von Robert Jungk
Kaum ein anderer deutscher Wissenschafts-Journalist beschäftigte sich wie Roberrt Jungk ähnlich intensiv mit dem tiefsten
Einschnitt in der Geschichte der menschlichen Zivilisation, dem Abwurf der Atom-Bomben auf Hiroshima (6. August 1945)
und Nagasaki (9. August 1945). In seinem Buch 'Heller als tausend Sonnen' (1956) beschreibt Robert Jungk die
Entstehungsgeschichte der Atom-Bombe und die daran beteiligten Wissenschaftler und Forscher. Die aus intensiver
Recherche und zahlreichen persönlichen Gesprächen entstandene Reportage zeigt auf, daß sich NaturwissenschaftlerInnen
nicht mit dem Verweis auf "Grundlagenforschung" herausreden können, sondern die Verantwortung tragen für die
technischen, sozialen und politischen Folgen ihres Tuns. Und in seinem Buch 'Strahlen aus der Asche' (1958) berichtet
Jungk über die Folgen der Atom-Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Das Buch wurde zum mahnenden Zeugnis wider
den Wahnsinn des nuklearen Wettrüstens. Über zahlreiche Gespräche mit Überlebenden, den »hibakusha«, rekonstruiert
der Autor das von der US-Army lange Zeit beschönigte Ausmaß der Zerstörung und schildert insbesondere die
Langzeitfolgen der radioaktiven Verstrahlung.
In einer wenig bekannten Kolumne (Robert Jungk verfaßte in der Zeit von 1972 bis 1987 regelmäßig Kolumnen für die
Zeitschaift 'bild der wissenschaft' bis ihm die Zusammenarbeit wegen seiner kritischen Beiträge zur sogenannten
"friedlichen Nutzung der Atomenergie" aufgekündigt wurde) reflektiert er sozialpsychologische Aspekte der Atom-Bombe
und ihrer Erbauer und fordert zugleich eine neue, lebensbejahende Forschung und Technik ein:
(…) Von den zahlreichen Büchern, die sich mit den Atomphysikern beschäftigt haben, hat mir das Werk des an der
University of Sussex lehrenden Physikers und Psychologen Brian Easlea mit dem Titel »Fathering the Unthinkable«
die überraschendste Aufklärung vermittelt. Der Autor, dessen Arbeit von seinen Berufskollegen als »peinlich«
verketzert wurde, versucht darin nachzuweisen, daß die Atombombe das Endprodukt des Männlichkeitswahns sei,
der sich aus Neid und Schwäche die weibliche Natur unterwerfen wolle. Er zeigt an der Ausdrucksweise der Forscher,
die voller sexueller Anspielungen ist, wie sehr ihre ganz privaten Probleme zur Antriebskraft ihrer grandiosen und
zugleich monströsen Leistungen wurden.
So ist es für ihn kein Zufall, daß Oppenheimer und Teller als die »Väter« der Atom- und Wasserstoffbombe bezeichnet
werden, daß die Hiroshimabombe »Little Boy« getauft wurde und Teller auch die erste erfolgreiche Zündung der H-Bombe
mit dem Jubeltelegramm "It's a boy" ("Es ist ein Knabe") meldete.
Es war also eine Art Geburtstagsfest, das vor vierzig Jahren in Los Alamos gefeiert wurde, und nur wenige unter den
Teilnehmern ahnten damals schon, daß letztlich auch sie selber Opfer ihrer ohne weibliche Hilfe zustandegekommenen
»Geschöpfe« werden würden. Zunächst allerdings durften sie ihren Triumph, ihren frischen Ruhm, ihre neugewonnene
Stellung in der Gesellschaft genießen. Sie wurden gefeiert, umworben, als Angehörige des plötzlich wichtigsten,
einflußreichsten Berufsstandes beneidet. Erst nach und nach entdeckten sie, daß man sie auch fürchtete, ja sogar
haßte, und daß man ihnen nur schmeichelte, um sich ihrer zu bedienen.
Die Vorstellung einiger der hervorragendsten Rüstungsforscher, daß sie nun nach dieser kriegerischen Episode wieder
zu ihrer ruhigen selbstbestimmten Wahrheitssuche zurückkehren könnten, erwies sich sehr schnell als Illusion. Denn
der so erfolgreiche neue Forschungsstil, den sie geschaffen hatten, nahm ihnen die alte Freiheit. Individuelle Forschung
mit »Wachs und Bindfaden« - das war nicht mehr »in« und nun kaum mehr möglich. Die in den Rüstungslaboratorien
entstandenen »Projektwissenschaften« mit ihrem Teamwork, ihren kostspieligen Instrumenten, ihrer straffen Organisation
waren ohne staatliche Mittel nicht lebensfähig. Damit aber mußte der Einfluß von Instanzen wachsen, denen es in erster
Linie nicht um Wahrheit, sondern um Macht ging, nicht um Erkenntnisse, sondern Erzeugnisse. Für die Freiheit angetreten,
hatten die Forscher ihre Freiheit verloren.
Das »Manhattan Project«, dessen erfolgreicher Abschluß die meilenhohen Rauchpilze und Menschenhetakomben von
Hiroshima und Nagasaki waren, hatte gezeigt, daß bei gezieltem Einsatz von genügend intelligenten Köpfen, Instrumenten
und Geldmitteln Erfindungen in beschleunigtem Tempo erzwungen werden konnten. Diese Einsicht war fast so
wichtig - manche meinten, sogar noch wichtiger - wie das Produkt, die neue Superwaffe. Denn diese Entwicklung schien
zu verheißen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt in Zukunft keinem glücklichen Zufall mehr überlassen
werden müsse, sondern systematisch erzeugbar sei.
In einer Gesellschaft, deren Entscheidungsträger gewillt wären, diese neue gesellschaftliche Antriebskraft für
lebenserhaltende Ziele einzusetzen, könne eine solche geplante und organisierte Kollektivforschung allgemeinen
Wohlstand und Frieden bringen - so sah der Traum der Projektforscher in West und Ost aus. Aber sie rechneten
in ihrer politischen Unerfahrenheit nicht damit, daß diese perfektionierten »Fortschrittsmaschinen« in ganz andere
Richtungen gelenkt würden, nämlich zu jenen Bestimmungen, denen sie ihr Entstehen und ihre ersten
Bewährungsproben verdankten: der Herstellung von militärischer, staatlicher, wirtschaftlicher Macht.
So ist vierzig Jahre nach Hiroshima die große Mehrheit derer, die sich der Forschung und Entwicklung widmen,
unmittelbar auch in zahlreichen mittleren oder kleineren aus öffentlichen oder industriellen Quellen unterstützten
Laboratorien, zu Mitarbeitern an Vorhaben geworden, die sie persönlich nicht gutheißen können. Aber es bleibt ihnen,
wenn sie nicht »Aussteiger« oder »Eigenbrötler« werden wollen, nichts anderes übrig, als an Arbeiten mitzuwirken, auf
deren Nutzung sie wenig oder gar keinen Einfluß haben, ja deren Zielsetzung sie oft nicht einmal kennen. (…)
Der nukleare Rüstungswettlauf, dessen dröhnendes Startsignal die Katastrophe vom 6. August 1945 war, hat inzwischen
ungleich weitergreifende, noch radikaler wirkende Massenzerstörungsmittel hervorgebracht als den »kleinen Jungen« von
damals: bösartige Riesen, reißende Ungeheuer, Heuschreckenschwärme und Vernichtung. (…)
Die »Bombe« - und das ist wohl ihre tiefste Wirkung - hat die Menschen so sehr verunsichert wie nichts zuvor. Die
Zukunft - seit jeher als Zeit der Hoffnung empfunden - ist nun mit Furcht und Schrecken besetzt. Diese dunkle Wolke
am Horizont einer jeden bewußten Existenz kann, ja muß immer wieder zeitweilig vergessen werden. Verschwinden
könnte sie nur, wenn etwas ähnlich Einmaliges und Unerhörtes geschähe wie die Entdeckung der Atomkernspaltung
und die dann daraus folgende Entwicklung von »endgültigen Waffen«.
Es ist aus solcher Überlegung heraus in Forscherkreisen immer häufiger von einem großen »Projekt« die Rede, das
durch eine Zusammenführung von Wissenschaftlern vieler Disziplinen und Nationen in einem »crash program«
überzeugende Lösungen zur Verhütung des atomaren Holocaust entwickeln sollte.
Doch halt: Ist dies nicht einmal mehr der Ausdruck jenes Geistes, der alles für machbar hält? Kommt da nicht
wiederum jener typisch maskuline Hochmut zum Ausdruck, den Brian Easlea als eine Art »Erbsünde« der
neuzeitlichen Wissenschaft ansieht? Ein solches »Anti-Hiroshima-Programm« wird trotz derartiger Bedenken
vermutlich nicht in allzu ferner Zukunft versucht werden. Es entspricht eben einer Mentalität, die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts begonnen hat. Und sie hat in der Tat erstaunliche, im letzten halben Jahrhundert
allerdings auch immer öfter abscheuliche Resultate gezeitigt.
Kann man denn Geschichte »machen«? Ist das Schicksal beherrschbar? Wird man es beeinflussen, ja sogar
steuern können? Ganz auszuschließen ist das nicht. Und wenn die vielfachen Krisen, die unsere »p.h. (post Hiroshima)
Welt« erschüttern, als Folge verantwortungslosen Drauflosforschens und ungenügend durchdachten technischen
Handelns sich noch weiter verschärfen, werden für einen globalen Krisenstab vielleicht auch die notwendigen Mittel
und Vollmachten erteilt.
Wichtiger und wohl letztlich erfolgversprechender wäre es, wenn die zu erwartenden vertieften und vermehrten Krisen
nicht nur wissenschaftliche Superprojekte und gewaltige Aktionsprogramme gebären würden, sondern ein grundsätzlich
anderes Denken.
Ansätze dazu sind heute schon hier und dort zu finden. Die »Ökophilosophie« des Norwegers Arne Naess (Oslo) und
des aus Polen stammenden Engländers Henryk Skolimovski (Oxford) weist, ähnlich wie schon Erich Fromm und vor
ihm bereits Albert Schweitzer, darauf hin, daß nur eine ganz entschiedene Abkehr von allen Formen todbringenden
Denkens und Handelns Rettung bringen kann.
Es wird das dringendste Projekt einer neuen Generation von Denkern und Forschern sein, solche Ideen im Kontext der
heutigen Möglichkeiten weiterzudenken und in Zusammenarbeit mit ihren Zeitgenossen zu konkretisieren. Welch
faszinierende Aufgabe! Neben ihr löst sich die »süße Technik« der Gewalt, von deren Verführungskraft Oppenheimer
sprach, in eine stinkende, giftige Wolke auf, die dann auf immer verschwinden sollte.
Aus: 'bild der wissenschaft', Juli 1985;
hier zitiert nach:
'Und Wasser bricht den Stein'. Freiburg 1986, S. 220-223.