Antwort auf den Beitrag von Jürgen Grahl
'Reformieren statt Deformieren'
Vorbemerkung
Da in der heutigen Diskussion über den Erhalt oder die Schaffung von Arbeitsplätzen der Wert von "Arbeit" unkritisch als
selbstverständlich vorausgesetzt wird, möchte ich hier zunächst einige Vorbemerkungen vorausschicken. Die
Widersprüchlichkeit von Parolen wie "Recht auf Arbeit und Arbeitszeitverkürzung" wird kaum mehr jemandem bewußt.
Arbeit und Lernen sind beides menschliche Grundbedürfnisse. Aber wie befremdlich klänge doch eine Parole wie "Recht
auf Lernen und Lernzeitverkürzung" in unseren Ohren.
Zu einfach macht es sich, wer die vordere Hälfte der Parole "Recht auf Arbeit..." so erklärt, damit sei das "Recht auf
Erwerbseinkommen" gemeint, für das gerne jede (zumutbare) Arbeit in Kauf genommen werde. Angesichts steigender
Arbeitslosenzahlen mag es als verwegen erscheinen, das Thema >Qualität der Arbeit< wieder ins Spiel bringen zu wollen.
Wenn wir uns jedoch nicht im aussichtslosen Kampf gegen das Schrumpfen des gesamten gesellschaftlichen
Arbeitsvolumens aufreiben wollen, sondern für einen Kampf um Demokratisierung des Wirtschaftssystems entscheiden,
bietet sich zugleich eine positive und motivierende Perspektive.
Demokratisch bestimmte und daher selbstbetimmte, nicht-entfremdete und zugleich höherwertige Arbeit kann bei
geringerer Gesamtzahl an Arbeitsstunden auf eine größere Zahl von Menschen verteilt werden. Die Parole
"Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich" ist dann - und nur dann - bei einer grundlegenden Umverteilung
des gesellschaftlichen Reichtums möglich.
Menschliche Selbstverwirklichung ist nicht mit fremdbestimmter Arbeit vereinbar. Die heutige nicht-demokratische
Organisation der Wirtschaft und insbesondere der Arbeit verkrüppelt den Menschen. Arbeit ist nichts anderes als
das menschliche Grundbedürfnis, sich mit seiner Umwelt in Beziehung zu setzen, diese zu gestalten, sich zu
"assimilieren" (Karl Marx) und sich zugleich als gestaltender Mensch selbst zu erschaffen. Sobald sich der Mensch
in dieser Aneignung nicht mehr als Handelnder erfährt, wird die Arbeit ihm zur "entfremdeten" Arbeit, tritt sie ihm als
fremder Gegenstand entgegen. "Entfremdung heißt, die Welt und sich selbst im wesentlichen passiv, rezeptiv, in der
Trennung von Subjekt und Objekt zu erfahren." (Erich Fromm)
"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt
ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der
Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren,
so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit
seiner Entwicklung erweitert sich dieses Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich
die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete
Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche
Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und
unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehen. Aber es bleibt dies immer
ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben (...) beginnt das wahre Reich der Freiheit.(...) Die Verkürzung des
Arbeitstages ist die Grundbedingung (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 828).
Die erhellenden Aspekte des Beitrags von Jürgen Grahl
1. Implizit stellt Jürgen Grahl alle Fakten zusammen, die belegen, daß bei Beibehaltung der bisherigen Wirtschaftsweise,
ob nun kapitalistisch, marktwirtschaftlich oder wie auch immer benannt, ohne eine grundlegende Demokratisierung, ohne
grundlegende Eingriffe keine Chance besteht, das insgesamt vorhandene (Erwerbs-)Arbeitsvolumen, das auf rund 37
Millionen Erwerbstätige aufgeteilt ist, zu vermehren, um auf diese Weise zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
2. Er stellt klar, daß die Ursache der gegenwärtigen Krise nicht etwa in steigenden Kosten ("Explosion") der
Sozialsysteme zu suchen ist, sondern bei einer seit drei Jahrzehnten nahezu konstanten Sozialleistungsquote in
der Finanzierung der Sozialsysteme über die Lohnnebenkosten, die auf diese Weise in die Höhe getrieben wurden.
3. Er beleuchtet das Verhältnis der Produktionsfaktoren Energie und Arbeit: Während Arbeit ohne (nennenswerte)
Effektivitätssteigeung teurer wird, steigt zugleich die Produktionsmächtigkeit des Faktors Energie. Pro eingesetzter
Kilowattstunde (ob nun Strom, auf diese Einheit umgerechnetes Heizöl oder was auch immer) kann mehr produziert
oder mehr Dienstleistung angeboten werden. Es ist selbstverständlich, daß in einer profitorientierten Wirtschaft in
energieeffizientere Verfahren investiert wird, statt in Arbeitsplätze. Selbst wenn es gelänge, Energie durch Besteuerung
teurer zu machen, würde sich dieser Prozeß beschleunigen. Denn umso attraktiver wäre es, energieeffizientere
Verfahren zu investieren und umso schneller ginge die Zahl der Arbeitsplätze zurück.
Der Vorwurf, das diskutierte Konzept Grahls sei maschinenstürmerisch rückwärtsgewandt oder wirke zumindest
bremsend auf die technologische Entwicklung geht völlig in die Irre. Es sollen hier ja keinesfalls Maschinen besteuert
werden, sondern der Energieeinsatz - und dieser kann durch einen Austausch zu energieeffizienteren Maschinen
reduziert werden. Jedenfalls ist dieser Weg weit wahrscheinlicher als der, Maschinen wiederum durch Menschen
zu ersetzen.
4. Die Kritik an den Maßnahmen der Agenda 2010 ist präzise und die darauf aufbauende Prognose, daß sich die
Situation in deren Folge notwendig verschärfen muß, ist klar und prägnant.
5. Ebenso präzise ist aufgezeigt, daß die neo-keynesianischen Konzepte, mit Hilfe höherer Neuverschuldung die
Konjunktur anzukurbeln und über Lohnerhöhungen die Binennachfrage zu stärken, an der Realität vorbeigehen und
untauglich sind.
Die Illusionen
Sobald Jürgen Grahls Beitrag über die Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge hinaus und zu Forderungen an
die Politik übergeht, baut er auf Illusionen auf und fördert zudem die Illusion, daß im gegenwärtigen Wirtschaftssystem
ein voluntaristisches Umsteuern durch die Politik möglich sei.
A Die Illusion der "ökologischen" (von J. Grahl selbst in Anführungszeichen gesetzt) Steuerreform. In den letzten Jahren
erfolgten minimale Erhöhungen der Mineralöl- und anderer Energiesteuern. Diese wurden um ein Vielfaches durch
gleichzeitige und mehrmalige Preiserhöhungen übertroffen. Trotzdem reichte dies (wie schon Untersuchungen in der
Mitte der neunziger Jahre voraussagten) bei weitem nicht aus, um eine Lenkungswirkung zu entfalten. Entgegen der
Erwartungen und der allgegenwärtigen Propaganda steigt die Kohlendioxid-Emission erstmals seit 1999 wieder Jahr
für Jahr.
B Die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts sind längst passé. Damals hatten die Regierungen noch die (aufgrund
des vorhandenen gesellschaftlichen Kräfteparallelogramms geborgte) Macht, Industrie und Wirtschaft innerhalb gewisser
Grenzen zu lenken. Die sozialen Errungenschaften von damals werden bereits seit Jahren scheibchenweise, inzwischen
in immer größeren Tranchen, reduziert. Es ist eine Illusion zu meinen - aus Vernunftgründen, statt aufgrund
gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse - könne noch draufgesattelt und die (längst aufgegebene) "soziale Marktwirtschaft"
zur "öko-sozialen Marktwirtschaft" aufgestockt werden. Das dieses Wirtschaftssystem konstituierende "kurzsichtige
Profitstreben" steuert die gesamte Weltwirtschaft (d.h. die verflochtene Wirtschaft der gegenwärtig zehn Industrie-Nationen)
unweigerlich in den Kollaps. Ob dieser bereits in naher Zukunft oder erst in Jahrzehnten eintreten wird, bleibt der Spekulation
überlassen.
Wenn eine Regierung eine Kapitalsteuer, Unternehmenssteuern (, die dann auch tatsächlich bezahlt werden müßten) oder
Energiesteuern beschlösse, hieße das konkret, von den Unternehmen Millionen oder gar Milliarden abkassieren zu wollen.
Und eine solche Regierung ist - in welcher Färbung auch immer - bei den heutigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen
nicht in Sicht.
Klaus Schramm