Wir dokumentieren hier die aufrüttelnde öffentliche Erklärung des UN-Sonderberichterstatters
zur aktuellen Welthungerkatastrophe
Die erschütternden Bilder von Ceuta und Melilla müssen Europa und die USA endlich aufrütteln und zu einer neuen Politik gegenüber den Ländern des Südens bewegen
Ceuta und Melilla sind die zwei letzten europäischen Kolonien in Afrika. Und sie bilden gemeinsam die vorderste "Barrikade" der Festung Europa. Der dreifache, rasierklingenscharfe Nato-Stacheldrahtverhau, die drei Laufgräben, wo auf Menschenjagd abgerichtete Schäferhunde laufen, die mit schweren Maschinengewehren bewaffneten Wachtürme sind das paradigmatische Bild dieser Festung.
Die Guardia Civil erschoss in Melilla mehrere junge Menschen; dutzende wurden zum Teil schwer verletzt. Spanische Nichtregierungsorganisationen reden inzwischen sogar von mehr als 30 Toten. Mehrere tausend Flüchtlinge wurden in den extremen Süden Marokkos deportiert.
Warum fliehen die Menschen? Warum nehmen Bauern aus dem über 3.000 Kilometer entfernten Kongo-Becken, Sahel-Hirten aus Niger, Baumwollpflanzer aus Nordbenin die oft monatelange, kostspielige und lebensgefährliche Reise zum Mittelmeer auf sich? Warum kratzen hunderte bitterarme Dorfgemeinschaften in Mali ihre letzten Francs CVA zusammen, um einen, zwei, drei ihrer Jungen in Richtung Norden zu schicken? Weil das Eldorado Europa die letzte Hoffnung von Millionen und Abermillionen verzweifelter Menschen darstellt.
Auf unserem Planeten sterben jeden Tag 100.000 Menschen am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Letztes Jahr verhungerte alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Alle vier Minuten verlor jemand das Augenlicht, weil es ihm an Vitamin A mangelte. 856 Millionen Menschen waren permanent schwerstens unterernährt. Und die Opferzahlen steigen seit 2000. Derselbe World Food Report der Welternährungsorganisation (FAO), der die Opfer registriert, zeigt auch auf, dass die Welt-Landwirtschaft in ihrem heutigen Entwicklungsstadium ohne Problem zwölf Milliarden - also das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung - ernähren könnte (das heißt: 2.700 Kalorien pro Individuum pro Tag).
Es gibt keine Fatalität. Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet. Die Weltordnung des globalisierten Kapitalismus ist nicht nur mörderisch. Sie ist auch absurd. Sie tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit.
Asien hat die höchste Zahl schwerst permanent unterernährter Menschen: 515 Millionen im Jahr 2004. Proportional zur Bevölkerung zahlt Afrika den höchsten Tribut. 186 Millionen Afrikaner erleiden das permanente Martyrium des Hungers, 34 Prozent der Gesamtbevölkerung des Kontinents.
Warum sind die meisten Afrikaner so bitterarm? Die Gründe sind komplex. Zuerst kommt die absurde Landwirtschafts- und Dumpingpolitik der Industrieländer. Vergangenes Jahr haben sie 349 Milliarden Dollar - mehr als eine Milliarde Dollar pro Tag! - für Produktions- und Exportsubventionen ausgegeben.
Wer heute auf dem Markt von Sandaga in Dakar - dem größten Markt Westafrikas - einkauft, bezahlt für französisches, portugiesisches, spanisches Gemüse und Obst durchschnittlich ein Drittel des Preises der senegalesischen Früchte und Gemüse. Von den 52 Staaten Afrikas sind 37 fast reine Agrarstaaten. Das europäische Dumping zerstört ihre Landwirtschaften.
Auch die USA sind schuldig. Zum Beispiel zahlt die Regierung George W. Bush seit 2002 rund 5 Milliarden Dollar Exportsubventionen pro Jahr an rund 600 Baumwollgesellschaften des amerikanischen Südens. Fünf Länder Westafrikas leben fast ausschließlich - was ihre Deviseneinnahmen angeht - von Baumwolle: Mali, Benin, Burkina Faso, Senegal und Niger. 2003 sind die Weltbaumwollpreise zusammengebrochen. In Westafrika verloren hunderttausende Familien ihr Einkommen.
Der Einwand ist bekannt: Die Drittweltländer sind in den allermeisten Fällen selbst schuld an ihrer Misere. Korruption, Misswirtschaft und Vetternwirtschaft zerstören ihre Staaten und Volkswirtschaften. Es stimmt, dass Bangladesh und Kamerun an der Spitze der "Korruptionsländer-Liste" von Transparency International stehen. Drei Viertel der Listen werden angeführt von Dritt-Welt-Staaten. Doch Korruption ist ein Sekundärphänomen. Ausgebeutete, vom Raubtierkapitalismus unterdrückte Länder sind korruptionsanfällig, weil sich in ihnen keine festen Sozialstrukturen und keine Rechtsstaatlichkeit entwickeln können.
Die Auslandsverschuldung der 122 Entwicklungsländer - wo mehr als 4,8 Milliarden der 6,2 Milliarden der Weltgesamtbevölkerung leben - überstieg zum Jahreswechsel 2004/2005 die 2.100-Milliarden-Dollar-Grenze. Die mörderische Schuldknechtschaft machen in den meisten Drittweltländern soziale Investitionen unmöglich - und damit auch den Kampf gegen Elend und Hunger.
Es stimmt, dass der globalisierte Kapitalismus unglaubliche Reichtümer schafft. Allein in der ersten Dekade nach dem Zusammenbruch der Bipolarität der Staatengesellschaft nach der Implosion der Sowjetunion im August 1991 ist das Welt-Bruttosozialprodukt um mehr als das Zweifache gestiegen. Der Welthandel hat sich verdreifacht, der Energiekonsum verdoppelt sich alle vier Jahre.
Unermessliche Reichtümer bündeln sich in der Hand ganz weniger Kosmokraten. Im Jahr 2004 haben die 500 größten transkontinentalen Konzerne der Welt 52 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes kontrolliert - das waren alle in diesem Jahr auf der Welt produzierten Kapitalien, Waren, Dienstleistungen und Patente.
Die Konzerne arbeiten völlig wertfrei: Ihr ausschließliches Ziel ist die Profitmaximierung. Sie besitzen eine politische, soziale, ökonomische Macht, wie sie nie zuvor ein König, ein Papst, ein Kaiser besessen hat. Gleichzeitig wachsen die Leichenberge ihrer Opfer. Die Feudalisierung der Welt geschieht genau in dem Moment, wo die Menschheit - zum ersten Mal in ihrer Geschichte - die materiellen Mittel hätte, ihr gemeinsames Glück zu verwirklichen.
Bei Franz Kafka steht der seltsame Satz: "Weit, weit weg von Dir geschieht die Geschichte der Welt - die Weltgeschichte Deiner Seele." Die Europäer können mit Kriegsflotten, Maschinengewehren und Nato-Stacheldraht den Vormarsch der immer mehr anschwellenden Elendszüge aus dem Sahel, Zentralafrika, dem Sudan stoppen. Ihre eigene Seele wird dabei zugrunde gehen.
Sie können aber auch versuchen, die mörderische Weltordnung umzustürzen. Grachus Babeuf weist den Weg: "Möge der Kampf beginnen über das berühmte Kapitel der Gleichheit und des Eigentums: Möge das Volk alle die barbarischen Institutionen stürzen. Möge der Krieg des Reichen gegen die Armen endlich diesen Anschein großer Kühnheit auf der einen Seite und großer Feigheit auf der andern einbüßen!"
Jean Ziegler
Anmerkung
Jean Ziegler ist Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission für das Recht auf Nahrung.