Atom-Unfall 1987 in Hanau verheimlicht?
Eine Forschergruppe um den Diplom-Ingenieur Heinz-Werner Gabriel fand im Ortsteil Hanau-Wolfgang Brennstoff-Kügelchen, die aus der Produktion für den 1989 endgültig aufgegebenen Thorium-Hochtemperatur-Reaktor (THTR) in Hamm-Uentrop stammen sollen. Die deutsche Sektion der Vereinigung 'Ärzte gegen den Atomkrieg' IPPNW ist davon überzeugt, daß die nur wenige Mikrometer kleinen Kügelchen bei einem Unfall in Hanau im Januar 1987 freigesetzt wurden. Die Atomkraft-GegnerInnen sehen sich durch eine Aussage von Dr. Helge Schier vom hessischen Umweltministerium bestätigt.
Bekannt wurden die Vorwürfe durch einen TV-Bericht von 'Report', in dem Heinz-Werner Gabriel befragt wurde. Dieser wendet sich nun in einem Brief an die Hanauer Oberbürgermeisterin Margret Härel, um sich gegen "Diffamierungen" zur Wehr zu setzen. Er sieht sich durch den Vorwurf der "Panikmache" persönlich angegriffen und verweist darauf, daß auch WissenschaftlerInnen einer vom Land Schleswig-Holstein eingesetzten Untersuchungskommission zu den Leukämiefällen im Raum Geesthacht seine Sicht der Dinge teilten.
In einer IPPNW-Veranstaltung am 8. Juni hatte ein Vertreter des hessischen Umweltministeriums, Dr. Helge Schier, erstmals einen "Vorfall im Jahr 1987" eingeräumt, zugleich jedoch einen Zusammenhang mit den Kügelchen, deren Existenz nach wie vor offiziell bestritten wird, verneint. Die IPPNW nutzte diese Äußerung daraufhin in einem Offenen Brief an CDU-Umweltminister Wilhelm Dietzel, in dem sie insbesondere dem früheren hessischen Umwelt- und heutigen Außenminister Joseph Fischer "Verschweigen und Vertuschung" vorwirft.
Heinz-Werner Gabriel, der dem Verdacht schon seit längerem nachgeht, vertritt zusammen mit der Forschergruppe 'Arbeitsgemeinschaft für physikalische Analytik und Meßtechnik' (Arge PhAM) die These, daß in Hanau-Wolfgang im Januar 1987 ein schwerer Unfall stattfand, bei dem Radioaktivität nach außen drang und eine große Anzahl von Mitarbeitern schwerwiegend kontaminiert wurde. Die Argumente und Fundstücke Gabriels wurden jedoch bislang von vielen WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen ohne nähere Untersuchung als "nicht haltbar" bezeichnet. In den Worten von Helge Schier sieht IPPNW nun eine amtliche Bestätigung des "Freisetzungsvorfalls" vor 15 Jahren.
1987 war die Arge PhAM zunächst als Gutachterin für die Hanauer Staatsanwaltschaft und das hessische Umweltministerium tätig, das bis Februar 1987 von Joseph Fischer geführt wurde. Doch beide entzogen der Arge PhAM kurzfristig den Gutachter-Auftrag, nachdem Gerüchte laut wurde, die Arge PhAM arbeite "unwissenschaftlich". Von Seiten der IPPNW wird dies so interpretiert: Deren "brisante Ergebnisse" hätten die Atomaufsicht unter Druck gesetzt und nur aus diesem Grund habe Fischer den Gutachter-Auftrag widerrufen. In der Folge sei der Vorfall totgeschwiegen worden. Die IPPNW fordert daher den jetzigen Umweltminister Dietzel auf, die "Fakten zur Kenntnis zu nehmen" und die Bevölkerung über die Kontaminationen und den Unfallhergang zu informieren.
Der Sprecher des hessischen Umweltministeriums jedoch bestreitet die Darstellungen von IPPNW und Arge PhAM: Dr. Helge Schier habe niemals von einem meldepflichtigen Ereignis im Januar 1987 gesprochen. Schier habe sich vielmehr auf einen Vorfall am 22. Februar 1987 bei Nukem in Hanau bezogen. Dabei habe es sich aber nicht um eine Explosion gehandelt und es sei auch keine Radioaktivität freigesetzt worden. Einen Zusammenhang mit "Kügelchen" gebe es nicht. Was sich am 22. Februar allerdings ereignete, sagte der Ministeriumssprecher auch auf mehrfache Nachfrage der anwesenden JournalistInnen nicht.
Wie kaum anders zu erwarten, sind zwar inzwischen amtliche Stellen mit den Vorwürfen befaßt, können aber "vorerst" keine Ergebnisse vorweisen. Die Staatsanwaltschaft Hanau erwartet ein erstes Meß-Ergebnis zu den gefundenen Kügelchen "in absehbarer Zeit". Deren Sprecher Jost-Dietrich Ort teilte mit, es könne sich nur noch um wenige Wochen handeln.
Derweil zeigt sich eine Parallele (Leukämie in der Elbmarsch): Auch in der Umgebung des AKW Krümmel und des unmittelbar angrenzenden Kernfoschungszentrums GKSS fanden sich die ominösen Kügelchen. WissenschaftlerInnen der schleswig-holsteinischen Leukämie-Kommission, die eine eklatante Häufung von Kinderkrebs-Fällen im Raum um die beiden Nuklearanlagen untersucht, stoßen - wie in Hessen - bei den Behörden auf eine Mauer des Schweigens. Dabei deuten viele ihrer Untersuchungsergebnisse darauf hin, daß sich Ende 1986 dort ein ähnlicher Unfall ereignete, bei dem es zu bedeutenden Freisetzungen von radioaktiven Partikeln in Elbmarsch und Elbgeest kam.
In vielen Medien wird Joseph Fischer heute als streitbarer hessischer Umweltminister der 80er Jahre dargestellt. Der Aussage Joseph Fischers, er habe die Koalition wegen einer Auseinandersetzung mit dem damaligen SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner um die Atompolitik aufgekündigt, wird hier in der Regel nichts entgegengesetzt. Es lohnt sich daher, einmal in öffentlich zugänglichen Archiven nachzuschauen:
Auf einer Bundesversammlung der Grünen im Mai 1986 - einen Monat nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - erklärt sich Fischer auf erheblichen Druck der Basis bereit, die Koalition mit Börner bis zum Jahresende 1986 aufzukündigen, wenn bis dahin nicht alle Atomanlagen in Hessen stillgelegt sind. Zwischenzeitlich produzierte Fischer seinen ersten Skandal als Umweltminister, indem er der Hoechst AG die Lieferung von Giftmüll in die DDR-Giftmülldeponie Schönberg genehmigte. Im Oktober 1986 begann die Staatsanwaltschaft Hanau gegen die Nuklear-Fabriken Alkem und Nukem zu ermitteln. Sie erhob Anklage gegen die drei wichtigsten Atombeamten im Wirtschaftsministerium sowie gegen den Geschäftsführer von Alkem. Umweltminister Fischer drohten Ermittlungen "wegen Beihilfe zum illegalen Betrieb einer atomtechnischen Anlage durch Unterlassen". Das Bundesimmissionsschutzgesetz hätte Fischer eine Handhabe gegeben, die gefährlichen Plutonium-Fabriken in Hanau zu schließen. Ungeachtet der gegenüber seiner Partei eingegangenen Verpflichtung blieb Fischer auch im Januar 1987 im Amt. Nirgendwo sind Berichte zu finden, Fischer habe Börner auch nur mit dem Bruch der Koalition gedroht. Er blieb auch im Amt als entgegen der Koalitions-Vereinbarung der Nuklear-Fabrik Alkem von der "rot-grünen" hessischen Landesregierung eine nachträgliche Betriebserlaubnis für weitere zehn Jahre erteilt wurde.
Auf einer Landesversammlung der hessischen Grünen am 8. Februar 1987 kam Fischer wegen seiner aus der Sicht einer Mehrheit der damaligen Mitglieder völlig unbefriedigenden Ministertätigkeit und wegen der neuen Informationen zu Alkem unter erheblichen Druck. Er verkündete daher, dies sei sein "letzter Rechenschaftsbericht als Minister", falls die SPD bei ihrer Alkem-Entscheidung bleibe. Bereits am darauffolgenden Tag, dem 9. Februar 1987, entließ der hessische Ministerpräsident Börner überraschend seinen Umweltminister. Börner beendete die erste "rot-grüne" Koalition - nicht Fischer. Börner hatte in keinem einzigen Punkt reale Zugeständnisse machen müssen und spekulierte bei vorgezogenen Neuwahlen auf eine absolute Mehrheit für die SPD.
Ute Daniels