Die gegenwärtige Geflügelpest-Epidemie zeigt die Folgen der heutigen Lebensmittelindustrie
Daß unsere Wirtschaft ihre Extraprofite aus der Ausbeutung der globalen Peripherie, also der Dritten Welt, zieht, ist heute
allgemein anerkannt. Dagegen sind die Verwerfungen in der westlichen Lebensmittelindustrie ein Thema, das außerhalb
einschlägiger Kreise nur in Zeiten aktueller Krisen - wie sich ausbreitenden Tierseuchen - thematisiert wird. Dabei läßt
sich auch bei der gegenwärtig grassierenden Geflügelpest als Ursache die modernen Massentierhaltung leicht erkennen.
Anders als bei BSE, wo die Ursache in der Verfütterung von sogenanntem Tiermehl - also zermahlenen Resten anderer
Tiere, darunter auch der eigenen Artgenossen - klar auf der Hand liegt, ist die Schuldzuweisung bei der Geflügelpest
problematischer. Tatsächlich ist das Virus, das derzeit vor allem im Benelux-Raum aktiv ist, nicht künstlichen, sondern
natürlichen Ursprungs und aus unbekannten Gründen auf das Geflügel übergegangen. Derartige Phänomene sind jedoch
nicht neu, sondern plagen Bauern bereits seit Anbeginn ihres Berufsstandes. Weshalb gibt es aber keine Berichte über
ähnliche Massenausbrüche aus der länger zurückliegenden Vergangenheit, während sie sich in jüngster Zeit massiv
häufen?
So stellt die Massentierhaltung mit oft mehreren Millionen Tieren in den Käfigen der Fleischfabriken neben dem
moralischen auch ein gesundheitliches Problem dar. Bleibt eine Krankheit in einem traditionellen Hof auf eine kleine
Anzahl von Tieren beschränkt, so kann sie in der großindustriellen Tierproduktion leicht um sich greifen. Hinzu kommt,
daß die Tiere durch die katastrophalen Haltungsbedingen zeitlebens unter massivem Streß, begleitet von Symptomen
wie Selbstzerfleischung und Kannibalismus, sowie unter körperlichen Krankheiten leiden. Es liegt auf der Hand, das ihr
Immunsystem so deutlich anfälliger für Krankheiten ist, als das von traditionell gehaltenen Tieren. Außerdem kommt noch
hinzu, daß die Tiere - nicht zuletzt durch die hohen Subventionen der Europäischen Union - und die unterschiedlichen
"Herstellungs"-Preise in der verschiedenen Ländern in früher ungeahnten Zahlen über weite Entfernungen transportiert
werden, was einer zusätzlichen Ausbreitung von Krankheiten förderlich ist.
Der Grund, sowohl für die extremen Haltungsbedingungen, wie auch die hohe Zahl der Tiertransporte, liegt im Profitinteresse,
dem Motor des Kapitalismus. So lassen sich die Kosten bei der quälerischen Massentierhaltung im Gegensatz zur
artgerechten traditionellen Haltung minimieren, die Gewinne damit vergrößern. Billiges Fleisch, wie es in den Supermärkten
Europas nicht nur angeboten, sondern auch massenweise nachgefragt wird, kann in derartigen Mengen nur durch die
Anwendung zweifelhafter Haltungs- und Aufzuchtmethoden garantiert werden. Es ist kein Zufall, daß das Symbol der
modernen Industriegesellschaft, das Fließband, ein Produkt der Massentierhaltung ist. Es wurde erstmals im 19.
Jahrhundert in den Schlachthöfen von Chicago verwendet, lange bevor Henry Ford es für den Automobilbau übernahm.
Ein Profitinteresse, das Konsequenzen hat. In Belgien und den Niederlanden wurden seit Ausbruch der Geflügel-Pest
rund 30 Millionen Hühner getötet, in Deutschland bislang etwa Hunderttausend. Die Zahl der zu schlachtenden Tiere ist
so groß, daß die Mobil-Container, in denen den Tieren nach Vorbild des Schlachthäuser maschinell die Hälse
durchgetrennt werden, an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen sind. So wurden tausende Tiere durch Kohlendioxid erstickt.
Die Küken wurden normalerweise nach dem Schlüpfen erschlagen oder in sogenannten Vermusern zerquetscht, was aber
ohnehin der "normale" Vorgang in der Geflügelindustrie ist.
Notwendig wäre das nicht. Selbst unter Beibehaltung der heutigen Tierhaltung. Die Geflügel-Pest ist längst medizinisch
besiegt, sichere Impfstoffe vorhanden. Hier jedoch stellt sich die Politik quer, im Interesse der Großkonzerne. So würden
Impfungen der Tiere den Preis des Fleisches und der Eier deutlich erhöhen, wodurch sich diese nicht mehr zu einem
Maximalprofit ausbeuten ließen. Zudem springt bei einer Massentötung aufgrund von Tierseuchen eine Ersatzkasse ein,
die den Unternehmen 80 Prozent des Tierwertes ersetzt. Drastischer ausgedrückt: die an der Logik kapitalistischer
Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Unternehmen haben kein Interesse an der Gesundheit ihrer Tiere.
Welche Ausmaße dieses Treiben haben kann, macht die Tatsache deutlich, daß in Deutschland etwa 100 Millionen
Hühner gehalten werden, zu denen noch die Masse der "überzähligen" und daher sofort nach dem Schlüpfen getöteten
meist männlichen Küken hinzuzuzählen wäre. Und weiteres Unheil droht durch die Transformation der mittel- und
osteuropäischen Staaten. Während durch die EU-Agrarpolitik die traditionelle Landwirtschaft, etwa in Polen, systematisch
zerstört wird, haben westliche Großkonzerne dort diverse Anlagen mit bis zu zwei Millionen Tieren pro Standort aufgebaut,
die gegenwärtig in Betrieb gehen. "Wir sind Teil eines Systems, das die Risiken des Ausbruchs und der Verbreitung von
Seuchen immer mehr erhöht", so jüngst die Berliner Agrarforscherin Anita Idel - "Billiggeflügel hat seinen Preis".
Martin Müller-Mertens