der Arbeit weitgehend ignorieren;
ich werde darauf weiter unten zurückkommen.
Diese Überlegungen mögen deutlich machen, dass Gerhard Schröder
nicht ganz unrecht hat mit seiner Äußerung, die Kritiker der Agenda 2010
wollten an etwas festhalten, dem die reale Grundlage entzogen sei:
Wenn er - was aus seinen eher sybillinischen Worten freilich nicht hervorgeht - damit
die Finanzierung des Sozialstaates über den Faktor Arbeit meint, ist das durchaus
zutreffend. Aber warum schließt sich an diese Einsicht nicht die auf der Hand
liegende Folgerung an, dass wir uns dann eben nach einer anderen, ergiebigeren,
solideren und vor allem langfristig tragfähigen Finanzierungsbasis für den Sozialstaat umsehen müssen?
Angesichts der genannten Zahlen drängt sich hierfür der Faktor Energie,
d.h. der Faktor mit der höchsten Produktionsmächtigkeit geradezu auf.
Ganz Ähnliches gilt übrigens für die Problematik der ausufernden Staatsverschuldung:
Sie ist wesentlich dadurch mitbedingt, dass die
hauptsächliche Finanzierung der Staatsaufgaben über Steuern auf
menschliche Arbeit einen ebenfalls unnötigen Zielkonflikt aufgebaut
hat zwischen Arbeitsmarktpolitik und Haushaltssanierung (vgl. hierzu die
Ausführungen in [6]). Die Umschichtung der Steuerlast weg von der
Arbeit hin zur Energie wird auch diesen gordischen Knoten zu durchschlagen
helfen. Aber das ist ein anderes Thema.
Noch etwas anderes lehrt uns der obige Vergleich der Produktionsmächtigkeiten
von Arbeit und Energie einerseits und ihrer
Faktorkosten andererseits: Die Unterlegenheit der Arbeit gegenüber
der Energie ist so gewaltig, dass man mit einer geringen Absenkung der
Lohnnebenkosten nur wenig wird erreichen können. Bei den derzeit
diskutierten "Reform"-Vorschlägen geht es um eine Senkung der
Lohnnebenkosten um wenige Prozentpunkte; für die Krankenversicherung
werden 13% statt heute über 14%, für alle Sozialversicherungen
insgesamt "unter 40%" (heute: 42% ) angepeilt - und schon diese geringe
Absenkung muss mit allerlei Grausamkeiten erkauft werden. Wären damit
unsere Probleme gelöst, so könnte man diese noch zähneknirschend
hinnehmen.
Aber es möge sich doch bitte niemand der Illusion hingeben, eine solch
minimale Entlastung könnte die Probleme auch nur ansatzweise in den
Griff bekommen - nur weil man es vielleicht schafft, eine angeblich
"magische", letztlich jedoch willkürliche Grenze wie etwa 40% zu
unterschreiten. Allenfalls wird sich der weitere ANSTIEG der
Arbeitslosigkeit etwas verlangsamen lassen; dem langfristigen Trend,
teure Arbeit durch billige Energie zu ersetzen, wird damit aber nicht
Einhalt geboten - dazu ist das Gefälle zwischen beiden zu riesig. Es
wird im Grunde die ganze Zeit über eine bloße Feinjustierung des
Systems diskutiert, der Grundfehler in der Grobjustierung aber geflissentlich übersehen.
Schon heute ist die weitere Entwicklung absehbar:
In wenigen Jahren, wenn die erhofften Erfolge dieser "Deform"-Strategie
namens Agenda 2010 ausbleiben, wird man um weitere soziale Einschnitte
"nicht herumkommen", die sich aber ebenfalls als "nicht weitreichend genug"
entpuppen werden, und so wird es immer weitergehen, bis in 15 oder
20 Jahren nichts mehr übrig ist vom Sozialstaat heutiger Prägung. Aber
auch dann wird die Arbeit noch zu teuer sein, als dass sie mit der Energie
konkurrieren könnte - selbst, wenn man es bis dahin "geschafft" hat,
auch die Löhne selbst auf das Niveau eines Dritte-Welt-Landes zu
drücken. Das Scheitern dieser Strategie ist somit schon heute
vorherzusehen, womit sich spätestens hier die ganze Absurdität des
neoliberalistischen "Deform"-Konzeptes zeigt. Fragt sich nur, ob den
Verantwortlichen die Unzulänglichkeit ihrer Maßnahmen wirklich nicht
bewusst ist, oder ob sie die einzelnen Stufen des sozialen Kahlschlags
nur deshalb relativ harmlos gestalten, um die Widerstände dagegen
gering zu halten.
Es drängt sich folgender Vergleich auf: Stellen wir uns ein etwas in die
Jahre gekommenes Hochhaus vor, das einzustürzen droht, weil sein
früher einwandfreies Fundament brüchig geworden ist. Während sich die
Anzeichen der Baufälligkeit mehren, führen Bewohner und Anlieger eine
erbitterte Diskussion über die Konsequenzen:
Während die Anlieger dafür plädieren, die oberen Stockwerke abzureißen,
damit das schwächer gewordene Fundament die verbleibenden Etagen um so
sicherer zu tragen vermöge, stemmen sich die Bewohner, die dabei ihr
Zuhause verlieren würden, dem vehement entgegen, ohne jedoch wirkliche
Alternativen vorlegen zu können, bis ihnen irgendwann unter dem Druck
der Gegebenheiten nichts anderes übrig bleibt, als schweren Herzens
nachzugeben. Um ihnen die Zustimmung leichter zu machen, einigt
man sich zunächst darauf, die unbewohnte und nur als Abstellraum dienende
obere Etage abzureißen. Aber binnen kurzem wird die Halbherzigkeit dieser
Maßnahme evident, und so muss allmählich ein Stockwerk nach dem anderen
weichen.
Die Durchsetzbarkeit des Abrisses erkauft man sich dadurch, dass man
Ihn auf Raten durchführt, somit die Zahl der jeweils Betroffenen minimiert
und bei den Bewohnern der verbleibenden Etagen die Hoffnung weckt, nun
sei die Stabilität des (Rest-)Gebäudes aber wirklich dauerhaft gesichert.
Das geht so lange, bis von dem einst so stolzen Gebäude bis
auf einen kümmerlichen Rest nichts mehr übrig ist. Dabei wäre alles
vermeid- und das Hochhaus in seiner vollen Höhe erhaltbar gewesen,
wenn man sich rechtzeitig darauf konzentriert hätte, das brüchig gewordene
Fundament zu sanieren. Möglicherweise wäre das keine leichte Aufgabe
gewesen, hätte alle Beteiligten und die Möglichkeiten der Ingenieurskunst
vor große Herausforderungen gestellt. Aber es hätte wenigstens eine
Perspektive geboten, eine Hoffnung, ein Ziel, auf das hinzuarbeiten sich
gelohnt und das die Phantasie und Kreativität der Beteiligten mobilisiert
hätte, statt sie in eine Mischung aus erfolglosem Aufbegehren gegen das Unabwendbare und kollektive Depression zu stürzen.
Eine neue Finanzierungsbasis für den Sozialstaat
Diese Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Lösung für
die strukturelle Finanzierungskrise des Sozialstaates darin liegt, sukzessive
die Sozialbeiträge zu senken und durch Energiesteuern bzw.
Energieabgaben zu ersetzen, wie es das Konzept der "ökologischen"
Steuerreform vorsieht. (Angesichts ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen
Dimension sollte man zutreffender eigentlich von der "Steuerreform für
Arbeit und Umwelt" sprechen, wie es die ÖDP tut.)
Dabei geht es nicht um ein der "Ökosteuer" immer wieder unterstelltes
kurzfristiges Löcherstopfen in den Rentenkassen, sondern darum, den
Sozialstaat wieder auf eine solide, auch langfristig tragende Basis zu
stellen. Dementsprechend ist es auch nicht mit einigen wenigen
zaghaften Ökosteuerschritten getan; vielmehr muss die Abgaben- (und Steuer-)last zu
einem großen Teil oder sogar völlig von der Arbeit hin zur Energie
verlagert werden. Selbstverständlich ist eine solch fundamentale Umstellung
nicht innerhalb weniger Jahre zu bewerkstelligen, sondern wird zwei oder drei
Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Einen schnellen Weg aus der Krise kann also
auch dieses Konzept nicht anbieten; der Problemdruck wird nur langsam sinken.
Aber angesichts von in Jahrzehnten gewachsenen Fehlentwicklungen ist wohl auch nichts anderes möglich.
Die oben genannten "Sofortmaßnahmen" zur Verbreiterung der Bemessungsbasis
sind ebenfalls wichtig; da sie relativ kurzfristig umsetzbar sind, können sie die
Not erst einmal ein wenig lindern; sie ersetzen jedoch die Heranziehung des
Faktors Energie in keiner Weise. So bedeutet etwa eine Steuerfinanzierung der
versicherungsfremden Leistungen lediglich eine teilweise Entlastung der Arbeit,
da ja auch die Steuern zu einem erheblichen Teil beim Faktor Arbeit ansetzen -
anders als die Sozialbeiträge wenigstens nicht zu 100%. Erst die konsequente
Einbeziehung der Energie macht es möglich, den Faktor Arbeit wieder zu stärken
und den Zielkonflikt zwischen Vollbeschäftigung und sozialer Absicherung zu überwinden.
Auf die diversen Einwände gegen dieses Konzept bin ich bereits an anderer Stelle
ausführlich eingegangen (vgl. [3]); daher mögen hier folgende Andeutungen genügen:
Immer wieder ist zu hören, höhere Energiepreise seien unsozial. Dabei wird jedoch
außer acht gelassen, dass im gleichen Maße ja Steuern und Abgaben gesenkt werden,
sich also an der Gesamtbelastung nichts ändert. Wichtig (gerade auch im Hinblick auf die
Akzeptanz) ist in diesem Zusammenhang, dass die Reform nicht nur aufkommensneutral
erfolgt(die Energiesteuereinnahmen also vollständig zurückgegeben werden), sondern
auch verteilungsneutral ausgestaltet wird, es also nicht zu einer systematischen
Umverteilung z.B. zwischen Haushalten und Unternehmen oder zwischen Arbeitenden
und Rentnern kommt. (Das erste Kriterium erfüllt die rot-grüne Ökosteuer weitgehend,
das letztere leider nicht ganz, da Rentner und andere Bezieher von Transfereinkommen
keine Kompensation für die steigenden Energiepreise erhalten.) Unter dem Strich belastet
wird allerdings derjenige, der überdurchschnittlich viel Energie verbraucht; er kann dies
freilich in vielen Fällen durch energiesparendes Verhalten ausgleichen. Zugegeben ist
dies nicht immer in jedem Einzelfall möglich, was vereinzelt doch zu gewissen Härten
führen könnte. Diese werden jedoch allein schon durch die behutsame, schrittweise
Umsetzung der Reform über viele Jahre, welche den Bürgern genügend Zeit gibt,
sich auf die Veränderungen einzustellen, auf ein Minimum reduziert. In keiner Weise
vergleichbar sind solche vereinzelten(und vorübergehenden) Härten mit den (dauerhaften!)
Grausamkeiten, die aus der neoliberalen Gruselkiste drohen.
Ein berechtigter Einwand hingegen ist der folgende:
Die gegenwärtige Steuerprogression bei der Lohn- und Einkommensteuer
ermögliche es, höhere Einkommen stärker zu belasten und auf diese Weise
den "starken Schultern" mehr aufzubürden als den schwachen; dieses
ausgleichende und umverteilende Element fehle bei der Energiebesteuerung
zunächst. Aber dieses Problem ist leicht lösbar: Es genügt, die Entlastungen
auf den Bereich der kleinen und mittleren Einkommen zu konzentrieren. Dies
ist z.B. durch eine Senkung des Eingangssteuersatzes und Erhöhung des
Grundfreibetrages erreichbar.
Davon profitieren alle Einkommen - auch die höheren, denn auch für diese
sinkt (selbst bei gleich bleibendem Spitzensteuersatz!) der für die Steuerbelastung
allein maßgebliche durchschnittliche Steuersatz. Auf
dieses Weise bleibt die ausgleichende Funktion des Einkommensteuertarifs
vollständig erhalten. Die Ökosteuereinnahmen für eine weitere Senkung
des Spitzensteuersatzes zu verfrühstücken, wäre hingegen in der Tat
unsozial und verantwortungslos.
Auch die angebliche Unmöglichkeit eines nationalen Alleinganges wird
gegen die ökologische Steuerreform immer wieder ins Feld geführt.
Diese Argumentation übersieht gleichfalls, dass es zu keinen Mehrbelastungen,
sondern nur zu einer Umschichtung der Belastung kommt, welche für die
Volkswirtschaft insgesamt keine Wettbewerbsnachteile mit sich bringt.
Vielmehr wird ein Strukturwandel ausgelöst, hin zu sinkender
Energieintensität und steigender Arbeitsintensität. Die schrittweise
Umsetzung der Reform gewährleistet dabei, dass bei den "Verlierern"
dieses Strukturwandels nicht mehr Arbeitsplätze vernichtet werden, als
bei den "Gewinnern" neu entstehen. Mittel- und langfristig wird die
Arbeitsmarktbilanz der Reform ausgesprochen positiv sein. Ob es auch
möglich ist, die hier postulierte weitgehende oder völlige Umschichtung
der Steuerlast im Alleingang über vielleicht 30 Jahre bis zum Ende
durchzuziehen, sei dahingestellt, da dies eine akademische Frage ist:
Zum einen wird die ökologische Steuerreform bereits HEUTE in zahlreichen
europäischen Ländern - wenn auch eher halbherzig - praktiziert, zum
anderen wird ein Land, das eine entschlossene Vorreiterrolle übernimmt,
nicht lange allein bleiben: Wenn nach einigen Jahren die Segnungen der
Reform offenkundig werden, werden auch die übrigen Länder nachziehen.
Ferner wird dem vorgestellten Konzept häufig vorgeworfen, es sei
sinnlos, sich - im Sinne der Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts
gegen Rationalisierung und Automatisierung aufzulehnen und diese
aufhalten oder gar rückgängig machen zu wollen. Darum geht es aber
auch überhaupt nicht: Soweit die Ersetzung menschlicher Routinearbeit
durch Maschinen und Computer ein Mehr an Lebensqualität und gesellschaftlichen
Fortschritt ermöglicht, wäre es falsch, sie aufhalten zu wollen. Und schon
gar nicht soll die heute von Maschinen übernommene Schwerarbeit wieder
auf menschliche Arbeiter zurückverlagert werden. Es geht vielmehr darum,
dass die mittels Maschinen und Computern geschaffene Wertschöpfung
angemessen zur Finanzierung der der Sozialsysteme und allgemeiner der
Gemeinschaftsaufgaben beiträgt. Dies wird es dann möglich (und finanzierbar!)
machen, die Menschen vorwiegend dort einzusetzen, wo sie ihre wahren menschlichen
Potentiale entfalten können, sei es im sozialen Bereich, im Bildungswesen oder
in wissenschaftlichen oder künstlerischen Berufen. Besonders zynisch ist
der von den Neoliberalen häufig zu hörende Einwand, die Verwendung des
Ökosteueraufkommens für die Rentenkassen lenke nur von den "strukturellen"
Problemen der Sozialversicherungen ab und sei daher abzulehnen. Das
Argument ist - man verzeihe mir den polemischen
Vergleich - in etwa so stichhaltig, als würde man einem Verletzten, dessen Bein
unter einer schweren Betonplatte eingeklemmt ist, erklären,
eine Befreiung durch vorsichtiges Anheben der Platte lenke nur davon ab,
dass man ihm besser durch Amputation seines Beines zu helfen vermöge:
Selbstverständlich stecken die Sozialversicherungen in strukturellen
Problemen, wie ich sie oben ja detailliert analysiert habe; aber deren
Lösung besteht doch gerade darin, auch den Produktionsfaktor Energie
gemäß seiner hohen Leistungsfähigkeit (d.h. Produktionsmächtigkeit)
heranzuziehen! Wie sinn- und verantwortungslos hingegen die Amputationen
und "Deformen" sind, deren Unausweichlichkeit sich die Neoliberalen
ständig herbeiphantasieren, das wollen wir nunmehr genauer unter die
Lupe nehmen.
Wider die neoliberalen "Deform"-Vorschläge
1. Private statt gesetzlicher Versicherung?
Ein großer Teil der "Deform"-Diskussion dreht sich um eine "Ergänzung" der
gesetzlichen Sozialversicherungen durch die - angeblich ach so überlegene - private
Vorsorge. Es liegt auf der Hand, dass es dabei letztlich um eine plumpe Umverteilung
zulasten der Arbeitnehmer geht, darum, den (über den Arbeitgeberanteil) heute von
den Unternehmen getragenen Anteil auch noch den Arbeitnehmern aufzubürden - in
der berechtigten Erwartung, dass diese sich die Mehrbelastung nicht über höhere
Löhne zurückholen werden können, da hierfür die Machtposition des Faktors Arbeit
zu schwach geworden ist.
Dass aber in die Privatvorsorge überhaupt so große Hoffnungen gesetzt werden,
hat noch einen anderen Grund: Man erhofft sich von der Anlage
des Ersparten an den Kapitalmärkten eine langfristig deutlich bessere Rendite als
bei der gesetzlichen Rente und somit den Aufbau eines Vermögens quasi aus dem
Nichts, wie so viele Hochglanz-Werbeprospekte es verheißen, ein monetäres
Perpetuum mobile geradezu. Immerhin dürfte diese Hoffnung durch die Börseneinbrüche
der letzten Jahre bereits merklich gedämpft worden sein. Dass ihr aber überhaupt ein
schwerer Gedankenfehler zugrunde liegt, wird deutlich, wenn man sie konsequent
zu Ende denkt: Eigentlich könnten wir uns (bzw. unsere Nachkommen) langfristig
aller Geldsorgen entheben, wenn jeder von uns einen gewissen Geldbetrag, sagen wir
10.000 Euro, für 70 Jahre fest anlegen würde: In dieser Zeit wären diese durch den
Zinseszinseffekt auf etwa eine Million Euro angewachsen, und unsere Enkel könnten
fortan für alle Zeiten von den Zinsen leben. Hier wird deutlich, wie töricht das Hoffen
auf den Zinseszinseffekt ist: Wie bei einem Schneeballsystem funktioniert eine solche
Strategie nur so lange, wie relativ wenige Geldanleger / Zinsnehmer auf Kosten einer breiten
Masse von Schuldnern reich werden wollen. Denn natürlich schafft der Zins kein
Geld und keine Werte aus dem Nichts, sondern bewirkt lediglich eine Umverteilung.
Wollen auf einmal alle vom System profitieren, wird es zum Nullsummenspiel oder bricht
zusammen. Und so wie beim Roulette der einzige dauerhafte Gewinner im Voraus feststeht
(die Spielbank), so auch hier: Allein die Versicherungsbranche wird letztlich der Profiteur
einer Ausweitung der privaten Vorsorge sein. Nicht umsonst wird von dieser Seite das
bisherige Solidarsystem am heftigsten schlechtgeredet und lobbyistisch
attackiert.
2. Verlängerung der Lebensarbeitszeit?
Von der Rürup-Kommission und deren Vorsitzendem höchstpersönlich wurde
eine Anhebung des regulären Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ins Spiel gebracht.
Bevor wir diesen Vorschlag diskutieren, müssen wir zunächst mit einer Illusion aufräumen,
welche die Diskussion um die Sozial"reformen" prägt: der Vorstellung, die demographische
Entwicklung sei hauptverantwortlich für die Finanzierungsprobleme. Diese These mag
verblüffen. Aber stellen wir uns einmal eine Gesellschaft mit einer "günstigeren" Altersstruktur
vor: Es gäbe weniger Rentner - aber auch mehr Arbeitsuchende im erwerbstätigen Alter;
die Arbeitslosigkeit wäre daher (unter HEUTIGEN Rahmenbedingungen) entsprechend höher.
Für die Sozialkassen insgesamt wäre die Situation damit letztlich von unserer
jetzigen nicht allzu verschieden. Die demographische Entwicklung
belastet zwar die Rentenkassen, entlastet aber auch den Arbeitsmarkt und
damit die Arbeitslosenversicherung. (In der Tat sind die Möglichkeiten der
Frühverrentung ja in den letzten Jahren bis an die Grenze des Missbrauchs
genutzt worden, um die Arbeitslosigkeit nicht noch weiter anwachsen zu lassen.)
Die "Überalterung" der Gesellschaft für die Probleme in Haftung zu nehmen,
geht also an der tieferen Ursache vorbei
- an der Tatsache, dass unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen
nicht genügend Arbeit für alle angeboten wird, auf die sich die Finanzierung
des Sozialstaats stützen ließe, eben an jener oben besprochenen strukturellen Schwäche des Faktors Arbeit.
Dies bedeutet, dass eine Verlängerung (aber auch eine Verkürzung) der
Lebensarbeitszeit letztlich ohne große Auswirkungen bleiben muss: Es kommt
dadurch lediglich zu einer Lastenverschiebung von der Renten- hin
zur Arbeitslosenversicherung (oder umgekehrt), nicht aber zu einer Verringerung
der Gesamt"last". Tatsächlich hat der Vorschlag eines höheren Renteneintrittsalters ja
auch einen anderen Hintergrund: Es erwartet wohl niemand, dass auf einmal genügend
Arbeitsplätze für die erhöhte Zahl an Arbeitsuchenden zur Verfügung stehen. Vielmehr
handelt es sich um eine verkappte Rentenkürzung: Die Menschen würden nach wie vor
vorzeitig in Ruhestand geschickt - aber mit höheren Rentenabschlägen als heute. Hier
zeigt sich der feige Zynismus der Re- bzw. Deformer.
Aus den gleichen Erwägungen ist übrigens auch der Ansatz, durch Einwanderung
die Probleme entschärfen zu wollen, kurzschlüssig: Der Idee
dahinter ist die, die Altersstruktur zum Positiven zu verändern. Wie wir
soeben gesehen haben, haben unsere Probleme aber wenig mit der Altersstruktur
zu tun und sind durch deren Veränderung darum auch kaum
beeinflussbar.
3. Privatisierung des Gesundheitswesens
Die Mär, dass ein privatwirtschaftlich organisiertes System generell
effizienter arbeite als ein staatliches, wird eindrucksvoll durch einen
Blick auf die USA widerlegt: Das dortige private Gesundheitssystem
kostet ca. 14% des dortigen Bruttoinlandsprodukts, während unser
staatliches System mit knapp 10% auskommt ([9], S. 92) - und das bei
einem Niveau der medizinischen Versorgung, welches sich hinter dem der USA sicherlich nicht zu verstecken braucht!
Bei aller Kritik an den neoliberalen "Deform"-Plänen soll übrigens nicht
gesagt werden, dass alle Ansätze für mehr "Eigenverantwortung" grundsätzlich
zu verdammen sind. So ist es durchaus vernünftig, diejenigen, die sich grob
fahrlässig erheblichen Gesundheitsrisiken aussetzen (in erster Linie Raucher),
an den dadurch entstehenden Kosten zu beteiligen, gesundheitsbewusstes
Verhalten hingegen zu belohnen. Bonus- bzw. Malussysteme sind also prinzipiell
eine sehr sinnvolle Maßnahme. Völlig unpraktikabel ist freilich eine
Gesundheitsüberwachung durch den Hausarzt, von deren Ergebnis dann
die individuelle Beitragshöhe bzw. etwaige Bonuszahlungen abhängen sollen:
Anstelle alle Versicherten aufwändig darauf zu untersuchen, ob sie nun Raucher
oder Nichtraucher sind, ist es selbstverständlich weitaus intelligenter, die
volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens durch eine Erhöhung der Tabaksteuer
in den Zigarettenpreis einzubeziehen, zu "internalisieren". (Selbst bei sehr
konservativer Schätzung müsste die Tabaksteuer dann mindestens verdoppelt
werden.) Und warum soll das höhere Risiko von Skifahrern nicht durch eine Gesundheitsabgabe
direkt beim Kauf von Skiern berücksichtigt werden? Dieses Vorgehen ließe sich natürlich
auf viele andere Produkte und die mit ihnen verbundenen Risiken übertragen (wobei es
aber auch wichtig ist, ein gewisses Augenmaß zu wahren und sich auf wirklich bedeutsame
Risiken zu beschränken). Dies entspräche dem Verursacherprinzip und würde zudem
(in ihrer Wirkung freilich eher begrenzte) preisliche Anreize für ein gesundheitsbewussteres
Verhalten schaffen; es würde quasi eine Internalisierung externer Gesundheitskosten
möglich - ähnlich wie bei der ökologischen Steuerreform, welche sich ja auch mit der
Internalisierung der externen Kosten der Energienutzung begründen lässt. Selbst über gewisse
Eigenbeteiligungen in maßvollem Umfang könnte man diskutieren, wenn die
Menschen tatsächlich nur so dazu gebracht werden könnten, besser auf
ihre Gesundheit zu achten, wie von Medizinern immer wieder behauptet
wird. (Ob diese These zutrifft, darüber kann ich mir kein Urteil anmaßen.)
Wesentlich
bei solchen Überlegungen ist aber eines: Solche Maßnahmen dürfen sich allein am
Wohl der Menschen orientieren, an der Fürsorge für ihre Gesundheit; sie sind
niemals durch das Diktat leerer Kassen zu rechtfertigen, wie es heute geschieht,
und sie dürfen nicht die Ausmaße annehmen, wie sie sich etwa Kommissionsmitglied
Raffelhüschen vorstellt, der horrende Selbstbeteiligungen einführen und die
Zahnbehandlung völlig zum Privat"vergnügen" machen will. (Gleiches gilt auch
für die Diskussion über Kostendämpfungen im Gesundheitswesen: Selbstverständlich
ist es sinnvoll, wenn Möglichkeiten zur Optimierung und Effizienzsteigerung
erschlossen werden; nur leider verbergen sich hinter solchen wohlklingenden
Begriffen heute zumeist durch die Finanznot erzwungene Sparmaßnahmen auf dem
Rücken der Versicherten.) Genau diese Freiheit, die es uns erlauben würde, unsere
Entscheidungen am Gemeinwohl auszurichten, haben wir durch die strukturelle
Schwäche des Faktors Arbeit und die dadurch verursachte Einnahmenkrise des
Sozialstaates längst eingebüßt. Wir können sie jedoch zurückgewinnen - wenn wir
endlich auch den Faktor Energie zur Finanzierung heranziehen.
Die verzweifelten Alternativen der Neokeynesianer
Nun noch ein paar Worte zu den Gegenvorschlägen der Neokeynesianer bei
Gewerkschaften und SPD-Linken, in denen zwei Grundideen immer wieder
auftauchen: Zum einen solle nach dem Prinzip der antizyklischen Haushaltspolitik
"vorübergehend" eine höhere Neuverschuldung inkauf genommen werden, um
damit Konjunktur- und Investitionsprogramme zu
finanzieren, welche dann einige wenige Prozent Wachstum bringen sollen;
zum andern solle durch Lohnerhöhungen die Lohnentwicklung wieder an das
allgemeine Wachstum des BIP angekoppelt werden, die Binnennachfrage
gestärkt und die Bemessungsbasis für die Sozialbeiträge verbreitert
werden (vgl. obigen Punkt (5)).
Was die antizyklische Haushaltspolitik angeht, so handelt es sich dabei im Prinzip
durchaus um einen richtigen und vernünftigen Ansatz; auch hat Oskar Lafontaine
recht, wenn er mahnend auf die katastrophale Sparpolitik des Reichkanzlers Brüning in den
Jahren der Weltwirtschaftskrise verweist, durch die es in Deutschland zu einer drastischen
Verschärfung der Krise kam, während in den USA keynesianische Methoden
(F. D. Roosevelts "New Deal") einen Ausweg aus der Krise gewiesen haben. Aber
die Neokeynesianer unterliegen einem schwerwiegenden Analyseirrtum, wenn sie die
heutige Situation mit der damaligen vergleichen: Wäre die heutige Arbeitslosigkeit konjunkturell
bedingt, dann wäre staatliches "deficit spending" zur Wirtschaftsankurbelung in der Tat sinnvoll.
Von konjunktureller Arbeitslosigkeit kann aber bei weiterhin (wenn auch angeblich nicht
schnell genug) wachsender Wirtschaft nicht die Rede sein; vielmehr ist unsere Arbeitslosigkeit
strukturell bedingt: durch die oben erläuterte strukturelle Schwäche des Faktors Arbeit gegenüber
dem Faktor Energie.
Dass dennoch allenthalben von "Konjunkturschwäche" und "lahmender Wirtschaft"
gesprochen wird, ist eine Folge der irrigen Vorstellung, wir könnten auch langfristig
einen "Wachstumspfad" von 3% Wirtschaftswachstum pro Jahr einschlagen; so wird
bereits ein Absinken auf 0,5% oder 1% als "Wirtschaftseinbruch" wahrgenommen,
der dann eine staatliche Neuverschuldung rechtfertigen würde. Die Grenze zwischen
"guten" und "schlechten" Zeiten ist nicht etwa die Nulllinie zwischen Wachstum und
Schrumpfung ("Minuswachstum"), sondern jener "Wachstumspfad" von 3%. Die
Konsequenz: Seit über 30 Jahren haben wir fast nur noch schlechte Zeiten, weil wir jene
3% schlichtweg nicht mehr erreichen, und nehmen von Jahr zu Jahr zur "Krisenbewältigung"
neue Schulden auf. Diese würden wir ja auch tilgen, sobald mal wieder "gute" Zeiten kämen;
nur: Die guten Zeiten wollen partout nicht kommen - logische Folge unserer verzerrten
Betrachtungsweise. Das Ganze ist aus zwei Gründen fatal: Zum einen bedeuten die
Zinszahlungen auf die Schulden (derzeit über 40 Milliarden Euro) eine gigantische
Umverteilung von unten nach oben, von der Gesamtheit der Steuerzahler hin zu den
Vermögenden. Zum anderen bleibt das solchermaßen teuer bezahlte
Wachstum ohne erkennbare positive Auswirkungen, vermag allenfalls den
weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit etwas zu bremsen. Das ist das eigentlich
Tragische am Wachstumsdogma: Wir haben nicht einmal etwas von all dem
"schönen" Wachstum; es bedeutet keine neuen Arbeitsplätze, keine
größere soziale Sicherheit, keinen höheren Wohlstand, im Gegenteil: Wir
brauchen Jahr für Jahr ca. 3% Wachstum, nur um das derzeitige Niveau zu
halten; und ohne Wachstum geht es uns von Jahr zu Jahr schlechter (und
nicht etwa noch genauso gut wie im Vorjahr).
Auch dieses Paradoxon lässt sich durch die Schieflage zwischen Arbeit
und Energie erklären, durch die hierdurch angetriebene Vernichtung
von Arbeitsplätzen, welche nur durch Wachstum kompensiert werden kann.
(Ausführlich habe ich dies in [5] diskutiert.) Solche grundlegenden
Strukturfehler unseres Wirtschaftssystems durch eine Ankurbelung der
Konjunktur lösen zu wollen, ist in etwa so sinnvoll, als würde man ein
defektes Kugellager am Auto nicht austauschen, sondern zur Kompensation
der erhöhten Reibung einen stärkeren Motor einbauen.
Fazit:
Eine neuerlicher kräftiger "Schluck aus der Pulle" (Willy Brandt), eine
weitere Erhöhung der Neuverschuldung würde die Probleme nicht lösen,
sondern sie im Gegenteil weiter verschärfen. Angesichts des Schuldenbergs,
auf dem wir heute schon sitzen, sind diesbezügliche Forderungen bestenfalls
als Ausdruck völliger Verzweiflung und Ratlosigkeit zu interpretieren. (Weniger
wohlmeinende Stimmen würden von Verantwortungslosigkeit sprechen.)
Nun zur zweiten Forderung, der nach höheren Löhnen:
Allen Ernstes wird damit argumentiert, dass Lohnerhöhungen eine
Absenkung der Beitragssätze der Sozialversicherungen ermöglichen -
als ob dies die Probleme verringern würde! Dass die Gesamtkosten des
Faktors Arbeit dadurch noch weiter steigen und die Schieflage zwischen
Arbeit und Energie verschärft wird, wird geflissentlich ignoriert. Auch das
Vorhaben, durch Förderung der Binnennachfrage die Konjunktur anzukurbeln,
geht an der tatsächlichen Problematik vorbei - da es sich bei der gegenwärtigen
Krise eben nicht um eine konjunkturelle Krise handelt.
Solche verzweifelten Vorschläge verfestigen nicht nur das weit verbreitete
Vorurteil, "die Linken" könnten mit Geld nicht umgehen, sie führen zur
Diskreditierung "linker" Politik insgesamt und lassen den verheerenden
Eindruck entstehen, es gebe keine Alternative zur neoliberalen "Deform".
Dies macht es den Neoliberalen leicht, auch so berechtigte Forderungen
wie die nach einer stärkeren Besteuerung hoher Einkommen oder der
Wiedereinführung der Vermögensteuer als Ideen aus der "Mottenkiste"
abzutun und diejenigen, die sich gegen den Sozialabbau zur Wehr setzen,
als Besitzstandswahrer und "Traditionalisten" (höfliche Umschreibung für
"Ewiggestrige") zu brandmarken. Auf diese Weise steht sich die Kritik am
Neoliberalismus bei der Entwicklung einer echten Alternative selbst im Wege.
Nicht vermittelbar?
Man mag gegen das hier vorgestellte Konzept der konsequenten Umschichtung
der Sozialbeiträge von der Arbeit hin zur Energie einwenden, es sei realpolitisch
nicht durchsetzbar, insbesondere nicht "vermittelbar". Diese Schwierigkeiten
sollen hier nicht völlig bestritten werden. Wer so argumentiert, muss sich allerdings
auch fragen lassen, ob die sozialen Grausamkeiten einer Agenda 2010 oder der
vielleicht in wenigen Jahren folgenden Agenden 2015, 2020 etc. mit ihren schon
heute absehbaren weiteren Einschnitten leichter "vermittelbar" sind und weniger Wählerstimmen kosten.
Es ist unverständlich, dass gerade von den Bündnisgrünen in der aktuellen
Diskussion keinerlei Eintreten für eine stärkere Heranziehung der Energie zur
Finanzierung der Sozialversicherungen und damit für eine konsequente Fortführung
der ökologischen Steuerreform zu hören ist. Nicht einmal mit wahltaktischen Kalkül
ist diese Mutlosigkeit zu rechtfertigen: Für die "Ökosteuer" haben die Grünen
den politischen Preis gewissermaßen bereits bezahlen müssen; bei einer
weiteren Fortführung können sie eigentlich nur noch gewinnen, während
blinde Nibelungentreue zur Agenda 2010 erneut massenhaft Wählerstimmen
kosten dürfte. Und selbst wenn eine Mehrheit der Bevölkerung die
Ökosteuer noch ablehnt (auch aufgrund der bisher höchst ungeschickten Vermittlung!)
- es gibt doch eine starke Minderheit an Befürwortern, die jedenfalls um ein Mehrfaches
über das bisherige Wählerpotential der Grünen hinausgeht.
Gegen die Entsolidarisierung
Nach all diesen vorwiegend ökonomischen Betrachtungen erscheint mir
abschließend noch eine grundsätzliche Klarstellung angebracht. Selbst
wenn das - eingangs widerlegte - Gerede von der "Kostenexplosion" der Sozialsysteme
zuträfe, darf dabei niemals aus dem Blick geraten, dass sich dahinter (abgesehen natürlich
von der Massenarbeitslosigkeit) auch höchst positive und erfreuliche Entwicklungen
wie eine steigende Lebenserwartung und geradezu fantastische medizinische Möglichkeiten
verbergen. Aber leider sind diesbezüglich grundlegende Wertmaßstäbe aus den Fugen
geraten, was sich nicht nur in einer mitunter geradezu menschenverachtenden Terminologie
zeigt. (Man denke nur an der (Un-)wort der "Rentnerschwemme"!) Die sukzessive
Demontage des Sozialstaates droht zur massiven Bedrohung fundamentaler Menschenrechte zu werden.
So hat Ärzte-Präsident Karsten Vilmar bereits im Dezember 1998 öffentlich
erklärt, die Ärzteschaft sehe sich zunehmend genötigt, das "sozialverträgliche
Frühableben" zu fördern. Wie lange wohl wird es
noch dauern, bis einer der "Deform"-Experten eine Abwrack-Prämie
vorschlägt für Ärzte, die dieser Aufgabe besonders gut gerecht werden?
In einer Meldung von Spiegel Online [14] über das britische Gesundheitssystem
findet sich folgende skandalöse Passage: "Angesichts der Einsparungsmaßnahmen
im britischen Gesundheitswesen ist keinesfalls garantiert, dass älteren Menschen
lebensrettende Hilfe zuteil wird. So haben Rentner in Großbritannien keinen Anspruch
auf eine Dialyse, wenn sie diese nicht selbst finanzieren. Und einige
Gesundheitsökonomen vertreten
heutzutage die Meinung: 'Zu sterben, um öffentliche Mittel zu sparen, kann
die moralische Pflicht eines Staatsbürgers sein.' " Die Lebenserwartung
von Mitgliedern der privaten Krankenversicherung ist signifikant höher als
die der gesetzlich Versicherten: Privat Versicherte werden im Mittel
80,8 Jahre (Männer) bzw. 85,5 Jahre (Frauen) alt; im Durchschnitt der
Gesamtbevölkerung liegen diese Werte lediglich bei 73,3 bzw. 79,7
Jahren (siehe [15]). Ob das allein damit zu erklären ist, dass gesetzlich
Versicherte in der Regel stärker verschleißende Berufe ausüben? Ist es
nicht vielmehr auch so, dass angesichts höherer Verdienstmöglichkeiten
bei der Behandlung von Privatpatienten diesen tendenziell eine bessere
medizinische Versorgung zuteil wird? In all diesen Beobachtungen zeigt
sich eine besorgniserregende Entsolidarisierung, die langfristig zum
gesellschaftlichen Zerfall führen muss. In diesem Zusammenhang ist es
auch bedenklich, wie mitunter die beiden gleichermaßen bedeutsamen
Ideale der sozialen und der intergenerationellen Gerechtigkeit gegeneinander
ausgespielt werden, indem beabsichtigte Rentenkürzungen mit der
Rücksichtnahme auf die nachfolgenden Generationen gerechtfertigt
werden. Besonders zynisch ist es, wenn dies ausgerechnet aus dem
Mund derjenigen kommt, die älteren Arbeitskräften (also solchen ab
38) keine Chance mehr geben, irgendwo unterzukommen, da sie nicht mehr "dynamisch"
und "innovativ" genug sind.
Gerade angesichts dieser ethischen Dimension, die der Erhaltung der
sozialen Sicherungssysteme zukommt, ist eine Reform, die diesen Namen
auch verdient (nicht missbraucht), so unverzichtbar. Das skizzierte
Konzept weist einen Weg dazu. Dass seine Durchsetzung im politischen
Alltag viel Standhaftigkeit und einen langen Atem erfordert, steht außer Frage.
Aber muss es nicht gerade oberste und vornehmste Aufgabe der Staatskunst
sein, die (echte oder vermeintliche) Kluft zwischen den Sachzwängen der sog.
Realpolitik und den Grundsätzen der Ethik zu überwinden?
Dr. Jürgen Grahl
Literatur:
[1] Boxberger, Gerald; Klimenta, Harald: Die 10 Globalisierungslügen,
dtv, München 1998
[2] Eichhorn, Wolfgang; Kümmel, Reiner; Lindenberger, Dietmar:
Energie,
Innovation und Wirtschaftswachstum, in: Zeitschrift für
Energiewirtschaft 25 (2001), S. 273 - 282
[3] Fabeck, Wolf von; Grahl, Jürgen: Die ökologische Steuerreform
- Arbeit und Wohlstand für alle, in: Solarbrief 3/02 (2002), S.
98-104; im Internet: www.sfv.de/lokal/mails/wvf/oesrgrah.htm
[4] Grahl, Jürgen: Die ökologischen Strukturfehler unseres
Wirtschaftssystems, in: Solarbrief 1/01 (2001), S. 24-27; im
Internet: www.sfv.de/lokal/mails/rundmail/p0103071.htm
[5] Grahl, Jürgen: Wachstumsfetischismus, in: Solarbrief 1/03 (2003),
S. 15-26; im Internet: www.sfv.de/lokal/mails/wvf/wachstum.htm
[6] Grahl, Jürgen: Vom Elend der konventionellen Wirtschaftstheorien
Oder Die Vernachlässigung des Produktionsfaktors Energie - Mehr als
eine theoretische Spitzfindigkeit, erscheint in: Solarbrief 2/03; im
Internet: www.sfv.de/lokal/mails/wvf/neokeyne.htm
[7] Henn, Julian; Kümmel, Reiner; Lindenberger, Dietmar: Capital,
labor, energy and creativity: modeling innovation diffusion, in:
Structural Change and Economic Dynamics 13 (4) 2002, 415-433
[8] Kümmel, Reiner: Energie und Kreativität, Teubner, Leipzig 1998
[9] Lafontaine, Oskar; Müller, Christa: Keine Angst vor der
Globalisierung, Dietz, Bonn 1998
[10] Martin, Hans-Peter; Schumann, Harald: Die Globalisierungsfalle,
Rowohlt, Reinbek 1998
[11] Bundesministerium für Arbeit: Sozialbudget 2000,
www.bma.de/download/broschueren/a230.pdf
[12] Deutscher Bundestag: Sozialleistungsquote ist im letzten Jahr
leicht angestiegen,
www.bundestag.de/aktuell/bp/2002/bp0204/0204028a.html
[13] Sozialverband Deutschland e.V., Positionen zur langfristigen
Konsolidierung und Fortentwicklung der gesetzlichen
Rentenversicherung(GRV), www.reichsbund.de/Dokumente/Positionspapiere/grv.php
[14] "Nicht wiederbeleben", Spiegel Online vom 6.3.2003,
www.spiegel.de/panorama/0,1518,238951,00.html
[15] Befragung der Mitgliedsorganisationen der Konzertierten Aktion im
Gesundheitswesen durch den Sachverständigenrat zur Frage von
Über-, Unter- und Fehlversorgung - Stellungnahme des Verbandes der
Privaten Krankenversicherung e.V.,
www.svr-gesundheit.de/befragung/id-nummern/292.pdf.